Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 19: Unerfreuliches Wiedersehen -------------------------------------- Zayn kannte den Mann vor sich nur allzu gut. Beim letzten Mal hatte dieser ihm ein Messer an den Hals gehalten und gedroht, ihn abzustechen. Nur durch ein Wunder war er der verfänglichen Situation entkommen. Nun nutzte sein Gegenüber das Überraschungsmoment, um Zayn, dem für einige Sekunden sämtliche Gedanken entgleist waren, am Oberarm zu packen und mit einem kräftigen Ruck mit sich in die nächstgelegene Seitengasse zu ziehen. Geistesgegenwärtig löste sich ein Laut der Empörung aus seiner Kehle, in der Hoffnung, Vince möge ihn hören und erkennen, dass Zayn nicht länger in Sichtweite war. Zu mehr kam er gar nicht. Er war kaum in die schmale Gasse gestolpert, da schlug ihm die geballte Faust seines Gegners rücksichtslos ins Gesicht. Voller Wucht traf ihn der Schlag und unmittelbar explodierte der Schmerz in seiner linken Schläfe. Er fing sich an der Wand zu seiner Rechten ab, als ihm endlich gänzlich dämmerte, in was für eine prekäre Lage er geraten war. Aber da ergriff die nun leicht verschwommene Gestalt vor Zayn schon seinen Kragen, zog ihn in eine aufrechte Position und stieß ihn nicht weniger grob gegen die Hauswand. Sein Hinterkopf prallte gegen den harten Putz, was zur Unschärfe des Bildes vor seinen Augen beitrug. Das Gesicht seines Angreifers stand nicht still, sondern waberte immer wieder nach rechts oder links. Zayn heftete seinen Blick auf die Narbe. Deren wulstige Zacken wurden nach und nach wieder sichtbar. „Haben wir dich endlich gefunden, du kleiner Bastard“, raunte ihm sein Gegenüber mit vor Wut verzerrter Stimme zu. „Du bist ja auch wirklich nicht zu verwechseln mit dieser schwulen Haarfarbe.“ Allmählich sah Zayn wieder klar, was aber nicht den dröhnenden Schmerz in seinem Kopf milderte. Aber er erkannte, dass der Typ vor ihm, wie auch bei ihrer ersten Begegnung, nicht alleine, sondern in Begleitung seines Partners war. Derjenige, welchem Zayn damals das Cryptopokémon abgenommen hatte und von dem er festgehalten worden war, als das Narbengesicht ihn bedroht hatte. Er betrachtete ihn ebenfalls mit hasserfülltem Blick. Zayn sah in die finsteren, graugrünen Augen des Mannes vor sich und verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. „Wie originell. Fällt dir nichts Besseres ein?“ „Findest du das etwa lustig? Mal sehen, wie viel du noch zu lachen hast, wenn Ray mit deiner hübschen Visage fertig ist.“ Zayn ignorierte die Drohung, denn etwas anderes verlangte seine Aufmerksamkeit. Er sah nach rechts, schräg an den Verbrechern vorbei. Vince spähte vorsichtig um die Ecke und als er Zayn sah, weiteten sich seine Augen vor Schock. Er zeigte eine Geste, die so viel bedeutete wie ‚Warte‘, und zog sich hinter die Ecke zurück. Daraufhin richtete auch Zayn seinen Blick wieder vor sich, möglichst unauffällig, um seinen Freund nicht zu verraten. „Also, wo ist Chandra, hm?“, wurde er gefragt. „Offensichtlich nicht hier, oder hast du sie gesehen?“ Ein kühles Grinsen, das die Narbe nach oben zog. „Du hältst dich wohl für besonders schlau, was? Aber lass mich dir eines sagen. Du kannst das kleine Biest nicht Ewigkeiten vor Ray verstecken. Er wird sie finden und dann wird es dir an den Kragen gehen. Also mach es dir und uns doch einfach und verrate uns direkt, wo sie ist. Vielleicht stimmt es ihn ja gnädig.“ Die Konversation erinnerte Zayn an ihre erste Begegnung – da war er ebenfalls nicht bereit gewesen, auch nur ein belastendes Wort hervorzubringen. „Wenn du glaubst, dass ich dir das sage, dann bist –“ Er brach mitten im Satz ab, als ein Knurren gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei durch die Gasse halte. Selbst das Narbengesicht vor ihm zuckte zusammen, lockerte seinen Griff um Zayns Kragen und sah zum Auslöser der Störung. Der Schrei war von seinem Komplizen ausgegangen, in dessen Bein sich ein mittelgroßes, vierbeiniges Pokémon festgebissen hatte, welches Zayn als Vince‘ Hundemon erkannte. Sein Opfer trat mit seinem freien Bein nach dem Pokémon, woraufhin dieses zwar von ihm abließ, aber nicht weniger wütend die Zähne fletschte, an denen eine feine Blutspur glänzte. Zayn nutzte den einzigen Moment, den er haben würde, um sich aus der Gefahrenzone zu begeben, rammte seinem Gegenüber seinen Ellbogen hart gegen die Brust, um ihn anschließend von sich zu stoßen. Der reagierte zwar fast umgehend, doch Zayn war schnell und unterlag nicht länger dem Überraschungsmoment. In Windeseile war er zurück auf der größeren Straße und neben Vince, der ihm einen todernsten, wenn auch erleichterten Blick zuwarf. Hundemons tiefes Knurren hallte durch die Straße, als es sich vor seinen Feinden aufbaute. Es hatte die Lefzen nach oben gezogen und zwischen den aufeinandergeschlagenen, scharfen Zähnen loderten immer wieder dunkle orangefarbene Flammen hervor. Wer sich diesem Pokémon im direkten Kampf stellte, konnte nicht besonders schlau sein. Das war Rays Handlangern offenbar auch bewusst. Sie zückten je einen Pokéball und warfen diese vor sich, woraufhin Hundemon einen Sprung nach hinten vollführte und vor seinem Trainer landete. Vor dem Narbengesicht materialisierte sich ein mittelgroßes Pokémon auf zwei Beinen, dessen Körper größtenteils hellbraun war. Sein Kopf war ein weißer Schädel mit zwei kleinen, nach hinten ragenden Hörnern und in der rechten Hand trug es den für seine Art typischen Knochen. Ein Knogga. Zayn griff sich daraufhin den Pokéball des für diesen Kampf geeignetsten Pokémons von seinem Gürtel und ließ ihn seinerseits aufspringen. Daraus erschien ein schwebendes Pokémon mit einem furchteinflößenden Blick. Sein runder Körper war eingeschlossen in eine funkelnde, glatte Eisschicht, welche die eisblauen Augen, das Maul des Wesens und einige weitere Stellen freiließ. Durch diese Aussparungen ließ sich der tiefschwarze, steinerne Körper erkennen, der schräg über den Augen je ein spitzes Horn aufwies. Zayn spürte die extreme Kälte, die von seinem Firnontor ausging und die Luft um es herum in Form feinster Eissplitter sichtbar werden ließ. Gegenüber von Vince‘ Hundemon hatte sich ein größtenteils violett gefärbtes Pokémon manifestiert, das vor allem mit seinem imposanten Unterkiefer, aus dem zwei spitze Eckzähne nach oben ragten, auf sich aufmerksam machte. Trotz ihres Äußeren waren Granbull von Natur aus scheue Pokémon, die sich auch in Trainerkämpfen gerne mal zurückzogen, wenn ihnen ihr Gegner zu einschüchternd erschien. Dieses hier jedoch ließ ein tiefes Knurren aus seiner Kehle erklingen und war kurz davor, sich auf seinen Kontrahenten zu stürzen. In Hundemon hatte es wohl den idealen Gegner gefunden. Zayn wandte den Blick wieder ab – er musste sich auf seinen eigenen Kampf konzentrieren und Vince würde das schon geregelt bekommen. Vor Firnontor hatte sich das gegnerische Knogga aufgebaut. Ähnlich wie Granbull wirkte auch das Bodenpokémon wie eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Zayn beobachtete das nicht zum ersten Mal. Für jemanden, der es nicht besser wusste, wirkte ein Cryptopokémon zu Anfang nicht allzu auffällig. Aber kaum, dass sie sich in den Kampf stürzten, war es, als wäre ihr ganzes Inneres aufgeladen von schier unkontrollierbarer Wut, die sie mit allem, was ihnen zur Verfügung stand, auf ihre Feinde schossen. Hatte man ein wenig Ahnung, erkannte man schon zuvor, mit welch enormer Qual sich die Pokémon dazu zwangen, trotz ihrer inneren Pein zu kämpfen. Nach allem, was Chandra ihm erzählt hatte, musste es im Inneren dieser beiden Pokémon düster sein. Ein Blick in die Augen der Pokémon zeigte nichts als Trostlosigkeit. Zayn hatte noch nie einen richtigen Pokémonkampf gegen ein Cryptopokémon ausgetragen. Zwar hatte er in Pyritus einige Zeit damit verbracht, diese Pokémon zu beobachten, sie, meist miteinander, kämpfen sehen, doch Auseinandersetzungen hatte er gemieden. Dem lag nicht zugrunde, dass er die Kämpfe fürchtete, keineswegs, aber er wollte seine Pokémon nicht dieser düsteren, verzehrenden Cryptoenergie aussetzen, wenn es nicht zwingend notwendig war. Nun war es das allerdings. Aber er verspürte keine Unsicherheit. Seine Gegner waren skrupellos und im Vorteil, wenn sie ihn mit einer Waffe in Schach halten konnten, doch wenn es zu einem Pokémonkampf kam, war er in seinem Element. Zayn würde nicht gegen ein Cryptopokémon verlieren – niemals konnte solch ein armes, seelisch zerstörtes Pokémon stärker sein als ein glückliches, welches bereit war, alles zu geben für seinen Trainer, der es unterstützte und doch nicht mehr verlangte als das, was möglich war. Pokémon schöpften Kraft aus dem Vertrauen ihrer Trainer, wohingegen Cryptopokémon keinen Rückhalt genossen, schließlich waren sie nichts weiter als ein Mittel zum Zweck – eine lebende Waffe. Zayn schmunzelte, was seinen und Vince‘ Gegner nur noch mehr zu reizen schien. „Ihr wollt eine Antwort? Dann holt sie euch. Aber wenn ihr ernsthaft glaubt, uns mit diesen jämmerlichen, bemitleidenswerten Pokémon besiegen zu können, dann seid ihr Narren“, sprach er selbstsicher. Das einzige Problem war die Umgebung. Die Straße bot nur begrenzt Platz für einen Kampf und mittlerweile waren in einigem Abstand ein paar Schaulustige hinzugekommen, angelockt durch den vorangegangenen Krawall und nun neugierig ob des Pokémonkampfes, der bevorstand. Zayn trat einige Schritte nach hinten, um seinem Pokémon mehr Platz einzuräumen. „Deine Arroganz wird dir noch im Hals stecken bleiben“, knurrte sein Kontrahent. Aber ihm musste bewusst sein, dass er maximal die Möglichkeit eines Pokémonkampfes hatte. Jemanden tagsüber anzugreifen, ohne Aufsehen zu erregen, mochte in Pyritus funktionieren, nicht aber hier in der Öffentlichkeit. Knoggas Trainer eröffnete den Kampf, indem er eine Kopfnuss befahl. Das Cryptopokémon hatte nur darauf gewartet; kaum waren die Worte gesprochen, da preschte es, den Schädel vorgestreckt, auf Firnontor zu. „Weich aus, Firnontor“, befahl Zayn recht gelassen, woraufhin sein Eispokémon aus Knoggas Angriffslinie schwebte und dessen Kopfnuss so entging. Sofort rammte das Knogga die Füße in den Boden und wandte sich dem deutlich vor ihm aufragenden Firnontor zu, welches im exakt selben Moment eine halbe Drehung vollzog und seinen furchteinflößenden Blick nach unten richtete. Zwischen den monströsen Zähnen ließ sich ein Grollen vernehmen. „Cryptoschlag!“ Knogga hüllte seinen Körper in violetten Nebel und streckte seinen Knochen nach oben, welcher ebenfalls von der sichtbaren Finsternis ummantelt wurde, sodass er beinahe gänzlich hinter dieser verschwand. Es zögerte nicht lange, besser gesagt gar nicht, und ging zum Angriff über. „Schutzschild!“, rief Zayn – fast schon zu spät. Gerade noch rechtzeitig erschien die schützende Kuppel aus purer Energie um Firnontor herum, ehe es von Knoggas dunklem Angriff hätte getroffen werden können Doch der grünlich pulsierende Schild erzitterte unter der Cryptoenergie und Knogga zeigte keinerlei Anstalten, den Rückzug anzutreten. Stattdessen schlug es seinen Knochen immer wieder gegen den Schild, begleitet von einem Knurren – sein Wille hätte wohl bewundernswert sein können, wäre er nicht der Dunkelheit in ihm geschuldet gewesen. Mit steigendem Entsetzen beobachtete Zayn die Situation, ebenso wie sein Pokémon. Eigentlich sollte es ihn nicht überraschen. Er hatte Cryptopokémon schon öfter derartige Attacken einsetzen sehen und jedes Mal hatten sie die Rage der Pokémon nur verstärkt. Firnontor würde seinen Schutzschild nicht ewig aufrechterhalten können. Ungern wollte Zayn dem gepeinigten Cryptopokémon noch mehr Schaden zufügen, allerdings sollte sein Partner auch nicht von dieser energieraubenden Dunkelheit erfasst werden. „Bring es mit Eisstrahl auf Distanz!“, befahl er Firnontor – missmutig. Ein Kampf gegen solch ein Pokémon bereitete keine Freude, im Gegenteil. Firnontors Schlund öffnete sich und heraus schoss ein heller Strahl puren Eises. Dieser durchbrach den Energieschild und schleuderte Knogga durch die Wucht einige Meter weit weg. Als es auf dem Boden aufkam, hatte der Eisstrahl bereits nachgelassen. Ein Teil seines Körpers war mit einer Schicht der glänzenden Kälte überzogen – normalerweise hätten ihm deren tiefe Temperaturen schmerzen sollen, stattdessen stand es bereits wieder kampfbereit auf den Beinen. Zayn sollte den Kampf lieber schnell beenden. „Eiszahn!“ Firnontor näherte sich seinem Kontrahenten in schnellem Tempo, Eis schmückte seinen Kiefer aus, bereit, alles zu zermalmen und einzufrieren, das zwischen diese käme. „Halt es mit Cryptowelle auf!“, brüllte Knoggas Trainer. Knogga … schien nicht diese Attacke einzusetzen, wenn Zayn das richtig beurteilte. Das Pokémon sprintete stattdessen seinerseits in den direkten Kampf, und es war schnell, verdammt schnell. Als hätten ihm die violetten Nebel einen Geschwindigkeitsschub verpasst, krachte es gegen Firnontors eisigen Kiefer und katapultierte das Eispokémon in die entgegengesetzte Richtung. Als sich dieses wieder fing, schüttelte es sich; die dunklen Fäden waberten kurzzeitig über seinen eisernen Körper, ehe sie sich auflösten. Normalerweise besaß Zayn im Kampf eine schnelle Auffassungsgabe, aber dieses Knogga griff nun ohne jeglichen Befehl an. Mit einem Mal flog sein Knochen über die Kampffläche. Geistesgegenwärtig wich Firnontor dem Knochmerang aus. Der sich drehende Knochen änderte den Kurs, zurück in Richtung seines Besitzers, woraufhin sich Zayn plötzlich diesem gegenübersah. Im letzten Moment duckte er sich unter dem Angriff hinweg, mit spürbar pochendem Herzen. „Hör auf, deinen scheiß Knochen zu werfen“, zeterte das Narbengesicht, „und setz Cryptowelle ein!“ Diesmal tat Knogga, wie ihm geheißen, streckte die Arme von sich und beschwor eine Wand aus Dunkelheit. Mit einem Schrei schickte es diese auf seinen Gegner. „Ausweichen mit Doppelteam!“, entgegnete Zayn. Firnontor vervielfachte seinen Körper und entging der Attacke so problemlos, woraufhin sie sich in Nichts auflöste. Einige der Kopien des Eispokémons erschienen nun hinter Knogga, welches verbissen, aber wenig panisch nach dem echten Exemplar suchte. „Gyroball!“ Alle Versionen Firnontors verschwanden augenblickblich, als sich eines der Exemplare hinter Knogga als das Original entpuppte. Es begann, sich in rasanter Geschwindigkeit zu drehen, bis sich ein gleißend heller Energiering um seinen Körper bildete, dann ging es zum Angriff über. Das Bodenpokémon sah die Attacke nicht kommen und wurde erbarmungslos getroffen. Es war fies, von hinten anzugreifen, aber nun bot es eine gute Möglichkeit, den Kampf schnell zu gewinnen. Zayn durfte kein Mitleid mit dem Cryptopokémon haben – es war in seiner Apathie unerwartet stark und dass es zuweilen nicht einmal auf seinen „Trainer“ zu hören schien, machte es zu einer ernsten Bedrohung. Je schneller der Kampf vorbei war, desto besser. Zayn hatte zuletzt nicht auf Vince‘ Kampf geachtet, sein eigener hatte ihn schlicht zu sehr beansprucht. Aber jetzt wandte sich seine Aufmerksamkeit nach rechts, wo Hundemon und Granbull gerade versuchten, sich gegenseitig zu zerfleischen – Vince ließ Hundemon viel näher an das Cryptopokémon heran, als Zayn es für gut hielt –, doch nun wurden die beiden Pokémon in ihrer Rauferei unterbrochen, als Knogga gegen sie krachte und sich die Pokémon auf dem Boden wiederfanden. Granbull war als Erstes wieder auf den Beinen. Es zögerte nicht lange und schickte eine Kugel konzentrierter Cryptoenergie in Richtung Hundemon. Dieses wich im letzten Augenblick zur Seite. Dadurch hielt die Cryptokugel nun auf Vince zu, welcher geschwind ebenfalls aus ihrer Laufbahn sprang – letztlich krachte sie in die nächstbeste Hauswand hinter ihnen, brachte Putz und Gestein zum Bröckeln und hinterließ einen geschwärzten Fleck auf der weißen Fassade. „Fuck, was soll die Scheiße!“, fluchte Vince aufgebracht. Zayn warf einen nervösen Blick um sich, sah dann auf die Pokémon. Knogga hatte sich wieder erhoben, es war sichtlich angeschlagen, was es aber gar nicht zu kümmern schien. Mit leerem Blick stand es da, taxierte über die Fläche hinweg Firnontor. Granbull hingegen hatte sich bereits wieder auf seinen Gegner gestürzt, schickte diesem irgendeine Cryptoattacke entgegen, woraufhin Hundemon mit Flammenwurf antwortete. Sie mussten hier fertig werden. Es wurden immer mehr Schaulustige, die sich in einigem Sicherheitsabstand um sie herum versammelten – weitaus mehr Menschen als Zayn in dieser Situation, konfrontiert mit Ganoven aus Pyritus, um sich haben wollte, ganz zu schweigen davon, dass das die Kampfmöglichkeiten erheblich einschränkte. Er hätte den Kampf längst gewonnen haben können, allerdings eignete sich eine starke Attacke wie beispielsweise Blizzard nun mal nicht für begrenzten Raum. Zu allem Überfluss grummelte es genau in diesem Augenblick in den dunklen Wolken über ihnen, ehe diese einen kühlen Regnen auf die Erde herabsandten. „Vince.“ „Hm?“ Sein Freund warf ihm nur einen kurzen Blick zu. „Geh du schon vor. Ich beende das hier alleine.“ „Was?“, hakte Vince irritiert nach. „Bist du sicher?“ „Ja, wir müssen schnell aufbrechen können, wenn ich hier fertig bin. Ich komme nach“, versprach Zayn und lächelte verschmitzt. Auch wenn ihm nicht nach Lächeln zumute war. „Na gut.“ Vince nickte und rief seinem Hundemon zu, in seinen Ball zurückzukommen. Das Feuerpokémon jaulte auf, als gefiele ihm diese Nachricht nicht, entfernte sich aber von Granbull. Vince rief es zurück und nach einem „Zeig’s den Losern!“ rannte er die Straße hinunter und verschwand nach kurzer Zeit außer Sichtweite. „Firnontor, wir beenden das jetzt“, wandte Zayn sich nun seinem Pokémon zu. „Glaub bloß nicht, dass du uns so einfach davonkommst“, zischte der Typ mit der Narbe erbost. Zayn sparte sich eine Erwiderung. Er war zu beschäftigt damit, sich zu überlegen, wie er beide gegnerischen Pokémon effektiv mit einem Schlag außer Gefecht setzen konnte, ohne dabei allzu großen Einfluss auf die Umgebung zu nehmen. Knogga und Granbull griffen nun auf Befehl mit unterschiedlichen Cryptoattacken an. Während Ersteres erneut eine Cryptowelle heraufbeschwor, ging Letzteres zum direkten Angriff über. Zayn erkannte nicht unbedenkliche Brandwunden auf dessen violetten Fell, aber das schien das Wesen nicht zu kümmern. „Wehr sie mit Gyroball ab!“, rief Zayn seinem Firnontor zu, woraufhin dieses sich abermals in eine rotierende Kugel verwandelte, mit deren Schnelligkeit es nicht nur die Cryptoenergie zurückdrängte, sondern sich zugleich auch das tollwütige Granbull vom Leib hielt, welches versucht hatte, auf es einzudreschen. Wie erwartet erzürnte die Abwehrattacke die beiden Pokémon – statt vorerst auf Abstand zu bleiben, näherten sie sich Firnontor wieder und ignorierten dabei auch die Rufe ihrer Trainer, dies nicht zu tun. Zayn bedachte die Pokémon nur mit einem kühlen Blick und befahl seinem eigenen keine weitere Attacke. Nur Sekunden später stürzten sich Knogga und Granbull als dunkelschimmernde Gestalten auf Firnontor. Ihr Kampfgebrüll war zu einem animalischen Gekreische geworden, in welchem sich Wahnsinn und Blutlust förmlich überschlugen; es klang wie die Hintergrundmelodie eines Albtraums. Gut, dass diese gleich ersterben würde. Zayn ließ die Cryptopokémon so nah wie möglich herankommen, ehe er Firnontor mit einem einzigen Wort dazu anwies, auszuweichen. Den Cryptopokémon dürstete es nach dem Leid ihrer Opfer, aber sie waren keine klugen, vorrausschauenden Kämpfer – die Leichtigkeit, mit welcher Firnontor aus ihrer Angriffslinie schwebte, würde sie jedes Mal wieder überraschen. Dieses Manöver brachte mit sich, dass die Cryptopokémon dem Eispokémon ganz nahe waren und in jenem Augenblick, in dem sie sich diesem verdutzt zuwandten, legte Zayn eine Hand auf einen anderen Pokéball an seinem Gürtel und sprach zugleich an sein Firnontor gewandt: „Eiseskälte.“ Firnontors Schlund teilte sich und sandte einen dichten, nebelartigen Hauch purer Kälte auf seine Gegner. Unmittelbar wurde nicht nur das Eis-, sondern auch die Cryptopokémon in eine glitzernde Wolke gehüllt, als die Feuchtigkeit in der Luft sowie die vom Himmel herabfallenden Wassertropfen ihren ursprünglichen Aggregatzustand aufgaben und zu feinen Eiskristallen wurden. Das dürftige Licht, das noch durch die Gewitterwolken drang, brach sich in der eisigen Kälte und ließ diese erstrahlen. Selbst Zayn, der einige Meter entfernt stand, spürte, wie ihm die Kälte über die Haut kroch. Die Cryptopokémon seiner Gegenspieler gaben keinen Laut mehr von sich, waren aber noch verborgen in Firnontors bitterkaltem Überfall. Den Moment, in welchem dem Narbengesicht und dessen Partner ihre Niederlage bewusstwurde, nutzte Zayn, um den gegriffenen Pokéball zu öffnen. Neben ihm erschien ein Pokémon, stehend auf vier kräftigen Beinen, in einer für seine Art beachtlichen Größe. Das Fell, welches seinen Rumpf überspannte, glänzte in einem satten Goldgelb, überzogen von vereinzelt gezackten, schwarzen Streifen. Um den Kopf- und Brustbereich bauschte sich eine beeindruckende, helle, cremefarbene Mähne, welche nur die Augen und spitzen Ohren des Wesens freiließ. Das gleiche dichte Fell schmückte auch einen Teil seiner Beine und bildete den voluminösen Schweif. Das Arkani beugte sich herab, sodass Zayn auf dessen Rücken klettern konnte. Nun lichtete sich Firnontors Eiseskälte und gab den Blick frei auf zwei vollkommen erstarrte Pokémon. Schock entstellte ihre Gesichter, aus denen jegliche Farbe gewichen war. Gut – war das endlich erledigt. Und außer, dass der Boden um die Pokémon herum ebenfalls von einer Eisschicht bedeckt war, hatte die Attacke keine Auswirkungen auf die Umgebung genommen. Da kam Zayn ein Idee. „Aus dem Weg!“, befahl er den Schaulustigen unwirsch, als sich Arkani der Fluchtrichtung zuwandte, wobei es den Menschen ein, die Worte seines Trainers unterstreichendes Knurren schenkte. „Firnontor, wir hauen ab!“ „Das würde dir Pisser so passen!“, brüllte ihm das Narbengesicht über die Kampffläche hinweg zu. Zayn verkniff sich eine angebrachte Erwiderung, sprach stattdessen wieder zu seinem Eispokémon: „Los, überzieh den Weg hinter uns mit Eisstrahl!“ Kaum waren die Worte gesprochen, gab er Arkani das Zeichen, die Flucht anzutreten. Er fühlte, wie sich die Muskeln des Feuerpokémon unter ihm anspannten, als es sich in Bewegung setzte. Nun warf Zayn seinen Blick hinter sich. Rays Handlanger hatten ihre besiegten Pokémon zurückgerufen und wollten sich gerade an die Verfolgung machen, als ihnen Firnontors Eisstrahl vor die Füße krachte, den Boden mit der glänzenden Kälte überzog und sie offenbar Respekt lehrte. Im Weg stehende Menschen flüchteten sich in angrenzende Gassen oder sprangen zur Seite, als Firnontor, während es sich nach und nach von der Menge entfernte, das konzentrierte Eis über die Straße verteilte, bis eine Fläche von gut zehn Metern bedeckt war. Seine Verfolger standen unschlüssig vor der Eisfläche – sie zu überqueren, würde sich als zeitaufwendig gestalten, ebenso, wie einen Alternativweg zu nehmen. Doch trotzdem sollte Zayn sein Glück nicht herausfordern. Mit einem Pfiff holte er Firnontor zu sich und rief es in seinen Ball. Die Gasse beschrieb einen Bogen, sodass er nicht mehr in Sichtweite war. Kalter Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht und durchtränkten Haare und Kleidung zunehmend. Während er sich an Arkanis weichem Fell festhielt, dämmerte ihm so langsam, was geschehen war.   ******   „Mach schon, fahr los!“, warf Zayn seinem Freund lautstark entgegen, als er sich auf den Sitz fallen ließ und die Autotür hinter sich zuknallte. Vince zeigte sich erschrocken, kam der Aufforderung aber umgehend nach und schlängelte sich, nicht gerade sehr rücksichtsvoll, in den Verkehr. „Okay, was zur Hölle war das?“ Zayn warf einen Blick nach hinten aus dem Auto. Außer anderen Verkehrsteilnehmern und gewöhnlichen Menschen konnte er nichts Auffälliges erspähen, Rays Leute waren nicht in Sichtweite. Dennoch spürte er, wie sich, nun, da er sich nicht länger in der Gefahrensituation befand, allmählich ein Gefühl der Unruhe in ihm breitmachte. Stück für Stück erklomm eine leise Panik sein Inneres, ließ ihn sich erschöpft gegen die Sitzpolsterung lehnen. Sie waren hier und kannten sein Gesicht. Sie hatten ihn gefunden und könnten es jederzeit wieder tun. Beim nächsten Mal vielleicht nicht in Portaportus, sondern dort, wo Chandra weniger weit entfernt war. Chandra. Arceus sei Dank war sie nicht dabei gewesen. „Fahr einfach, verdammt!“, fuhr Zayn Vince alles andere als freundlich an. „Sie sind gar nicht zu sehen. Und was sollen sie denn tun? Uns in einer halsbrecherischen Jagd verfolgen und auf uns schießen?“ Dem Blick nach zu urteilen, den Zayn auf diese Frage folgen ließ, hielt er das für gar nicht so unwahrscheinlich. Hörbar nervös erwiderte er: „Das sind keine gewöhnlichen Kleinkriminellen. Diese Typen sind scheißgefährlich und wenn sie mich erwischen …“ „Dann …?“ „Spielt das denn eine Rolle?“, knurrte Zayn. „Verdammt noch mal, sieh einfach, dass wir hier wegkommen. Einmal erlaube ich dir, Gas zu geben und auf die Verkehrsregeln zu scheißen, also mach es gefälligst auch!“ Er hasste es, derart aus der Haut zu fahren, aber im Moment war ihm jeglicher vernünftige Gedanke, der ihn hätte zügeln können, fern. „Ist ja gut“, erwiderte Vince kleinlaut und trat spürbar aufs Gaspedal. „Aber vielleicht solltest du dich besser anschnallen.“ „Was?“ Irritiert sah Zayn auf sich hinunter. Tatsächlich. Als er der Aufforderung nachkam, meinte sein Freund: „Ich mein ja nur. Du beschwerst dich ja sonst immer, dass du eines Tages noch durch die Windschutzscheibe fliegen würdest.“ „Du fährst ja auch wie ein Irrer …“ „Wie dem auch sei.“ Auf einmal hatte sich Vince‘ Tonfall verändert; der Ernst der Lage verdunkelte seine Worte förmlich. „Verrätst du mir jetzt, was das war? Warum hast du so Schiss vor diesen Kerlen?“ „Kannst du dir das nicht denken? Die waren aus Pyritus und ich habe sie verärgert. Deswegen sind sie hier.“ „Nur verärgert?“, harkte Vince skeptisch nach. „Mag ja sein, dass ich nicht viel Ahnung vom kriminellen Pflaster in Pyritus habe, aber wenn diese Kerle dir bis hierher gefolgt sind, dann ist ‚verärgert‘ ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Also? Was hast du angestellt? Und nein, Zayn“, er schüttelte entschieden den Kopf, als er Zayns Augenrollen sah, „komm mir jetzt nicht wieder so. Ich habe es satt, immer nur die halbe Wahrheit zu erfahren. Ich war gut genug, um dich hierher zu kutschieren, damit du deinen scheiß Nachforschungen nachgehen konntest, also habe ich ja wohl auch ein Recht darauf, zu erfahren, wieso ich dir gerade deinen Arsch retten musste.“ Nach dieser Ansprache fielen selbst Zayn keine Worte mehr ein, um die Neugier seines Freundes abzuwehren und sich selbst um eine Erklärung zu bringen. Letzten Endes hatte Vince ja auch recht. Ihm missfiel es nur einfach, andere allzu sehr in seine Probleme mithineinzuziehen, da er diese lieber alleine regelte. Es war einfacher, sich nur um sich selbst sorgen zu müssen, und außerdem schuldete er anderen immer Rechenschaft darüber, was er zu tun gedachte. Er war der Reaktionen auf seine Vorhaben wirklich überdrüssig, denn sie waren immer gleich: Das ist viel zu gefährlich. Bist du sicher? Du solltest das nicht tun. Du bist wohl lebensmüde. So ging das dann immer weiter. Aus genau diesem Grund hatte er auch kaum jemandem Bescheid gesagt, als er nach Pyritus gereist war. Allerdings schien das niemand begreifen zu können. Keiner verstand, dass er, wenn es um die Cryptopokémon ging, nun mal das tat, was er tun musste. „Also, erzählst du dann langsam mal? Und zwar die ganze Geschichte, klar? Sonst kann ich auch einfach wieder anhalten und wir warten, bis diese Bastarde uns gefunden haben.“ Zayn richtete den Blick wieder auf Vince. Er meinte das nicht ernst, nicht wirklich zumindest. Aber sein Blick … der war es. Starr sah er nach vorne und verzog keine Miene. Man sah Vince selten mit einem derart eingefrorenen Gesichtsausdruck. Meist sprudelte er vor Optimismus und Leichtigkeit, doch wenn er das ablegte, dann nur aufgrund einer wahrlich besorgniserregenden Situation. „Wir haben ja auch genügend Zeit. Wird ‘ne lange Fahrt“, ergänzte Vince. Wohl war – der Regen ergoss sich mittlerweile in Strömen auf das Auto und schränkte die Sicht erheblich ein. Selbst jemand wie Vince fuhr bei solchem Wetter langsamer. Aber es erschwerte das Heimkommen zusätzlich – einzig beruhigend war, dass sie die Stadtgrenze gleich erreichen würden. „Na gut“, seufzte Zayn, ergeben in sein Schicksal.   ******   Schließlich hatte Zayn alles erzählt, was ihm eingefallen war, und das war gar nicht so wenig. Am Ende wusste Vince fast alles von seinem Aufenthalt in Pyritus, von den bekannten Unbekannten, die ihm bis hierher gefolgt waren, von Ray, von … Chandra. Es missfiel Zayn, jemandem hinter ihrem Rücken von ihrer Vergangenheit zu erzählen, aber um darzulegen, wie krank ihr Bruder und Vater waren, musste man diesen Teil zumindest knapp anschneiden. Als er zum Ende kam, waren sie längst nicht mehr in Portaportus, aber der Regen hatte nicht nachgelassen. In düsterem Grau präsentierten sich die Wolken, über die gelegentlich ein Blitz hinwegzuckte. „Fuck“, stellte Vince fest, hörbar erschlagen von den neuen Informationen. „Nur damit ich das richtig verstehe: Chandras Bruder ist der Typ, der die Cryptopokémon verkauft und obendrein hat er gemeinsam mit ihrem Vater, dem sie im Übrigen auch völlig egal ist, ihre Mutter umgebracht. Und genau dieser Psycho ist jetzt hinter dir her, weil du Chandra einfach kurzerhand mitgenommen hast, er sie aber irgendwie für seine Cryptopokémon braucht. Also schickt er dir diese Wichser von vorhin hinterher, die dich bei eurer letzten Begegnung übrigens auch fast umgelegt hätten. Ist das richtig so?“ „Das fasst es ganz gut zusammen“, erwiderte Zayn matt und sah ohne ein bestimmtes Ziel nach draußen. „Ich fass es nicht.“ Vince schüttelte den Kopf und Zayn sah, wie sein Freund das Lenkrad so fest umklammerte, bis seine Knöchel sich unter der Haut weiß abzeichneten. „Wie zur Hölle hast du es bitte wieder geschafft, deinen Arsch in diese verfickte Scheiße zu manövrieren?“ „Das habe ich dir doch gerade erzählt.“ „Ja, hab ich vernommen. Und ich verstehe es nicht. Es ist, als würdest du jedes Mal Anlauf nehmen, wenn sich dir eine Möglichkeit bietet, dir Stress einzuhandeln.“ Wenngleich Zayn müde war, das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Eine dumpfe Wut kämpfte sich durch den Schleier der Erschöpfung, der bereits die ganze Fahrt auf ihm lag. „Ach ja? Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Chandra einfach dort bei diesen Freaks lassen? Nach allem, was war.“ Den letzten Teil sagte er mehr zu sich selbst. Vince schenkte ihm einen knappen Blick und ein genervtes Augenrollen. Er hätte ihm sicher noch mehr solcher Blicke zugeworfen, aber seine Aufmerksamkeit galt der Straße und dem Wetter. „Natürlich nicht! Ich meine nur, dass du ein verdammtes Talent dafür hast, dich in Schwierigkeiten zu bringen und das nicht mal zu merken. Und diesmal bist du entschieden zu weit gegangen.“ Nur mühsam gelang es Zayn, seiner Wut bei diesen Worten nicht lautstark Luft zu machen. Genau das war der Grund, warum er anderen so ungerne von seinen Vorhaben erzählte. Er war es leid, sich von aller Welt anhören zu müssen, wie leichtsinnig sein Verhalten doch war. Er hatte Chandra mitnehmen müssen. Die Konsequenzen dessen waren unschön und gefährlich, aber er bereute es nicht. Er würde jederzeit wieder so entscheiden. „Nur damit das klar ist: Du hast überhaupt kein Recht, jetzt wütend auf mich zu sein“, entgegnete er in alles andere als freundlichem Ton. Vince‘ Antwort war ein Lachen, dem jeglicher Humor fehlte. „Wütend?“, wiederholte er. „Ich bin nicht wütend, Zayn, ich bin … besorgt. Wieso geht das nicht in deinen Kopf rein?“ Zayn verschränkte die Arme vor der Brust. „Du musst nicht besorgt sein. Das Ganze ist immerhin meine Angelegenheit, nicht deine.“ „Ach so“, sein Freund löste die Hände für einen Augenblick vom Lenkrad, nur um sie dann geräuschvoll wieder dagegen zu schlagen, „na dann. Wenn das so ist, dann muss ich dir ja in Zukunft in so einer Situation wie heute auch nicht mehr helfen. Ist mir dann auch egal, ob die Kerle dir beim nächsten Mal eine Knarre an den Kopf halten, denn: Es ist ja schließlich nicht meine Angelegenheit.“ Seine Stimme war so kühl wie nur selten. „Ich hoffe, du merkst das selbst.“ Zayn nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. Wann war das Gespräch nur in diese Richtung abgedriftet? „Wenn du es nicht verstehen kannst, dann sag nichts mehr dazu. Ich tue, was getan werden muss.“ „Laut wem?“ Zayn blieb Vince eine Antwort schuldig, so fuhr dieser fort: „Oh, ich verstehe es sehr gut, Zayn. Du bist ein dummer Sturkopf. Dein Verhalten wird dich noch umbringen. Aber vielleicht willst du das ja auch.“ Zayn glaubte, sich verhört zu haben. Mit einem Mal hatte er die Augen wieder geöffnet und sah hinüber zu seinem Freund. Wenn dieser den fassungslosen Blick, der auf ihm ruhte, zur Kenntnis nahm, dann ignorierte er ihn geflissentlich. Seine eigenen Augen waren starr nach draußen gerichtet. Nach einer geschlagenen Minute schaffte Zayn es, fortzusehen. Aber er fixierte nicht länger einen bestimmten Punkt, starrte stattdessen ins Leere. Erst war ihm heiß geworden, als hätte sein Blut auf die Worte Vince‘ hin angefangen, vor Zorn zu kochen. Aber nun floss ein kalter Schauer durch seine Venen, wusch jegliche Erregung fort, bis nichts übrigblieb als die Fassungslosigkeit, in welcher sich die Worte zu wiederholen schienen. Er ließ keine Antwort folgen und da auch Vince sich nicht mehr zu einer Aussage herabließ, breitete sich zwischen ihnen eine Stille der unangenehmen Sorte aus. Den Rest des Weges zum Labor, ungefähr eine halbe Stunde, war die Anspannung im Auto so immens, dass man sie mit einem Messer hätte zerschneiden können. Zayn hatte die ganze Zeit über aus seinem eigenen Fenster geschaut und nicht einmal nach links gesehen. Es regnete noch immer in Strömen, als Vince schließlich auf den Vorplatz des Labors fuhr. Womöglich hatte das Unwetter einfach denselben Weg gehabt wie sie. Zayn fackelte nicht lange, als der Wagen zum Stehen kam. Sofort hatte er die Hand am Türgriff, doch kaum, dass die Tür offenstand, spürte er eine Hand auf seinem linken Unterarm. „Zayn, warte“, bat Vince entschlossen. Zayn warf einen Blick auf dessen Hand – das war ungewohnt forsch für seinen Freund – und dann in sein Gesicht. „Bitte.“ Er schloss die Tür wieder und hob die Augenbrauen. Vince zog seine Hand zurück. „Ich hätte das nicht sagen dürfen, es tut mir leid.“ Er brauchte das nicht zu konkretisieren, Zayn wusste auch so, worauf er sich bezog. „Es war gemein und unfair dir gegenüber. Bitte entschuldige.“  Es verstrichen einige Sekunden, dann nickte Zayn. Er war zu erschöpft, um sauer zu sein, und Vince‘ Worte waren aufrichtig. Er hatte ihn nicht verletzen wollen. „Ist schon gut. Aber … sag so etwas nie wieder.“ Ein schmales Lächeln lag auf Vince‘ Lippen, als er nickte. „Na dann.“ Abermals öffnete Zayn seine Türe und stieg aus. Eigentlich wollte er schnellstmöglich ins Innere des Labors, aber da wurde er einmal mehr von seinem Freund aufgehalten. „Zayn.“ Er beugte sich hinab und spürte bereits, wie der Regen seine Kleidung durchnässte. „Erzähl Chandra, was passiert ist, ja? Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren, und das weißt du auch. Diese Kerle sind in erster Linie wegen ihr hier, nicht wegen dir.“ Nun war es an Zayn, zu nicken. Mehr fiel ihm schlicht nicht ein und er wollte raus aus dem Regen. „Gut.“ Er hatte die Hand an der Autotür, bereit, sie zuzuschlagen, als ihm noch etwas einfiel. Es erschien ihm angesichts ihrer Diskussion angebracht. „Danke … für deine Hilfe heute.“ „Immer. Das weißt du.“ Daraufhin verabschiedeten sie sich und wenig später verschwand Vince‘ Auto im Regen des frühen Abends, während Zayn ins Labor rannte. Doch es nützte nichts, er war bereits vollkommen durchnässt. Die Nässe lieferte einen hervorragenden Nährboden für die Kälte, die sich auf seine Haut stahl. Er sollte lieber schnell raus aus den durchtränkten Sachen. Und vor allem sollte er unauffällig in sein Zimmer gelangen. Während der Rückfahrt hatte er einen Blick in den Spiegel gewagt. In seiner linken Schläfe pochte ein leiser Schmerz und unter der Haut zeichnete sich bereits ein rötlich-violetter Bluterguss ab, genau dort, wo die Faust des Narbengesichts in sein Gesicht gekracht war. Die Farbintensität würde noch zunehmen und wenn seine Mutter das sehen sollte … Glücklicherweise schaffte er es ohne Zwischenfälle nach oben. Es war Freitag und die meisten Angestellten des Labors waren zu dieser Zeit schon fort, seine Mutter womöglich bei Torben und Jill hatte sich sicherlich mit Enton unter die Decke verkrümelt, um das Wasserpokémon vor dem Unwetter zu beschützen. Blieb nur offen, wo Chandra sich aufhielt. Er kam an ihrem Zimmer vorbei und als auf sein Klopfen keine Reaktion folgte, drückte er die Klinke nach unten, nur um festzustellen, dass die Türe abgeschlossen war. Wenn sie hier nicht war, dann würde er sich erst umziehen und trocknen gehen, ehe er sie suchte. In seinem eigenen Zimmer angekommen wollte er auf direktem Wege ins Bad, doch er kam nicht weiter als bis vor dessen Türe, denn diese zeigte sich ebenfalls verschlossen. „Was … Hallo?“, rief er klopfend. „Oh, hey, Zayn.“ Das war Chandras Stimme. „Was machst du in meinem Bad?“ „Baden. Dein Bad ist viel größer als das in meinem Zimmer, voll unfair. Und du hast eine Badewanne, wie toll ist das denn?“ Wie zur Unterstützung ihrer Aussage hörte er das Gluckern des Wassers. „Ja, wunderbar.“ Er hatte diese Faszination noch nie teilen können. Duschen waren erheblich unkomplizierter als Badewannen. „Na ja, und deine Mutter hat gesagt, ich kann die Badewanne benutzen. Dass du sicher nichts dagegen hast. Also bin ich hier.“ Zayn verdrehte die Augen, schmunzelte aber, während er die Stirn an die Tür legte. Sie klang so fröhlich, so ausgelassen. Er wollte ihr diese Leichtigkeit nicht nehmen. Aber … er hatte keine Wahl. „Wie auch immer. Du musst jetzt rauskommen. Wir müssen reden.“ „Aber …“ Er hörte, wie sich Missmut in ihre Stimme schlich, verursacht durch den in seinen eigenen Worten. „Na gut. Aber ich muss erst meine Kur auswaschen.“ Er murmelte eine Zustimmung und wollte gerade die Tür verlassen, als ihm noch etwas einfiel. „Hast du diesmal an ein Handtuch gedacht?“ „Ich muss dich enttäuschen – ja, habe ich“, kam die neckische Antwort. Daraufhin trat er endgültig fort vom Bad. Er hörte das Wasser darin rauschen und hatte selbst noch genügend Zeit, sich aus seiner nassen Kleidung zu befreien und sich etwas Trockenes anzuziehen. Danach fühlte sich seine Haut zwar immer noch feucht an, ganz zu schweigen von seinen wild in alle Richtungen abstehenden Haaren, aber immerhin fror er nicht länger. Als er fertig war, warf er sich aufs Bett und wartete. Mittlerweile waren ihm auch Chandras Klamotten auf seiner Matratze aufgefallen. Schließlich trat sie gemeinsam mit einer Wolke dichten Dampfes in sein Zimmer, nur eingewickelt in ein weißes Handtuch, während ihr die nassen Haare auf den Rücken fielen. „Da bist du ja endlich.“ Zayn sah demonstrativ an die Decke. „Hast du mich etwa vermisst?“ Er gab lediglich einen zustimmenden Laut von sich, doch sie vergaß ihre Frage ohnehin, als sie zur großen Fensterfront auf der anderen Zimmerseite sah. Die Vorhänge waren zur Hälfte zugezogen, was aber noch immer reichlich Blick auf den Garten und die bescheidenen Wetterverhältnisse ermöglichte. „Oh nein, es regnet ja immer noch“, seufzte Chandra, ehe sie zum ihm sah. „Und du hast offenbar auch eine Dusche genommen. Wo bist du den ganzen Tag gewesen?“ „Zieh dich an, dann erzähle ich es dir.“ Sie war ans Bett herangetreten und damit überrollte Zayn eine Welle der fruchtigsten und blumigsten Düfte, die jemals in seinem Zimmer gewesen waren. Er erkannte ein paar Wasserperlen auf ihren Schultern und sah fort, als er sich dessen bewusstwurde. „Sicher, dass du das willst?“ Sie kramte in ihren Sachen auf dem Bett. Kurz zögerte er, dann entgegnete er monoton: „Ja … sicher.“ „Wow, was ist denn mit dir passiert?“, lachte sie. „Na wenn das das Resultat daraus ist, dass du mit Vince unterwegs bist, dann lass ich dich in Zukunft lieber nicht mehr weg.“ „Himmel, Chandra, kannst du dich bitte einfach anziehen?“, platzte es mit einem Male aus Zayn und er schenkte ihr einen entnervten Blick. Noch immer tänzelte sie hier halbnackt vor seiner Nase herum und schien partout nicht begreifen zu wollen, dass er dafür gerade absolut keinen Kopf hatte. Nicht, dass er nicht gewollt hätte, aber ihm war klar, dass er, wenn er sich jetzt mit Chandra vergnügt hätte, hinterher vermutlich einen Rückzieher machen und ihr eben nicht die ganze Wahrheit über die Ereignisse in Portaportus erzählen würde. Denn dann würde ihm noch deutlicher vor Augen geführt, wie zerbrechlich ihr Glück war und dass er nicht derjenige sein wollte, der es in tausend kleine Einzelteile zerschlagen musste. Aber er musste nun mal dieser Jemand sein. „Okay, okay, ist ja schon gut“, erwiderte sie erschrocken und verdrehte die Augen. „Wenn du es unbedingt willst, na gut.“ Das Handtuch fiel daraufhin zu Boden und sie griff in den Stapel ihrer Kleidung. Mehr sah Zayn dann auch nicht mehr, da er nach einem knappen Blick auf ihren im schummrigen Licht blass leuchtenden Körper endgültig fort sah – und sich seufzend eines der Kissen übers Gesicht legte. „Ich verstehe wirklich nicht, was du hast. Bist du heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden oder wer hat dir so die Laune vermiest?“, mutmaßte Chandra. „Wie dem auch sei. Glaub bloß nicht, dass ich das auf mir sitzen lasse; du wirst noch sehen, was du davon hast.“ „Jaja“, ertönte dumpf Zayns Stimme unter dem Kissen. „Du machst mich noch wahnsinnig.“ „Genau das ist mein Ziel.“ Als ihm allmählich die Luft ausging, hob er das Kissen an und stellte erleichtert fest, dass sie soeben fertiggeworden war. Sie vollständig bekleidet zu sehen, war für seinen Blutdruck eindeutig besser. Er erhob sich vom Bett und als er vor ihr aufragte, meinte er unsicher: „Ich …“ „Du hast gesagt, du musst mit mir reden.“ Traurigkeit mischte sich in Chandras Stimme, als hätte sie sich nun selbst wieder daran erinnert. „Worum geht’s?“ Nun war es zu spät, noch einen Rückzieher zu machen. Letztlich verdankte er es den eindringlichen Worten seines besten Freundes, dass er überhaupt direkt dazu bereit war. Andererseits hätte er das Für und Wider so lange abgewägt, bis er sich dafür entschieden hätte, sein Wissen für sich zu behalten. Aber das war falsch – das wusste er. „Es ist etwas passiert, heute. Vince und ich … wir waren in Portaportus. Nachdem wir neulich dieses Bamelin gesehen haben, hat mir das keine Ruhe gelassen und ich wollte unbedingt mehr dazu erfahren, wer diese Pokémon dort verteilt. Ich kenne jemanden, der dort für mich ein wenig Ausschau gehalten hat. Er hat eine Person gefunden, die ein Cryptopokémon gekauft hat …“ „Und konnte dir diese Person weiterhelfen?“ Er nickte. „Ich weiß jetzt, wer diese Pokémon in Portaportus verteilt hat. Und es ist keine erfreuliche Nachricht.“ Chandra hauchte: „Wer?“ Bei seinen Worten umfasste Zayn sanft ihre Oberarme. „Es waren diese Typen, vor denen du mich damals gerettet hast.“ Für einen Moment konnte er beobachten, wie dieses Wissen in sie floss und alle Leichtigkeit, alle Freude, die sie zuvor noch von innen heraus hatten strahlen lassen, im Keim erstickte. Wie ein dunkler Schleier fiel die Erkenntnis über sie, der das Grün ihrer Augen um einige Nuancen abdunkelte und die Konturen in ihrem Gesicht verhärtete. Ihre Unterlippe zitterte, als sie sprach: „Du hast sie gesehen. Aber haben sie dich auch gesehen?“ Zayn nahm einen tiefen Atemzug, schloss kurzzeitig die Augen. Dann drehte er seinen Kopf nach rechts und offenbarte ihr die allmählich aufblühende Prellung. „Sie haben mich gesehen, standen mir gegenüber. Und wenn Vince nicht gewesen wäre … nun ja.“ In den nächsten Minuten wünschte er sich bereits, er hätte das Wissen für sich behalten. Sie ließ sich sichtlich erschüttert auf das Bett sinken und fuhr sich mit zitternden Händen übers Gesicht. „Nein, das kann nicht sein. Wie kann das sein? Wie können sie dort sein – hier sein?“ Ihrer Stimme nach zu urteilen war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er setzte sich neben sie. „Uns war doch klar, dass er alles dafür tun würde, herauszufinden, wo du bist. Er hat diese Cryptopokémon in die Region gestreut, um zu bezwecken, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.“ Vielleicht hätte Zayn nicht so voreilig sein und länger mit seinen Nachforschungen warten sollen. Letztlich hatte er ihm nur in die Hände gespielt. Nun konnte Ray seinen Suchradius erheblich eingrenzen, und Zayn tat gut daran, Portaportus für eine ganze Weile zu meiden. „Und … es war nur eine Frage der Zeit, bis sie hier in der Nähe auftauchen würden. Und ein verdammt schlechter Zufall.“ „Sind sie euch gefolgt?“, fuhr Chandra plötzlich auf. „Nein.“ Er ergriff ihre Hände. „Niemand ist uns gefolgt. Nicht bei diesem Wetter.“ „Gut … Aber was, wenn sie herausfinden, dass wir hier sind? Wenn Ray herausfindet, wo ich bin?“ Als spielte sich dieser Gedanke als reale Vorstellung hinter ihren Augen ab, füllten sich diese augenblicklich mit Tränen, die ihr gleich darauf über dir geröteten Wangen rannen. „Er wird mich wieder nach Pyritus schleifen und mich bestrafen.“ „Hey, nein“, sprach Zayn sanft. „Sag so etwas nicht – denk nicht einmal daran. Er wird das nicht tun. Ich werde es nicht zulassen, hörst du?“ „Ach, das sagst du doch jetzt nur so“, schniefte sie. „Was willst du denn auch tun?“ „Das … weiß ich noch nicht“, gestand er. „Aber ich werde mir eine Lösung einfallen lassen. Ich werde ihn das nicht tun lassen.“ Und Zayn meinte diese Worte so ernst wie nur selten etwas. Nach all diesen Wochen, die ihm wie eine kleine Ewigkeit erschienen waren, war Chandra ihm so wichtig geworden, dass er sie sich nur noch schwer wegdenken konnte. Er hatte viel Zeit gehabt, sich über sie Gedanken zu machen, über ihre Persönlichkeit – und vor allem darüber, wie wunderschön diese doch trotz aller überstandenen Gräuel war. Oder vielleicht gerade deshalb. Niemals würde er sie zurück in die Hände desjenigen geben, der nur danach strebte, alles Schöne und Zauberhafte in ihr zu zerstören, um es mit Kummer und Leid zu ersetzen. Irgendjemand musste ihren wahnsinnigen Bruder aufhalten und wenn nötig, würde er sich dieser Aufgabe annehmen. „Sicher?“ Sie sah mit geröteten Augen zu ihm auf. Allein dieser Anblick war wie ein Stich in seine Brust. „Ganz sicher.“ Er zog sie an sich, woraufhin sie ihr Gesicht gegen seine Brust drückte. Als Antwort auf ihre bebenden Schultern strich er ihr mit einer Hand über den Rücken. „Ich habe es dir doch schon einmal gesagt. Ich passe auf dich auf, Chandra.“ Für einige stille Minuten saßen sie so beieinander und Zayn konnte spüren, wie Chandra sich langsam wieder beruhigte. Sie mochte verängstigt sein, aber sie war nicht mehr so aufgelöst wie zuvor. Die ganze Zeit über hatte er hinter ihr ins Leere gestarrt, während es im Zimmer allmählich dunkler geworden war, und wiederholt an seinen Entschluss gedacht. Er würde Chandra beschützen und Ray in seine Schranken weisen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)