Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Prolog: Das Versprechen ----------------------- „Du wirst mich doch beschützen, Hänsel?“, flüsterte das kleine Mädchen leise und klammerte sich an ihren Bruder. „Immer, Gretel. Immer.“ Die dumpfen Schritte hinter der Tür kamen immer näher. „Kommt raus, kommt raus, ihr lieben Kinder. Eure Mutter ist nicht mehr böse auf euch“, hörte man eine Frauenstimme sagen. Das kleine Mädchen zitterte in seinen Armen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Die Angst saß tief, nicht nur bei ihr. Doch er würde diese Angst nicht nach außen dringen lassen. Er durfte nicht. Er musste stark sein, für sie beide. In den Tiefen seines Herzens hielt er die Furcht unter Verschluss. Denn sie bedeutete seinen Untergang. Die Türklinke wurde langsam nach unten gedrückt und ein Lichtstrahl schlich sich in das dunkle Zimmer. Wie gelähmt starrte er ihr entgegen und schaffte es mit Mühe das Mädchen hinter sich zu schieben. Er würde sie beschützen so gut es ging. Nicht nur, weil er es versprochen hatte. Die Frau nährte sich ihnen mit schweren Schritten. In der Hand hielt sie einen Stock. Er sah an ihr vorbei zu der offenen Tür. Wenn er sie nur ablenken könnte, dann... Sein Gedankengang wurde von einem dumpfen Schmerz unterbrochen, als er das plötzliche Pochen an seiner Wange wahrnahm. Nun hatte sie ihn doch gepackt. Die Angst. Kapitel 1: Nur eine einzige Regel --------------------------------- ~ 1990 ~   Mein Name ist Hyde Shinya, ich bin 17 Jahre alt. Eigentlich gibt es über mich nicht viel zu sagen. Ich bin ein ziemlich schwieriger Jugendlicher, wenn man das so nennen will. Aber wer ist das bitte nicht? Ich lege wenig Wert auf gesellschaftliche Konventionen und Normen, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich regelmäßig Probleme mit Lehrern und anderen Erwachsenen habe. Aber das juckt mich wenig. Die Erwachsenen haben mir noch nie etwas Gutes getan, also warum sollte ich mich auf ihre Regeln einlassen und ihnen gehorchen? - Genau. Ich sehe darin auch keinen Sinn.   Ich lehnte mich aus dem Fenster und atmete tief die frische Luft ein. Es fühlte sich wunderbar an, wenn sich die Lungen mit Leben füllten. Während der Pause tobte stets ein reges Durcheinander in der Klasse. Vor allem weil die Ferien vor der Tür standen. Niemand konnte seine Freude zügeln. Bis auf mich. Einer meiner Freunde legte seinen Arm um meine Schulter und gesellte sich zu mir. Es war Nanda Watami, der Klassenclown. Mit ihm hatte man immer etwas zu lachen und er hatte gegen meine robuste, schroffe Art nichts einzuwenden. „Oh, schau mal, ist das nicht Ayumi?“ Ayumi war meine kleine Schwester. Sie war 15 Jahre alt und 2 Klassen unter mir. Wenn man es genau nahm, war sie meine Halbschwester. Aber wir machten da keinen Unterschied. Als ich zwei Jahre alt war, hatte mein Vater dieses kleine Mädchen zu uns gebracht. Die Geliebte meines Vaters war schwanger geworden, konnte das Mädchen jedoch nicht versorgen. Sie wollte sie in einem Heim unterbringen, doch Vater war strikt dagegen. Er hatte die Verantwortung übernommen und sie bei sich aufgenommen, um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch die Wahrheit war, dass sie wahrscheinlich in einem Heim besser aufgehoben wäre. Aber wer hätte ahnen können, dass das Leben so unberechenbar und grausam sein könnte...   Auch andere Jungs stellten sich an die Fenster und glotzten hinaus. Die Schule war in zwei Distrikte unterteilt: Mädchen- und Jungendistrikt. Die Gebäude zu den geschlechtsspezifischen Bereichen befanden sich jeweils auf der linken und rechten Seite des Schulgeländes und hatten sogar eigene Schulhöfe. Wir trafen nur selten auf die Mädchen, wenn sie zum Beispiel wie heute Sport hatten, denn dann mussten sie zum Jungendistrikt, wo sich die Sporthallen befanden. Darauf waren meine Klassenkameraden und überhaupt alle Typen dieser Schule versessen, denn dann konnten sie die Mädchen ausgiebig begaffen, auch wenn es nur von hier oben war. Sie bekamen in der Schule ja sonst nur Männerhintern zu Gesicht. Ich hingegen war null an diesen Hühnern interessiert. Ich packte Nanda am Kragen und zerrte ihn zum Teil aus dem Fenster, sodass er einen erschrockenen Schrei von sich gab. „Du gaffst doch nicht etwa meine Schwester an, oder?“, zischte ich bedrohlich, während Nanda sich an den Fensterrahmen klammerte und versuchte nicht aus dem Fenster zu stürzen. „Nein, man! Würde ich niemals machen!“ „Würd' ich dir auch raten!“ Ich hörte die Antwort, die ich hören wollte, ohne meinen Freund jedoch sofort loszulassen. Ja, er war wirklich mein Freund. Aber wenn man mit mir befreundet sein wollte, hatte man eine Regel zu befolgen: Finger weg von meiner Schwester. „Hyde, nun lass den Scheiß!“ Zufrieden ließ ich Nanda aus dem eisernen Griff und schlug ihm grinsend auf die Schulter, als hätte ich gerade nicht versucht, ihn aus dem Fenster zu werfen. Wenn es um meine Schwester ging, reagierte ich sehr empfindlich. Sie war die einzige Person auf dieser gottverlassenen Welt, die ich mit meinem Leben beschützen würde. Ich versuchte es so gut es ging, sie vor diesen Arschlöchern fernzuhalten, aber diese Geier waren einfach überall! Warum zum Teufel musste sie auch so hübsch sein. Ayumi hatte japanische Gesichtszüge, jedoch sehr helles Haar und grüne Augen. Das lag daran, dass mein Vater damals eine Affäre mit einer ausländischen Bediensteten hatte, die jetzt natürlich nicht mehr bei uns eingestellt war. Das hieß, wir hatten Bedienstete, als Ayumi und ich noch klein waren, aber mittlerweile war Vaters Geschäft Pleite gegangen und sein ganzer Reichtum war in Rauch aufgelöst. Vater war nun ein normaler Angestellter wie jeder andere auch. Alles, was er sich mit Mühe und Fleiß erarbeitet hatte, hatte er verloren. Nun musste er härter denn je für sein Geld arbeiten, aber den Lebensstandard, den wir vor Jahren hatten, konnte er niemals wieder erreichen. „Oh man, da ist ja fast keine hübsche dabei!“, hörte ich einen Deppen aus meiner Klasse sagen. Tomoya Takarai. „He?? Bist du blind! Da sind mindestens fünf, die ich flachlegen würde!“, konterte Watashi Ogawa. „Hm, weiß nicht. Die eine da würde vielleicht noch fürs Bett reichen!“ „Welche meinst du?“ „Na die, mit den hellbraunen Haaren. Die sieht gar nicht mal so schlecht aus.“ Im Raum wurde es auf einmal ganz still. Jeder wusste, wen er gemeint hatte. Es gab nur eine einzige, die solche markanten hellbraunen Haare hatte. „Ey man, sag das doch nicht so laut!“ „Eh, wieso? Die ist doch eine heiße Nummer, oder nicht?“ „Das ist Ayumi Shinya!“ „Ja, und?“ Ich spürte, wie meine Schläfen bereits anfingen zu pochen. Die Wut sammelte sich in meinem Inneren, wartete nur darauf auszubrechen. Jeder im Raum konnte die Anspannung deutlich spüren, bis auf Tomoya. Alle Jungen, die noch nahe genug bei ihm standen, nahmen langsam Sicherheitsabstand ein. „Was ist?“, fragte er unsicher, als ihm endlich das komische Verhalten seiner Klassenkameraden auffiel. Dann weitete er vor Schreck die Augen, als er mich auf sich zukommen sah. Doch es war zu spät für ihn mir auszuweichen. „Er hat sein Todesurteil unterschrieben“, murmelte jemand in unmittelbarer Nähe, bevor ich zum Schlag ausholte und Tomoya mitten im Gesicht traf. Meine Hand schmerzte, aber ich kümmerte mich nicht darum, sondern stürzte mich wieder auf ihn. Keiner wagte es, dazwischen zu gehen, weil sie zu feige waren, etwas abzubekommen. Umso besser. Ich würde diesem Kerl eine Tracht Prügel verpassen, damit er sich das nächste Mal an dem Namen meiner Schwester verschluckte. Plötzlich wurde ich von hinten gepackt und von meinem Opfer weggezogen. Ich versuchte mich loszureißen, aber er war zu stark. Sofort wusste ich, wer es war. Yuji Murai. Er war eine Klasse über mir und er war Vertrauensschüler der Oberstufe. Wenn irgendwo ein Streit herrschte, war er sofort zur Stelle. Wie er das immer wieder schaffte, war mir immer noch ein Rätsel. „Lass mich los!“, brüllte ich, „dieser blöde Arsch hat noch nicht genug!“ Ich trat wild um mich herum und traf mit dem Fuß einen Stuhl, der zu Boden knallte. Yuji zerrte mich unbeeindruckt aus der Klasse und knallte mich mit voller Wucht gegen die Wand. „Du kleiner Rotzbengel! Immer musst du dich prügeln!“ Ich rang nach Luft und grinste ihm nur frech entgegen. Er spielte seine Rolle so gut. „Wisch dir dein dämliches Grinsen aus dem Gesicht, du Pisser“, meinte er noch zu mir, bevor er mich an der Kehle packte. „Du wirst dich beherrschen, verstanden?“ Ich wusste genau, dass er nicht eher ging, bis ich ihm gehorchte. Also nickte ich widerwillig und er ließ mich endlich los. Kapitel 2: Ein Augenblick voller Glück -------------------------------------- Nach der Schule wartete ich am Tor des Mädchendistrikts auf Ayumi. Während ich da stand, fuhr ich mir mit der Hand über meine schmerzende Kehle. Der Kerl hatte extrem fest zugepackt. Dieser verdammte Arsch. Das würde ich ihm noch heimzahlen. „Hyde!“ Mein Blick wanderte zu dem Mädchen, das nach mir rief. Ayumi kam die Treppe hinunter, wie immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Sie hatte stets ein fröhliches Gemüt und war der liebste Mensch, den ich kannte. Des Öfteren fragte ich mich, wie sie dieses Lächeln nach alldem, was geschehen ist, bewahren konnte. Dennoch durfte man sich von ihrer reizenden, engelhaften Art nicht täuschen lassen. Sie konnte ausgesprochen direkt sein und schimpfte mit mir, wenn ich mich mal wieder wie ein Idiot verhielt. Ich bemerkte nicht sofort, dass sie nicht alleine war. Ein anderes Mädchen trat hinter ihr hervor, als sie mich erreichten. „Hyde, das ist Kumi Utada. Sie geht in meine Klasse.“ Kumi verbeugte sich höflich, während ich die beiden verständnislos anstarrte. Mich interessierte es nicht im geringsten, wer dieses Mädel war, aber ich kam nicht umhin, sie kurz in Augenschein zu nehmen. Sie hatte dieselbe Größe wie Ayumi, schulterlanges, glattes Haar, weiche Gesichtszüge und volle Lippen. Mir kam sogar kurz der Ausdruck „hübsch“ in den Sinn. Aber verglichen mit Ayumi war sie eher unscheinbar. Ich wandte meinen Blick von Ayumis Freundin ab und sah fragend zu meiner Schwester, die mich über beide Ohren angrinste und komische Gesten in Richtung ihrer Freundin machte. Ich stand mal wieder auf dem Schlauch und verstand nicht, was dieses merkwürdige Zucken von meiner Schwester zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich irgendein Zeichen in der Mädchensprache, das niemand von meinem Geschlecht verstand. Leider wurde ich das dumme Gefühl nicht los, dass hier etwas faul war. Als keiner was sagte, ergriff wieder Ayumi das Wort. „Kumi wollte dich etwas fragen“, meinte sie und stieß ihre schüchterne Freundin leicht an, damit diese endlich das Wort ergriff. Diese warf Ayumi einen hilflosen Blick zu, räusperte sich und fing an zu stottern. „Eh, also, hättest du vielleicht Lust...“ Ach, daher wehte also der Wind! Bevor sie ihren Satz beenden konnte, würgte ich sie ab. „Nö.“ Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Und so unsensibel wie ich manchmal war, fügte ich hinzu: „Kein Interesse.“ Ich wandte mich ab, schwang mir die Schultasche über die Schulter und ging Richtung Schultor. „Komm Ayumi!“ Ich hörte, wie sich Ayumi bei ihrer Freundin entschuldigte und mir dann hinterher lief, während ich unbeirrt weiter stampfte. „Warum warst du so unhöflich?“, Ayumis aufgeregte Stimme ließ mich fragend die Augenbrauen heben. „Unhöflich? Ich war nur ehrlich. Ich habe nun mal kein Interesse.“ „Aber du hast sie doch nicht mal ausreden lassen. Du weißt doch gar nicht, was sie von dir wollte!“ Ich blieb stehen und sah zu meiner Schwester, dessen Wangen vor Aufregung gerötet und ihre Lippen zusammen gepresst waren. „Sag mal, willst du mich etwa verkuppeln?“ Ayumi wurde rot, weil ich sie sofort durchschaut hatte. „Nein!“, antwortete sie viel zu schnell für meinen Geschmack. Ich sah sie prüfend an und merkte, wie sich ihre Wut langsam in Rauch auflöste. „Na gut...“, meinte sie resigniert, „aber was ist so schlimm daran? Kumi findet dich total süß und sie hat mich gebeten, euch vorzustellen!“ Ich sah sie skeptisch an und seufzte. „Lass es einfach das nächste Mal.“ Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und wir setzten unseren Weg fort. Mir stieg ihr unverkennbarer Duft in die Nase. „Aber wieso das denn?“, meinte sie verständnislos und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Ayumi ließ nicht so schnell locker. „Kumi ist hübsch, schlau und sie mag dich, was sehr schwer zu verstehen ist bei deinem miesen Charakter...“ „Bitte was? Wer soll einen miesen Charakter haben?“ Ich sah sie gespielt empört an, während sie frech vor sich hin grinste. Meine Hand fand einen Weg unter ihren Arm und fing an, sie mitten auf der Straße zu kitzeln. Ayumi schrie vor Schreck auf und ergriff die Flucht. Ich ließ ihr einen kleinen Vorsprung und lief dann hinter ihr her. Sie war schnell, aber nicht schnell genug, denn das Kleid, was sie anhatte, hinderte sie daran. Ich jagte sie über eine Wiese im Park. Meistens nahmen wir diesen Weg nach Hause. Als ich Ayumi erreichte, schlang ich meinen Arm um ihre Taille und wirbelte sie herum, sodass wir lachend auf die grüne Fläche fielen. Das saftige Gras dämpfte unseren Aufprall etwas ab. Sie landete auf dem Rücken, ich über ihr, und wir lachten wie kleine Kinder, unbeschwert und aus tiefstem Herzen. Für einen Augenblick vergaßen wir alles um uns herum. Es gab nur diesen Augenblick, einen Augenblick voller Glück. Ich betrachtete sie und entdeckte Gesichtszüge, die den meinen glichen. Nur ihre See grünen Augen unterschieden sich von meinen. Doch manchmal, wenn die Sonnenstrahlen sich in meinen Augen brachen, konnte man einen grünen Schimmer darin entdecken. Das hatte mir zumindest Ayumi irgendwann erzählt. Ich lehnte meine Stirn kurz gegen ihre und schloss für einen Moment die Augen. Irgendwann würde ich uns von hier fortbringen. Ich wusste zwar nicht wie, aber ich gab innerlich ein Versprechen ab. Das konnte nicht unser Schicksal sein, so jämmerlich zu enden. War das etwa gerecht? Wenn es einen Gott gab, dann war er ganz schön grausam, wenn er so etwas zuließ. Vielleicht hatten wir etwas Schreckliches in unserem früheren Leben getan und mussten jetzt dafür büßen? Nein, diese Gedanken waren einfach lächerlich. Es gab keinen Gott, keine höhere Macht, die dafür verantwortlich war. Es gab keine Gerechtigkeit auf dieser Welt. Ich löste mich von Ayumi und setzte mich aufrecht hin. Mein Blick wanderte gen Himmel. Wenn ich nach meinem Tod doch auf den Schöpfer treffen sollte, würde ich ihm in den Arsch treten. Kapitel 3: Die Geschichte von Hänsel und Gretel ----------------------------------------------- „Ich will nicht nach Hause“, murmelte Ayumi unvermittelt und riss mich aus meinen deprimierenden Gedanken. Sie streckte ihre Hand zum Himmel aus, um die Augen vor der blendenden Sonne zu schützen. Die Sonnenstrahlen stahlen sich zwischen ihren Fingern hindurch und trafen sanft ihre milchweiße Haut. Ich betrachtete kurz ihr besorgtes Gesicht. Auch ich wollte  nicht nach Hause, aber wohin sollten wir sonst gehen? Ich hatte oft überlegt mit ihr wegzulaufen. Hatte sogar Geld von unserem Vater und unserer Stiefmutter gestohlen. Doch als Stiefmutter es rausgefunden hatte, schlug sie meine Hände blutig. Vater hatte sich zu der Zeit schon längst nicht mehr für uns interessiert, sodass uns eine Standpauke erspart blieb. Ich erinnere mich noch an seinen resignierten Blick, als hätte er bereits alle Hoffnung in uns und die Welt aufgegeben. Selbst wenn ich ihm meine blutenden Hände vors Gesicht gehalten hätte, würde er sich nur stumm und desinteressiert abwenden. „Du wirst mich doch beschützen, Hänsel?“ Ayumis Stimme klang wie aus einer fernen, längst vergessenen Zeit. Fast hätte ich sie überhört. Ich senkte meinen Blick und verspürte auf einmal eine lähmende Angst, die meine Kehle zuschnürte. „Immer, Gretel. Immer.“ Es war eine Art Spiel, das wir früher als Kinder oft gespielt hatten, und das auf dem Märchen von den Brüdern Grimm beruhte. Es handelte von zwei Geschwistern, die auf Geheiß ihrer bösen Stiefmutter im Wald ausgesetzt wurden. Verzweifelt versuchten sie den Heimweg zu finden, doch fanden stattdessen ein Knusperhaus, in das sie von der bösen Hexe hineingelockt wurden. Zunächst war diese freundlich und gab den Kindern Essen und einen Schlafplatz, doch es stellte sich bald heraus, dass sie die beiden auffressen wollte. Letzten Endes konnten die Kinder sich retten und fanden schließlich einen Weg nach Hause. Ayumi sah eine Verbindung zwischen dem Märchen und unserem Leben. Wir hatten auch eine böse Hexe als Stiefmutter, Masami. Meine richtige Mutter ist bei meiner Geburt verstorben, ich hatte sie nie kennengelernt. Vater sprach nie über sie. Am Anfang wollte ich alles über sie erfahren. Wie sie war, wie sie aussah. Ich hatte nicht einmal ein Foto von ihr. Aber irgendwann war ich es leid, Vater danach zu fragen. Ein Jahr nach Mutters Tod hatte Vater Masami geheiratet. Sie kam aus einer mittelständischen Familie und so weit ich wusste, sollte Vater sie von Anfang an heiraten. Meine Großeltern waren sehr traditionell gewesen und hatten diese Hochzeit arrangiert. Was genau schief gelaufen ist, wusste ich nicht. Aber ich konnte mir schon denken, dass meine richtige Mutter der Grund dafür war. Ein weiteres Jahr später kam Ayumi zur Welt, doch war sie nicht die leibliche Tochter meiner Stiefmutter, sondern die Tochter einer Affäre mit einer ausländischen Bediensteten. Diese verschwand unmittelbar nach Ayumis Geburt und man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Ich war noch klein, als das alles geschah und wusste von diesen Ereignissen nur deswegen, weil die Angestellten in unserem damaligen Haus hinter versperrten Türen tuschelten und tratschten. Die böse Hexe Masami hatte selbst keine eigenen Kinder. Natürlich hatte sie welche gewollt, aber der liebe Gott hatte sie nicht mit Kindern gesegnet. Vielleicht rührte daher ihre Verbitterung. Und somit hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, mich und vor allem Ayumi zu quälen. Stiefmutter hasste Ayumi am meisten von uns beiden, denn ich war schon vor Stiefmutter da, Ayumi dagegen war die Frucht einer Affäre. Das führte Masami immer wieder vor Augen, dass sie keine eigenen Kinder haben konnte und dass ihr Mann sie letztendlich mit einer niederen Angestellten betrogen hatte. Stiefmutter nutzte jede Kleinigkeit als Anlass, um sie zu demütigen und ihre Wut und Verzweiflung an ihr auszulassen. Doch ich versuchte Ayumi so gut es ging zu beschützen, wodurch ich meistens mehr abbekam als sie. Vater hatte am Anfang dagegen gehalten, doch nachdem er seinen Job und das meiste seines Vermögen verloren hatte, war er in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen, das seine Lebenskraft und seine Anteilnahme verschlang. Er hatte kaum Kraft morgens aus dem Bett zu kommen, geschweige denn sich um seine Kinder zu kümmern. Darum blieb es an mir, wenigstens die Rolle des Beschützers zu übernehmen. Ayumi hatte sich damals in ihre Fantasie geflüchtet und uns beiden die Namen der Protagonisten gegeben. Ich war Hänsel und Ayumi war Gretel. Schon damals hatte ich mich als Beschützer gesehen. Ich war älter als sie und ein Junge. Ich musste auf sie aufpassen, es war meine Pflicht. Jemand  musste sie vor unserer bösen Stiefmutter beschützen. Ironischerweise war das im Märchen genau anders rum. Hänsel wurde in einen Käfig eingesperrt und gemästet, damit die Hexe ein saftiges Festmahl bekam. Gretel hatte die Hexe überlistet und in den Ofen geschubst, in dem sie elendiglich verbrannte. In Ayumis Spiel hätte ich Gretel sein müssen, dachte ich zynisch.   Schweigend verbrachten wir noch ein wenig Zeit auf der Wiese und genossen die Ruhe und die Freiheit, die uns nur hier draußen vergönnt war, bevor wir uns auf den Weg nach Hause machten. Ayumi ergriff meine Hand, als wir uns dem Hochhaus näherten. Nachdem Vaters Firma pleite gegangen war, mussten wir aus dem großen Haus unserer Kindheit ausziehen und uns eine Wohnung suchen. Wir fanden in einem kleinen Appartement unser neues Zuhause. Zuhause. Es war eher ein Käfig, in dem man unsere Flügel nach und nach stutzte und aus dem es kein Entrinnen gab. Ein Zuhause im herkömmlichen Sinne würde es niemals geben. Nicht hier. Nicht für uns. Ich erwiderte leicht ihren Händedruck und wappnete mich innerlich gegen das, was auf uns zukommen würde. Innerlich errichtete ich eine Mauer, die mich vor allem schützen sollte. So war es auf jeden Fall leichter. Doch selbst nach all den Jahren schwand mein Mut, wenn es hieß nach Hause zu gehen. Kapitel 4: Trautes Heim ----------------------- Ich öffnete die Tür zu unserem kleinen Appartement, das gerade mal für 4 Personen ausreichte und betrat mit Ayumi den Flur, wo wir unsere Schuhe auszogen und in die Hausschuhe schlüpften. Man konnte leise den Fernseher hören. Vielleicht würde man unser Erscheinen gar nicht so schnell bemerken und wir könnten ungesehen auf unseren Zimmern verschwinden. Doch dieser Gedanke blieb nur ein unerfüllter Wunsch. „Oh, da seid ihr ja endlich!“, trällerte Masami mit ihrer engelsgleichen Stimme. Masami Shinya, unsere Stiefmutter. Das Bildnis einer wunderschönen Frau mit dem Herzen eines Teufels. Wie konnte jemand äußerlich so schön und innen nur so hässlich und verdorben sein? Wie ein roter saftiger Apfel gefüllt mit Würmern. Ein Scherz der Natur. „Wo seid ihr so lange gewesen? Das Essen ist schon kalt!“ Ayumi trat einen Schritt hinter mich und krallte sich an den Saum meines T-Shirts. Ich konnte ihre Angst förmlich spüren. Selbst jetzt noch, nachdem wir fast erwachsen waren, jagte Masami ihr Angst ein. Ich sah das verrückte Glitzern in Masamis Augen, als sie Ayumis verängstigte Reaktion bemerkte. Mit einem überlegenen, selbstgefälligen Grinsen, das ihre roten Lippen umspielte, beobachtete sie amüsiert die Szenerie. „Nun steht nicht so im Eingang rum. Kommt essen.“ Sie wandte sich ab und ließ uns alleine im Flur stehen. Ich tauschte mit Ayumi einen kurzen Blick aus und wir folgten Masami widerwillig ins Esszimmer. Sie spielte gerne die Vorzeigemutter, bis sie irgendeinen Grund fand, uns fertig zu machen. Wir setzten uns schweigend an den Tisch, während sie daneben stand und uns abwechselnd ansah. „Na, was ist? Wollt ihr nicht essen?“, sagte sie mit vorwurfsvoller Stimme und stemmte ihre Hände in die Hüften. Unser Verhalten sollte sie eigentlich nicht wundern. Nachdem sie uns einmal irgendein Mittel ins Essen getan hatte, genossen wir die Mahlzeiten mit Vorsicht. Danach lagen wir eine ganze Woche krank im Bett. Als Vater das herausfand, hatte er ihr gedroht, sie rauszuwerfen und sich sogar von ihr zu scheiden. Das war das einzige Mal, dass er sie so einschüchtern konnte. Nach dieser Schelte hatte sie so etwas Widerwärtiges nie wieder getan. Jedoch fand sie stets neue Möglichkeiten uns das Leben zur Hölle zu machen. Da ich dieses Possenspiel so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte, probierte ich die Suppe. Ich warteten einen Augenblick ab, ob mir schlecht wurde, aber nichts geschah. Wenn ich den Vorkoster spielte, konnte ich wenigstens Ayumi vor einem Unglück bewahren, falls mit dem Essen etwas nicht stimmte. Mein Blick glitt zu meiner Schwester, die ihren Löffeln zitternd in der Hand hielt. Wenn Masami in der Nähe war, wurde Ayumi wieder zu einem kleinen, verängstigten Mädchen. Es war nichts mehr von ihrer Lebensfreude oder ihrem Selbstbewusstsein, das sie an den Tag legte, zu spüren. Ihr Lächeln erstarb, ihr Blick wurde leer. Sie verwandelte sich in eine seelenlosen Puppe, die unfähig war selbstständig zu handeln. „Was ist? Du willst nicht?“, fragte Masami düster. Die Stimmung wurde angespannter. „Ich stand den ganzen Tag am Herd und hab für euch Gören gekocht! Und so dankst du es mir, du undankbares Flittchen?!“ Mit einer Handbewegung schleuderte sie den Teller, der vor Ayumi stand, vom Tisch. Ayumi wich erschrocken zurück und ich erhob mich rasch, für den Fall, dass Masami auf die dumme Idee kam, meine Schwester anzurühren. Als Kind konnte ich mich schlecht wehren, aber jetzt war ich älter und stärker. Und das wusste Stiefmutter auch. „Danke für das Essen, Mutter“, sagte ich höhnisch und zog Ayumi, die immer noch wie gelähmt da saß, vom Stuhl.   Am Abend putzte ich mir die Zähne und ließ die Ereignisse der letzten Stunden Revue passieren. Wir waren vor Masamis Übergriffen nie sicher. Auch wenn wir nichts taten, verdrehte sie die Tatsachen solange, bis wir die Schuldigen waren. Wie lange mussten wir das noch ertragen? Glücklicherweise hatte sie uns nach dem missglückten Mittagessen in Ruhe gelassen. Vater arbeitete heute länger und kam erst vor kurzem nach Hause. Seit langem kam er nicht mehr zu mir, um mich zu begrüßen oder sich zu erkundigen, wie mein Tag gelaufen war. Wie es seinem Sohn oder seiner Tochter erging, war ihm anscheinend nicht mehr so wichtig.Vater des Jahres würde er also schon mal nicht werden. Ich vernahm ein dumpfes Klopfen an der Badezimmertür, gefolgt von einem leisen: „Hyde?“ Ich tapste zur Tür, schloss auf und ließ Ayumi eintreten. Dann ging ich wieder zum Waschbecken, um meinen Mund auszuspülen. Hinter mir verschloss sie wieder die Tür. Ayumi trat an meine Seite, um sich ebenfalls die Zähne zu putzen. Schweigend standen wir nebeneinander, jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Unsere Blicke trafen sich kurz im Spiegel, doch sie schien durch mich hindurchzusehen. Nachdem wir fertig waren, wusch ich mir noch schnell das Gesicht. Plötzlich spürte ich eine leichte Berührung auf meinem nackten Rücken. Ayumi ließ ihre Finger über meine Narben gleiten. Eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Ein Teil von mir wollte sie von sich stoßen, da sie mit ihrer unschuldigen Berührung die Erinnerung an den Ursprung dieser verfluchten Male weckte. Ich musste mich beherrschen, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als solange auszuharren, bis sie sich zurückzog. „Das ist alles nur meinetwegen...“, murmelte sie mit einer brüchigen Stimme, den Tränen nahe. Ich wandte mich zu ihr um und legte ihr behutsam meine Hände auf die Schultern, während sie krampfhaft versuchte gegen ihre Tränen anzukämpfen. „Hör auf damit, Ayumi.“ Ich hasste es, wenn sie sich die Schuld gab. „Die einzige Schuldige ist diese böse Hexe.“ Und Vater, fügte ich in Gedanken hinzu, sprach es jedoch nicht laut aus. Meistens reichten wenige Worte aus, um Ayumi zu beruhigen, aber heute gab sie sich mit meinen tröstenden Worten nicht zufrieden. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. „Nein, Hyde! Diese Schläge... sie waren für mich bestimmt. Sie hasst mich... aus tiefstem Herzen. I-ich sollte diejenige sein, deren Rücken so-so...“ Ihre Stimme brach und ein Schluchzen entwich ihr. Ohne darüber nachzudenken, fuhren meine Hände über ihren makellosen Rücken, der unter ihrem Nachthemd verborgen lag. Darunter spürte ich deutlich ihre zierliche Gestalt. Ich habe sie vor diesen Schlägen und diesen Narben bewahrt, und das machte mich auf eine Art und Weise sehr glücklich. „Es ist gut so, hörst du? Ich habe versprochen, dich zu beschützen. Und wenn es sein muss, werde ich noch mehr Schmerzen ertragen. Hauptsache du bleibst unversehrt.“ „Hyde...“ Nun brach sie vollkommen in Tränen aus. Hilflos stand ich da und hielt sie einfach nur fest, bis sie sich einigermaßen beruhigte. „Lass uns schlafen gehen“, schlug ich vor und drückte sie sanft von mir. Sie wischte sich die Tränen weg und fragte nebenbei, ob sie diese Nacht nicht bei mir schlafen konnte. Ihre Frage überraschte mich nicht. Ayumi schlief oft bei mir, weil sie sich sicherer fühlte. Ich nickte zustimmend und wir gingen in mein Schlafzimmer, das sich direkt neben dem Badezimmer befand.   Ich konnte lange nicht einschlafen und starrte wie hypnotisiert die Zimmerdecke an. Während ich so dalag und versuchte einzuschlafen, erinnerte ich mich an jenen Nachmittag, als nicht ich Ayumi sondern sie mich beschützt hatte. Damals gingen wir noch zur Grundschule. Zu der Zeit spielte ich ziemlich gern Fußball. Ich trainierte überall, wo es nur ging. Sogar zu Hause. Damals hatte ich eine wertvolle Vase zerbrochen und zog Masamis Zorn auf mich. Das war das erste Mal, dass sie die Hand gegen mich hob. Ich weiß gar nicht mehr genau, woher auf einmal Ayumi auftauchte. Doch plötzlich stand sie zwischen uns, sodass Masamis Ohrfeige Ayumi so hart im Gesicht traf, dass ihre Lippe aufplatzte und blutete. Genau, jetzt wusste ich es wieder. An diesem Tag schwor ich mir, Ayumi zu beschützen. Das hatte ich schon fast vergessen... Ayumis leiser Atem verriet mir, dass sie bereits schlief. Hoffentlich würde sie heute Nacht keine Alpträume haben. Das Böse holte einen gern in seinen Träumen ein. Ich drehte mich auf die Seite und betrachtete meine schlafende Schwester.   Kapitel 5: Qualvolle Eifersucht ------------------------------- Am nächsten Tag auf dem Weg zur Schule trafen wir Yuji Murai. Genau, es war derselbe Yuji Murai, der mich gestern von meinem Mitschüler weggezerrt und mich an der Kehle gepackt hatte. Er war Vertrauensschüler der Oberstufe und mein bester Freund. Wir lernten uns vor Jahren kennen, als ich neu auf die Schule kam. Ich kannte niemanden und meine robuste Art erschwerte es mir, Freundschaften zu schließen. Yuji war der einzige, der sich davon nicht abschrecken ließ. Ich war schon damals in irgendwelche Prügeleien verwickelt, selbst vor Älteren wich ich nicht zurück. Du bist doch selten dämlich!, hatte er oft genug zu mir gesagt, beherrsche dich endlich mal! Kannst dich doch nicht immer prügeln, du Spinner! Es war leichter gesagt als getan. Mein Mangel an Beherrschung brachte mich schon öfters in heikle Situationen, doch stets war Yuji zur Stelle, bevor es richtig eskalieren konnte. Yuji drängte sich zwischen mich und Ayumi und legte meiner Schwester den Arm um die Schulter. „Guten Morgen, meine süße Ayumi“, säuselte er ihr beinahe ins Ohr. Wie ich diesen Kerl manchmal hasste! Er wusste ganz genau, dass ich es nicht leiden konnte, wenn irgendein Lackaffe sich an sie ranschmiss. Selbst wenn es sich dabei um meinen besten Freund handelte. Ich machte da keine Ausnahmen. Außerdem war Yuji der größte Frauenheld, den ich kannte, also sollte er seine Finger gefälligst von ihr lassen und sich ein anderes Opfer suchen. Doch trotz meines Einwands ließ er nichts unversucht, um Ayumi näher zu kommen, wahrscheinlich genau deswegen, weil er wusste, dass es mich störte. Dieser verdammte Süßholzraspler. Er wollte mich doch nur auf die Palme bringen und ich, Idiot, fiel jedes Mal darauf rein. „Guten Morgen, Yuji-Sempai“, erwiderte Ayumi lächelnd. Ihre liebevolle Art verunsicherte mich nicht, denn sie war zu jedem stets freundlich und höflich. Kaum zu glauben, dass sie nach allen Erlebnissen ihre Freude beibehielt. Außerdem war sie nicht so einfach gestrickt wie die meisten Hühner und fiel nicht auf solches Gesülze herein. „Du siehst wie immer bezaubernd aus. Wie ein Engel“, schmeichelte mein Freund. Genervt rollte ich mit den Augen und sah missmutig zur Seite. Der konnte einem ja echt die Laune verderben. Jeden Morgen dieselbe Leier. Am liebsten hätte ich ihm sein Maul gestopft, aber Yuji war stärker als ich. Ich würde gegen ihn hochkant verlieren, hatte es oft genug versucht. Ayumi lachte leise. „Du Schmeichler. Hast du noch nicht genug Frauenherzen erobert?“ Ich war stolz auf sie, dass sie sich von seinen einfallslosen Sprüchen nicht einlullen ließ so wie die ganzen anderen Weiber, die Yuji meines Wissens nach abgeschleppt hatte. Doch wie ich Yuji kannte, gab er nicht so schnell auf. Er zog sie enger an seine Seite. „Deines aber noch nicht.“ „Wirst du auch nicht.“ „Du brichst mir das Herz.“ „Ach ja? Hast du etwa eins?“ Yuji lachte. „Ich mag deine abweisende Art. Aber dir würde ich niemals das Herz brechen. Lass uns mal ausgehen. Du wirst es nicht bereuen.“ „Jetzt reicht's aber“, mischte ich mich ein und packte Yuji am Kragen. „Willst du aufs Maul?!“ Yuji sah mich mit seinem überheblichen Grinsen an und zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Versuch's doch, du halbe Portion.“ Ayumi löste sich derweil geschickt aus Yujis Umarmung. „Ihr seid wirklich wie kleine Kinder! Mit solchen gehe ich ganz bestimmt nicht aus.“ Sie streckte uns die Zunge raus und lief voraus. „Was soll'n der scheiß?“, fauchte ich Yuji an, als Ayumi außer Hörweite war. Er kannte mich lang genug, um zu wissen, wie ich darauf reagierte, wenn jemand versuchte mit meiner Schwester zu flirten. Freund hin oder her, ich würde ihn umbringen, wenn er so weitermachte. „Ich weiß nicht, was du meinst“, entgegnete Murai, löste sich geschickt aus meinem Griff und trat an mir vorbei. Seine arrogante Art regte mich manchmal richtig auf. Was bildete er sich überhaupt ein? Nur weil er eine Klasse über mir war und zu den Vertrauensschülern gehörte, musste er sich nicht wie ein aufgeblasener Affe aufführen. Dem würde ich's zeigen. „Hey, bleib stehen, ich bin noch nicht fertig mit dir!“ Yuji reagierte nicht, sondern ging unbeirrt weiter. Als ich ihn wieder packen wollte, kam er mir zuvor und verdrehte schmerzvoll meinen Arm. „Entspann dich, Hyde. Deine Schwester kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Sonst hätte sie mich schon längst rangelassen. Oder jemand anderen.“ Ich verzog schmerzvoll mein Gesicht. „Rede nicht so über sie!“ Stimmte das wirklich, was Yuji sagte? Hatte Ayumi einfach kein Interesse an diesen Geiern? Oder lag es doch nur daran, weil ich jeden Verehrer vergraulte? „Oder bist du etwa eifersüchtig?“, meinte Yuji plötzlich und ich sah ihn perplex an. Was laberte er da? Eifersüchtig? Es dauerte einen kleinen Moment, bis Yujis Worte in mein Bewusstsein vordrangen und ich deren Bedeutung begriff. Mit einem Mal fühlte ich mich unwohl in meiner Haut. Unfähig etwas zu erwidern, versuchte ich ihm mit meiner freien Hand eine reinzuhauen, doch Yuji wehrte meinen versuchten Angriff mit einem Lachen ab. „Du bist eifersüchtig!“ Nein, es war unmöglich... Ich hatte nie etwas gesagt oder getan, was meine Gefühle offenlegte. Mir wurde ganz schwindlig. Ja, gar übel. Es sollte nie jemand erfahren, es sollte mein dunkles Geheimnis bleiben, das ich ins Grab nehmen wollte. „Ich hätte es schon längst bemerken sollen“, meinte Yuji, nachdem er mich näher an sich heran gezogen hatte und mir direkt in die Augen starrte. Ich schluckte, erwiderte jedoch seinen Blick und wich nicht zurück. „W-was redest du für'n Müll?“, brachte ich stammelnd hervor. Murais Grinsen beschleunigte meinen Herzschlag. „Du stehst auf mich.“ Ich war sprachlos. Was?! Plötzlich fiel ich aus allen Wolken. Während er mit den Wimpern klimperte, wurde mir augenblicklich klar, dass er mich die ganze Zeit verarschte. Wütend stieß ich ihn von mir. „Ist ja ekelhaft“, knurrte ich, während er nur teuflisch lachte. Schön, dass wenigstens er seinen Spaß hatte. „Sei nicht eingeschnappt. War doch nur'n Witz“, beschwichtigte er und legte seinen Arm um meine Schulter, „aber jetzt mal im Ernst.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Irgendwann wird Ayumi einen Freund haben, ob du es nun willst oder nicht. Und je früher du dich mit diesem Gedanken anfreundest desto besser.“ Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er solle seine Fresse halten, doch ich wusste, dass er Recht hatte. Die Sache war nur wesentlich komplizierter. Ich wollte mich mit dieser Tatsache einfach nicht anfreunden.   Ayumi war bereits auf dem Schulhof und unterhielt sich mit dem einen Mädchen von gestern. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal mehr ihren Namen, aber auf einmal überkam mich die Lust mich ein wenig zu amüsieren. Warum auch nicht? Sie sah passabel aus und ich war schließlich ein Kerl. Ich brauchte nun mal ab und zu Sex, daran war nichts Verwerfliches. Ich öffnete ganz schnell meine Tasche, riss aus einem Heft eine kleine Ecke ab und kritzelte eine Nachricht darauf. Dann faltete ich ihn zusammen und trat zu Ayumi und ihrer Freundin. „Guten Morgen“, grüßte ich und schenkte dem Mädchen das netteste Lächeln, was ich zu bieten hatte. Während sie mich mit einem schmachtenden Blick bedachte und kaum ein Wort herausbekam, steckte ich ihr so unauffällig wie möglich den Zettel in ihre halboffene Schultasche. Wenn das kein glücklicher Zufall war. „Seid fleißig und bis nachher.“ Ich zwinkerte dem Mädchen zu und sah kurz zu Ayumi, die mich schon die ganze Zeit so skeptisch musterte. Ihr musste meine liebenswerte Art verdächtig vorkommen. Tja, damit gab ich ihr zu denken. Sie wollte mich schließlich mit ihrer Freundin verkuppeln. Also sollte sie sich nicht wundern. Ok, ich hatte gesagt, ich hätte kein Interesse, aber... nun hatte ich meine Meinung doch geändert. Was war schon dabei? Ich sah meiner Schwester an, dass sie mich brennend auf dieses Thema angesprochen hätte, doch bevor sie es tun konnte, eilte ich davon.   Ihre Lippen schmeckten süß, genauso wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich biss hinein und drängte mich enger an sie. Ihr entwich ein leises Stöhnen und ich drückte ihr meinen Zeigefinger auf die Lippen. „Pscht, du musst leise sein. Sonst werden wir noch erwischt.“ Ich meinte es vollkommen ernst, dennoch ließ sich ein Grinsen nicht vermeiden. Es hatte schon seinen Reiz in der leeren Bibliothek rumzumachen. Jeden Moment könnte jemand reinkommen und uns erwischen, aber während des Unterrichts war selten jemand hier. Die Gefahr war also gering, dass uns jemand sah. Aber wenn sie lauter wurde, war das durchaus möglich. Meine Hände wanderte unter ihre Bluse und ihren BH und umfassten ihre Brüste. Ich war gierig und würde mir alles nehmen, was sie mir bot. Ich musste gestehen, dass ich sie für prüde gehalten hatte. Aber das war sie ganz und gar nicht. Sonst hätte sie sich darauf nie eingelassen, oder? Sie hatte meinen Zettel in der Tasche entdeckt, auf dem stand, dass ich mich in der dritten Unterrichtsstunde hier mit ihr treffen wollte. Ich war mir nicht sicher, ob sie den Unterricht tatsächlich schwänzen würde, umso überraschter war ich, als sie es dann doch tat. Sie war wohl neugierig gewesen zu erfahren, warum ich sie hierher bestellt hatte. Und als ich sie dann geküsst hatte, ist sie sofort darauf eingegangen. So eine kleine Heuchlerin. Tat auf unschuldig und schüchtern, dabei war sie vollkommen verdorben. Meine Zunge drängte sich in ihren Mund und wir küssten uns wild und innig. Während es zwischen uns heiß her ging, merkten wir gar nicht, wie jemand die Bibliothek betrat. Selbst wenn wir gelauscht hätte, die Person war einfach zu leise. Plötzlich hörte ich, wie jemand meinen Namen flüsterte. Ich sah zur Seite und entdeckte zwischen den Regalen mit Büchern ein entsetztes Augenpaar, das mich anstarrte. Es dauerte einen Moment bis ich realisierte, wer es war. Doch bevor ich mich von Kumi lösen konnte, mittlerweile kannte ich ihren Namen, stürzte die Person bereits aus dem Raum. „Verflucht...“, zischte ich und löste mich von meiner heißen Partnerin. „Wo willst du hin?“, fragte Kumi entgeistert, „du lässt mich doch jetzt nicht einfach stehen!?“ Sie sah mich fragend an und streckte ihre Arme wieder nach mir aus, die ich leicht zur Seite stieß. Da, wo gerade noch solches Verlangen loderte, war auf einmal Leere. Mit einem unverwandten Blick sah ich sie an. Dann wandte ich mich zum Gehen. „Warte! W-was soll das?! Ich... ich dachte, du magst mich!“ Ich blieb kurz stehen. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich ihre verletzte, zerbrechliche Gestalt, wie sie den Tränen nahe war. Doch es berührte mich nicht. „Dich? Die so leicht zu haben ist und sich mir gleich bei der ersten Gelegenheit anbietet?“ Ich gab einen verächtlichen Laut von mir und kehrte ihr erneut den Rücken zu. „Billige Mädchen mag keiner.“ Ich verließ nun eilig die Bibliothek und sah mich suchend um. Ayumi hatte uns gesehen. Bei dem Gedanken wurde mir ganz anders. Ich sah mich hektisch um und erblickte sie gerade noch am Ende des Flures, wie sie um die Ecke bog. Ich sprintete los, um sie einzuholen. Ehrlich gesagt, war mir die ganze Sache ziemlich unangenehm. Ich hatte nicht gewollt, dass ausgerechnet Ayumi mich sieht. So sieht. Aber wer hätte gedacht, dass sie um diese Uhrzeit einfach in der Bibliothek auftauchen würde? Ich wollte nicht nach ihr rufen, sonst würden wir noch mächtig Ärger bekommen, wenn man uns während des Unterrichts auf dem Flur erwischte. Mir war das relativ egal. Ich wollte nur nicht, dass Ayumi Probleme bekam. Also gab ich noch ein bisschen mehr Gas und als ich sie erreichte, riss ich sie herum. „Ayumi...“ Ich war ganz aus der Puste. „Du... bist ganz... schön schnell!“ Ich versuchte die Stimmung mit einem Spruch aufzulockern und grinste breit. Doch meine Worte erreichten sie nicht. Sie starrte mich unverwandt an, als würde sie durch mich hindurchsehen. „Ich wollte nur ein Buch holen“, erklärte sie mir, als würde sie sich damit bei mir entschuldigen wollen, dass sie einfach reingeplatzt war. Aber ich spürte, dass sie mich anlog. „Ich hab ja gewusst, dass du was mit Mädchen hast, aber... es zu sehen...“ Ich fuhr mir peinlich berührt durchs Haar und wich ihrem Blick aus. Mir war selten etwas peinlich, aber das... Wie viel hatte sie gesehen? Wie lange stand sie überhaupt da? Ihre Stimme zitterte, ich verstand jedoch nicht warum. Plötzlich sah sie mich an. Sie sah nicht mehr durch mich hindurch, sondern blickte mir direkt in die Augen, direkt in meine Seele. Enttäuschung spiegelte sich in ihrem Blick und ich fühlte mich plötzlich so elend wie noch nie. „Ich dachte, du wärst nicht an ihr interessiert“, sagte sie dann und es klang wie ein Vorwurf. Was sollte das? Warum sah sie mich auf diese Weise an? Warum warf sie mir das jetzt vor? Und warum hatte ich das Gefühl, dass mein kleines Intermezzo mit Kumi Ayumi verletzt hatte? Ich hatte nichts Falsches getan, aber warum fühlte es sich dann genauso an? „Ich bin auch nicht an ihr interessiert“, erwiderte ich und in irgendeiner Weise stimmte das ja auch. „Natürlich bist du das!“, fuhr sie mich plötzlich an, „du hast sie geküsst! Und... noch mehr!“ Perplex sah ich sie an und wusste nichts darauf zu erwidern. So kannte ich sie gar nicht. Sie wusste, dass ich mich mit Mädchen treffe, aber sie hatte sich nie negativ geäußert. „Ayumi...“ Ich machte einen Schritt auf sie zu und streckte meinen Arm nach ihr aus. Ich wusste einfach nicht, was ich ihr sagen sollte. Sollte ich ihr etwa auf die Nase binden, dass ich etwas Spaß brauchte und dass Kumi sich ganz gut dafür geeignet hatte? Ayumi würde das nicht verstehen. Sie war schließlich selbst ein Mädchen und konnte meine Bedürfnisse nicht nachempfinden. Erst als sie meine Hand wegschlug, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ihr vorwurfsvoller, verletzter Blick durchbohrte mich, mein Herz zog sich zusammen. Doch gleich drauf wich meine Verwirrung und an ihre Stelle trat Wut. „Was soll dieses kindische Verhalten?“, bluffte ich sie an und ballte meine Hände zu Fäusten. „Du warst doch diejenige, dich mich mich mit Kumi verkuppeln wollte!“ Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen, und ich wusste, während ich die Worte ausgesprochen hatte, dass ich es bereuen würde. Ich sah das verräterische Glitzern in ihren Augen und meine Wut löste sich auf wie im Rauch. „Ayumi... tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien“, murmelte ich, doch es war zu spät. Sie wandte sich ab und lief davon. Ich sah ihr hinterher und fluchte leise vor mich hin. Ich hatte sie noch nie so angemacht. Aber was zum Teufel war verdammt noch mal los mit ihr?! Kapitel 6: Unter dem Kirschblütenbaum ------------------------------------- Ich schwänzte die nächsten Stunden und verbrachte den restlichen Schultag auf dem Dach des Schulgebäudes. Ich hatte mich hingelegt, die Arme unter meinem Kopf verschränkt, den Blick gen Himmel gerichtet, und sah dem Vorbeiziehen der Wolken zu. Es war ein warmer, sommerlicher Tag, der einem das Gefühl gab, die Welt sei in Ordnung. Befreit von Leid und Grausamkeit. Dass ich Ärger bekommen würde, weil ich den Unterricht versäumte, stand außer Fragen, aber wie sollte ich mich jetzt noch auf den Unterricht konzentrieren? Ich war durcheinander und wütend auf mich selbst, sodass ich ohne Zweifel eine Schlägerei anfangen würde, wenn mir jemand dumm kam. Mir ging das Gespräch mit Ayumi nicht mehr aus dem Kopf. Ich verstand nicht, warum sie so merkwürdig reagiert hatte. Ich konnte zwar nachvollziehen, dass es ihr unangenehm war, aber ihre Reaktion war maßlos übertrieben. Es schien sie auf einmal zu stören, dass ich etwas mit Kumi hatte. Dabei war sie überhaupt diejenige, die mich mit ihr verkuppeln wollte. Mädchen waren dermaßen kompliziert! Allerdings... wie hätte ich wohl reagiert, wenn ich sie mit jemandem erwischt hätte? Ich schob den Gedanken beiseite, weil ich mir nicht vorstellen wollte, wie jemand Ayumi küsste. Ich schloss die Augen und lauschte der Stille, als sich ein Schatten über meine Augen legte. Ich hob mühsam die Lider und sah Murai vor mir aufragen. „Na, du fauler Sack“, meinte Murai und stellte sein Bein auf seinem Brustkorb ab, „solltest du nicht im Unterricht sein?“ Der Druck mit dem Fuß verstärkte sich und ich umfasste ihn, um ihn wegzudrücken. „Sagt der Richtige!“ „Ich mach meine Aufsichtsrunde, du Arschgesicht.“ Die Beleidigungen waren ein Teil unserer Freundschaft, also grinsten wir uns an, er nahm seinen Fuß runter und setzte sich zu mir auf den Boden. Er reichte mir eine kalte Cola. „Woah! Wo hast du die denn her!?“ „Staatsgeheimnis“, sagte er zwinkernd, „nun trink schon. Sonst wird sie warm und schmeckt wie Pisse.“ Ich nahm einen großen Schluck und spürte erst jetzt, wie durstig ich war. „Das tat gut“, sagte ich zufrieden, nachdem ich die Dose leer getrunken hatte. „Hattest du Streit mit Ayumi?“ Diese unerwartete Frage von Murai wischte mir mein Grinsen aus dem Gesicht. „Wie kommst du drauf?“ Yuji zuckte ungerührt mit den Schultern. „Du verkriechst dich immer nach oben, wenn irgendwas ist. Und da ich nichts von einer Schlägerei mitbekommen habe, ist es das Naheliegende.“ Ich beobachtete meinen Freund von der Seite und staunte zum unzähligen Mal darüber, wie gut er mich kannte. Der Wind wehte uns sanft durchs Haar, als wollte er uns liebkosen. Mein Blick wanderte zum Horizont, weit weg in die Ferne gerichtet. Ich spürte, wie sich mein Herz zusammenzog und der Schmerz mir die Luft raubte. Ich stand auf und stellte mich an den Rand des Dachs. Immer noch die Dose in der Hand, breitete ich meine Arme aus. „Was denkst du? Würde der Tod sofort eintreffen, wenn ich mit mit dem Kopf aufschlage? Oder würde ich mich vor Schmerzen winden, bis ich endlich den Löffel abgebe?“ Hinter mir breitete sich Stille aus, sodass es den Anschein hatte, Yuji sei gar nicht mehr da. Doch dann tauchte er in meinem Blickfeld auf. „Hm, schwer zu sagen“, sagte er nachdenklich und blickte nach unten auf den Schulhof, „es ist ganz schön hoch, aber es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass du sogar überlebst.“ Ich wollte nicht wirklich springen und mir das Leben nehmen. Wenn ich das täte, könnte ich Ayumi gleich mit in den Tod reißen. Wer würde denn auf sie aufpassen, wenn ich weg wäre? Ich nahm Sicherheitsabstand von der Kante ein und sah missmutig zu meinem Freund. „Danke für diese Auskunft“, sagte ich zynisch. „Was ist denn? Ich wollte dir nur helfen.“ „Helfen? Du hättest mich einfach springen lassen!“ Murai sah mich mit einer solchen Gleichgültigkeit an, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. „Wenn du wirklich sterben wolltest, dann ja.“ Sprachlos starrte ich ihn an, bis er mich angrinste. „Klang das überzeugend?“ Ich knirschte mit den Zähnen, weil er mich schon wieder reingelegt hatte. „Ich wäre dir hinterher gesprungen, um deinen dummen Arsch persönlich in die Hölle zu befördern. Ist doch Ehrensache.“ „Ach hat doch dein Maul...“   Nach dem Unterricht wartete ich auf dem Schulhof auf Ayumi, aber sie tauchte nicht auf. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen und sah mich suchend nach ihr um. Da erblickte ich Kumi und ging geradewegs auf sie zu, um sie nach Ayumi zu fragen. Man musste kein Genie sein um zu begreifen, dass sie sauer war. Meinetwegen. Aber Ayumi war mir wichtiger und Kumi war grade die einzige Freundin von ihr, die ich sah. „Dass du noch so unverschämt bist und mich überhaupt ansprichst“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „du hast wohl echt kein Schamgefühl.“ Da hatte sie wohl recht. Ich senkte jedoch meinen Blick und versuchte ein schlechtes Gewissen vorzutäuschen. Es schien zu funktionieren. Kumi seufzte und antwortete resigniert: „Ayumi ist vor ein paar Minuten mit Murai weg.“ „Was?!“ Mir blieb das Wort beinahe im Hals stecken. Kumi zuckte ungerührt mit den Schultern. „Du hast richtig gehört. Sie sind bestimmt schon nach Hause gegangen. Ohne dich wie es aussieht. Da fällt mir ein, Ayumi war vorhin voll komisch drauf. Sie hatte geweint, glaub ich. Vielleicht kann sie Murai ja ein wenig trösten.“ Kein einziges Wort kam mir über die Lippen. Als hätte ich mit einem Mal das Sprechen verlernt. Ich wandte mich abrupt um, ohne mich zu bedanken und stürmte über den Schulhof durch das Eingangstor auf die Straße. Hektisch sah ich mich nach meiner Schwester und Yuji um, aber sie waren nicht in Sicht. Ich wusste nicht warum, aber mich überkam ein seltsames Gefühl. Ayumi war noch nie ohne mich gegangen. War sie etwa so sauer auf mich? Ich beschleunigte mein Tempo und kam bei dem Park an, durch den unser Nachhauseweg verlief. Mein Blick huschte hin und her, bis ich die beiden unter einem Kirschbaum entdeckte. Mein Herz raste wie verrückt und ich war außer Atem, aber ich hatte sie eingeholt. „Ayu...“, fing ich grade an, doch hielt plötzlich inne. Murai hatte sie fest an sich gezogen, seine Hand in ihrem langen Haar vergraben. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er sich zu ihr hinabbeugte und sie küsste, um dann noch heftiger zu schlagen. Ich wusste nicht, wie lange ich wie angewurzelt da stand und die beiden beobachtete. Erst als sich Ayumi von Yuji löste und ihn von sich drückte, setzte mein Verstand wieder ein. Meine Schwester und mein bester Freund. Großartig. Ich setzte mich wieder in Bewegung und kam auf die beiden zu, die mitten im Gespräch innehielten und zu mir sahen. Ayumis erschrockener Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass sie nicht mit mir gerechnet hatte. Dachte sie etwa, ich würde sie alleine mit Yuji gehen lassen? Da kannte sie mich aber schlecht. Aber vielleicht hatte sie nur nicht damit gerechnet, dass ich sie auf frischer Tat erwische. Sie senkte verlegen ihren Blick. Spannung breitete sich aus, die deutlich an meinen Nerven kratzte. „Lass uns gehen“, sagte ich ausgesprochen ruhig zu Ayumi, ohne darauf einzugehen, was sich soeben vor meinen Augen abgespielt hatte. „Hyde“, fing Murai an und packte mich am Arm, doch ich riss mich augenblicklich los. „Fass mich nicht an!“ Yuji wich vor mir zurück und hob abwehrend seine Hände. Er warf Ayumi einen kurzen Blick zu, doch sie hielt ihren Blick gesenkt. „Sie ist erwachsen, Hyde“, hörte ich ihn sagen, doch seine Worte klangen wie aus einer anderen Welt, die außerhalb meiner Reichweite war, „sie braucht keinen Aufpasser.“ Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Halt bloß dein Maul. Ich will nichts mehr hören“, zischte ich. Erstaunlicherweise sagte er tatsächlich kein Wort mehr. Sonst hätte das böse geendet. Nicht unbedingt für ihn. Schließlich war er älter und vor allem stärker als ich. Aber das wäre kein Hindernis, um mich mit ihm anzulegen. „Komm, Ayumi“, presste ich hervor, packte Ayumi am Arm und zerrte sie mit mir. Widerstandslos folgte sie. Ich stampfte wütend voraus und zog sie unnachgiebig mit mir. Durch die ganze Aufregung rauschte mir das Blut in den Ohren.  „Hyde“, flüsterte sie nach einer Weile, „Hyde, du... du tust mir weh.“ Ich blieb ruckartig stehen, sodass sie leicht gegen mich stieß, doch ich kehrte ihr weiterhin den Rücken. „Und? Hat's Spaß gemacht, mit Murai rumzumachen?“, sagte ich ungehalten. Ich konnte einfach nicht anders. Mein Mund hatte ein Eigenleben entwickelt und die Worte sprudelten unkontrolliert aus ihm heraus.  Sie antwortete mir nichts darauf und das machte mich nur noch wütender. Ich drehte mich zu ihr um, packte sie an beiden Armen und zwang sie, mich anzusehen. „Ob's dir Spaß gemacht hat, hab ich gefragt!“ Ayumi sah mich unsicher an. Sonst war sie immer so schlagfertig, aber jetzt schwieg sie und sah mich mit ihren großen Augen an. „Warum er, hm? Du weißt, dass er Mädchen wie Unterwäsche wechselt. Willst du eine von seinen Eroberungen sein?“ Ich schnaubte. „Für so dumm hab ich dich nicht gehalten.“ Irgendwie... war ich enttäuscht von ihr. Auch wenn es ihr gutes Recht war, ich... konnte es nicht ertragen. Ja, ich wusste, es war falsch, so zu denken, so zu fühlen. Aber ich hatte doch niemanden außer ihr. Sie war der wichtigste Mensch für mich auf dieser Welt. Ich wollte sie beschützen. Nur das wollte ich. Als ich nicht mehr mit einer Antwort rechnete, fing sie dann doch an zu sprechen. „Ich hatte diesen Zettel zufällig entdeckt...“, murmelte sie mit gesenktem Blick. Ich sah sie fragend an, weil ich nicht verstand, was sie meinte. „Was?“ „Den Zettel... den du Kumi zugesteckt hast. Er fiel ihr aus der Tasche. Sie wollte ihn heimlich lesen, aber da ich hinter ihr sitze, konnte ich die Nachricht überfliegen. Und ich erkannte deine Schrift.“ Erst jetzt hob sie den Blick und sah mich wieder mit ihren ausdrucksvollen meeresgrünen Augen an. „Ich wollte sichergehen, dass du es wirklich bist, dass du ihr diese Nachricht geschrieben hast. Deswegen bin ich ihr gefolgt.“ Jetzt ergab das einen Sinn, warum sie um diese Uhrzeit auch in der Schülerbibliothek war, aber was hatte es mit dem Kuss auf sich? Warum hatte sie Murai geküsst? Wo sie doch heute Morgen noch so widerstandsfähig war. „Aber du wolltest mich doch mit ihr verkuppeln“, sagte ich nun etwas milder, auch wenn ich immer noch nicht verstand, wie der Kuss mit Yuji damit zusammen hing. „Ja... aber ich hätte nicht gedacht, dass...“ Ayumi hielt mitten im Satz inne und schüttelte den Kopf, als hätte sie es sich anders überlegt. „Vergiss das bitte. Ich habe überreagiert.“ Ich wusste nicht, ob ich nachhaken sollte. Sie hatte eindeutig etwas anderes sagen wollen. Ich entdeckte eine verirrte Kirschblüte in ihrem Haar, die wie ein unglückseliges Zeichen an den Kuss unter dem Kirschbaum erinnerte. „Und der Kuss mit Murai?“, fragte ich widerwillig, während ich ihr Haar von der Blüte befreite und sie zu Boden fallen ließ. „Ist es dir ernst mit ihm?“ Ayumi versteifte sich und wich meinem Blick aus. Ich hielt sie immer noch fest, nur diesmal nicht so grob. „Ich ehm... Ich war so durcheinander und... er hat mich getröstet. Dann hat er mich auf einmal geküsst und ich... ich habe es zugelassen", gestand sie, ohne mir dabei ein einiges Mal in die Augen zu sehen. Ihre Worte schnitten wie Messer in meine Haut. Langsam ließ ich sie los. Zum ersten Mal wusste ich nicht, was in ihrem Herzen vorging. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie sich von jemandem einfach küssen ließ. Und was hatte sie überhaupt durcheinander gebracht? Etwa die Sache mit Kumi? Warum? So viele Fragen strömten durch meinen Kopf, auf die ich keine Antwort wusste. „Bist du sauer auf mich, Hyde?“ War ich das? Sie hatte nichts Unrechtes getan und doch ließ der Schmerz in meiner Brust nicht nach. „Nein“, entgegnete ich, ohne selbst zu wissen, ob es der Wahrheit entsprach, „warum sollte ich?“ Schweigen breitete sich zwischen uns aus wie eine tiefe, dunkle Kluft. „Lass uns gehen“, sagte ich schließlich, als die Stille kaum zu ertragen war. Eine leichte Brise kam auf und wirbelte die Kirschblüten vor unseren Füßen auf. Kapitel 7: Dunkles Verlangen ---------------------------- Das Mondlicht schien durch die Gardinen hindurch und warf geometrische Muster an die Zimmerdecke. Ich beobachtete sie aufmerksam, hoffte dadurch müde zu werden, doch der erlösende Schlaf blieb aus. Ich seufzte schwer und setzte mich auf. Wie in einer wiederkehrenden Endlosschleife wurden die Ereignisse des Tages in meinem Kopf abgespielt. Ich konnte nicht mehr, versuchte dagegen anzukämpfen, doch vergebens. Nach unserer kleinen Auseinandersetzung sprachen wir kein Wort mehr miteinander. Selbst als wir zu Hause waren. Es war das erste Mal, dass wir einander nichts zu sagen hatten. Wir verkrochen uns nach dem Mittagessen auf unseren Zimmern und begegneten uns erst abends vor dem Badezimmer. Ayumi und ich sahen uns unsicher an, wichen dem Blick des anderen aus und gingen in verschiedene Richtungen. Das war doch zum Kotzen! Sie war der wichtigste Mensch für mich und ich verhielt mich wie das größte Arschloch. Dieses Schweigen zwischen uns war nicht zum Aushalten und machte mich wahnsinnig. Impulsiv warf ich die Decke zurück und sprang auf. Leise öffnete ich die Tür meines Schlafzimmers und spähte in den dunklen Flur. Totenstille, alle schliefen. Ich verspürte einen unauslöschlichen Drang. Ich wollte, nein, ich musste sofort mit Ayumi sprechen und unseren Streit, oder wie auch immer man das nennen mochte, aus der Welt schaffen. Sonst würde ich die ganze Nacht kein Augen zumachen können. Es war egoistisch von mir, aber es sollte zwischen uns wieder so werden, wie es heute Morgen noch war, bevor alles den Bach unterging. Ich schlich leise durch den Flur und schlüpfte in ihr Zimmer, die Tür lehnte ich nur ein wenig an. Ich trat an ihren Futon, in dem sie schlummerte und rüttelte leicht an ihrer Schulter. „Mhm...“, gab sie verschlafen von sich und sofort tat es mir leid, dass ich ihren Schlaf störte. Aber es musste sein. „Ayumi“, flüsterte ich und rüttelte sie etwas kräftiger. Plötzlich packte sie mich und zog zu sich hinab. „Hyde...“, murmelte sie verschlafen, „Hyde...“ Ich stützte mich erschrocken links und rechts von ihr ab, um sie nicht zu erdrücken. Das Mondlicht fiel sanft auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Atem war ruhig. Sie träumte. Mein Blick wanderte zu ihren leicht geöffneten Lippen und ich schluckte. Mein Herz raste plötzlich wie wild in meiner Brust. Mich überkam ein schmerzliches Verlangen. Nur einmal wollte ich diese Lippen küssen. Nur einmal. Ich beugte mich langsam hinab, doch hielt im nächsten Moment inne. Mir wurde plötzlich bewusst, warum mich der Kuss zwischen Yuji und Ayumi so wütend gemacht hatte. Es war nicht nur deswegen, weil ich sie vor solchen Typen wie Murai beschützen wollte. Nein. Ich wollte selbst derjenige sein, der sie küsste. Sie sollte nur Augen für mich haben. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und erschreckte mich. Ich schüttelte den Kopf und nahm Abstand. Fluchtartig verließ ich ihr Schlafzimmer und stieß mit jemanden im Flur zusammen. „Oh, wo kommst du denn her?“ Masamis Stimme schnitt durch die Stille. Ohne etwas zu sagen wollte ich an ihr vorbeigehen, doch sie versperrte mir den Weg. „Kommst du etwa aus Ayumis Zimmer, hm?“, fragte sie und ihr Tonfall veränderte sich. Er klang nicht bestürzt oder schockiert, sondern auf eine unangenehme Weise neugierig. „Was hast du denn da um diese Uhrzeit zu suchen?“ Ich hatte nicht vor ihr eine Antwort zu geben. „Geht dich nichts an.“ „Das mag sein“, stimmte sie mir überraschenderweise zu, „aber deinen Vater wird das sicher interessieren.“ Selbst in der Dunkelheit spürte ich ihr heimtückisches Lächeln. Ganz unerwartet legte sie ihre Hand an meine Wange und ich zuckte zusammen. Es war ein natürlicher Schutzreflex. Ich war nicht daran gewöhnt, dass diese Frau zu etwas anderem fähig war als zur Grausamkeit. „Du bist groß geworden, Hyde“, sagte sie unvermittelt, „und du siehst deinem Vater sehr ähnlich.“ Masami trat einen Schritt näher, sodass ich beinahe ihren Atem auf der Haut spüren konnte. „Warum begehrt man immer das, was man nicht haben darf? Das Verbotene. Das Sündhafte.“ Die Art, wie sie es sagte, gefiel mir nicht. „Kannst du mir das beantworten, Hyde?“ Mein Herz klopfte schneller, je näher sie trat, je mehr sie sagte. Wusste sie etwa von meinen Gefühlen für Ayumi? Nein, das war unmöglich... „Nein?“, unterbrach sie meine Gedanken, „auch gut. Denn das ist krank. Deine Gefühle für deine eigene Schwester. Dein eigenes Fleisch und Blut. Du bist genauso krank wie er.“ Ich wollte mir das nicht länger anhören und ging an ihr vorbei. Sie hatte nicht das Recht über mich zu richten, nicht sie. „Was wird wohl dein Vater dazu sagen?“, fügte sie noch hinzu. Ihr teuflisches Lachen verfolgte mich, lange Zeit nachdem ich bereits im Bett lag. Kapitel 8: Eis am Stiel ----------------------- Am nächsten Morgen kroch ich müde und kaputt aus dem Futon. Hätte es nicht an meiner Tür geklopft, hätte ich wahrscheinlich verschlafen. Ich konnte die letzte Nacht einfach kein Auge zutun und bin erst vor wenigen Stunden eingeschlafen. Immer wieder schwirrten mir Gedanken an die vergangenen Ereignisse durch den Kopf und ließen einen erholsamen Schlaf nicht zu. Masamis Worte nagten an meinem Verstand. Was wäre, wenn sie ihre Vermutung mit Vater teilte? Und was genau hatte sie damit gemeint, als sie meinte: Du bist genauso krank wie er. Das ergab für mich einfach keinen Sinn. Es klopfte unerbittlich weiter an der Tür, als würde jemand direkt gegen meinen Schädel hämmern. Meine Füße verhedderten sich in der Decke und ich stolperte zur Tür. „Ja, verdammt! Ich bin ja schon auf!“, brummte ich und riss die Tür auf. Ayumi sah mit weit aufgerissenen Augen zu mir auf. „S-sorry“, murmelte sie und senkte den Blick, „du hast zuerst nicht reagiert und wir müssen gleich los.“ Immer, wenn ich sie sah, überkam mich eine innere Ruhe. Mein Ärger und meine Gereiztheit schwanden mit einem Mal dahin. „Ich komme gleich“, meinte ich ruhiger und fuhr mir durchs Haar. Ayumi nickte und wandte sich zum Gehen. „Danke“, rief ich ihr hinterher, „dass du mich geweckt hast.“ Dann verschwand ich wieder auf meinem Zimmer. Nachdem ich in der Hektik meine Schuluniform angezogen hatte, putzte ich mir noch schnell die Zähne. Natürlich musste ich mein weißes Hemd mit Zahnpasta bekleckern. Ich fluchte, während ich versuchte die Zahnpasta mit Handtuch und warmen Wasser aus dem Stoff zu schrubben. Der Tag fing ja toll an. In der Küche traf ich auf Vater. Er saß am Küchentisch mit einer Zeitung in der Hand und trank Tee. Die letzten Jahre hatten ihm hart zugesetzt. Er hatte graues Haar, dunkle Augenringe und tiefe Falten zierten sein Gesicht. Seine Haltung war ein wenig krumm und eine Rasur hätte er auch vertragen. Von seiner Erhabenheit und seiner Autorität schien nichts mehr übriggeblieben zu sein. Der Mann, der er einst war, schien nach und nach verschwunden zu sein. Er hob seinen Blick und rückte seine Brille zurecht, bevor er mir einen guten Morgen wünschte. „Morgen“, sagte ich zurück und wollte mir noch schnell ein Brot machen, bevor wir losmussten. „Ayumi hat dir bereits eins bemacht“, hörte ich ihn hinter meinen Rücken sagen. Ich entdeckte erst jetzt das fertig belegte Brot auf dem Tisch. Sie dachte immer an mich, egal wie ich mich aufführte. Ich griff danach und machte Anstalten die Küche zu verlassen, doch seine Worte hielten mich auf. „Sie ist ein liebes Mädchen, sorgt sich immer um dich. Ich weiß, ihr habt ein enges Verhältnis, aber vergiss nicht, wer sie für dich ist.“ Seine Worte schnürten mir die Kehle zu, ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Es war ein seltsames Gefühl, es aus seinem Mund zu hören. Mir lief der Schweiß kalt über meinen Rücken. Masami hatte ihm bestimmt ihre giftigen Worte zugeflüstert. „Keine Sorge, Vater“, presste ich hervor, doch schaffte es nicht ihm in die Augen zu sehen. Ich wusste, wer sie für mich war. Das brauchte er mir nicht zu sagen. „Ich meine es ernst, Hyde. Sollte ich je etwas erfahren...“ Seine Worte ließen mich aufhorchen und ich wandte mich endlich zu ihm um. „Was, Vater? Wirst du mich bestrafen? Mich schlagen? Was? Was könntest du mir schon antun, was ich nicht schon erlebt habe?!“ Er sah mich überrascht an, da er mit meinem Ausbruch nicht gerechnet hatte. Doch im nächsten Augenblick verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck. Er erhob sich mit einem Ruck und überwand den Abstand zwischen uns mit wenigen Schritten. „Halt dich einfach von deiner Schwester fern, hast du mich verstanden?“ Irgendwann hatte ich Respekt vor ihm. Irgendwann... Doch jetzt machte mich seine ganze Präsenz nur noch aggressiv. „Und was, wenn nicht?“ Ich hatte es gar nicht sagen wollen, doch die trotzigen Worte verließen meinen Mund schneller, als ich denken konnte. Seine Augen funkelten wütend, entsetzt. Erst als ich Blut schmeckte, realisierte ich, dass er mir mit seiner flachen Hand ins Gesicht geschlagen hatte. Mein Ohr dröhnte. Er hatte mich noch nie geschlagen. „Tut… mir leid…“, stammelte er und ich hob benommen meinen Blick. Seine Hand zitterte und er starrte sie an, als würde er nicht begreifen, was hier eben passiert war. „Tu einfach… was ich dir… gesagt habe…“, sagte er abgehackt und verließ fluchtartig die Küche. Ich stand im Badezimmer vor dem Spiegel und betrachtete meine aufgeplatzte Lippe. Ich hatte nicht erwartet, dass er zuschlägt, und offensichtlich ging es ihm nicht anders. Sein geschockter Gesichtsausdruck hatte ihn verraten, dass er mit seinem eigenen Ausbruch nicht gerechnet hatte. Aber vielleicht hätte ich das an seiner Stelle auch getan. Diesmal hatte ich es wirklich verdient. Ayumi war meine Schwester. Meine Halbschwester zwar, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Gefühle wider Natur durfte ich nicht für sie hegen. Es ist Sünde, sagte eine Stimme in mir und ich wusste, dass sie recht hatte. Innerlich gab ich ein Versprechen ab, ich würde dem Verlangen nie nachgehen. Denn ich wusste, es wäre mein Untergang. Und auch der ihre. Ayumi wartete draußen auf mich. Die Sonne strahlte bereits am frühen Morgen hell und warm. Wir waren spät dran und ich für meinen Teil würde wahrscheinlich nachsitzen müssen, was nicht hieß, dass ich das auch wirklich tun würde. „Was hast du denn da?“ Ayumi streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus und inspizierte meine Lippe. „Ist nicht schlimm.“ „War das Masami?“  Ich schüttelte den Kopf und entfernte sanft ihre Hand, die immer noch auf meinem Gesicht lag. Ayumis Augen weiteten sich, als Erkenntnis darin eintrat. „Vater?“ „Mach dir keine Sorgen, ja“, sagte ich, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Lass uns gehen.“ Ehrlich gesagt, hatte ich gar keine Lust auf Schule, auf diesen langweiligen Trott. Tag ein, Tag aus. Immer dasselbe. Es war zum Kotzen. „Lass uns schwänzen“, schlug ich vor, als wir den halben Weg hinter uns hatten. In der Regel schwänzte ich immer alleine. Ich wollte ihr keine Schwierigkeiten bereiten. Außerdem dachte ich nicht, dass sie meinen Vorschlag befürworten würde. Umso überraschter war ich, als sie einwilligte. „Ich habe noch nie geschwänzt“, meinte sie aufgeregt, „was wollen wir denn machen?“ „Ich hab‘ da schon eine Idee.“ Wir schmuggelten uns in den Bus und fuhren Richtung Innenstadt. Am frühen Morgen durch die Straßen von Tokyo in einer Schuluniform zu laufen, brachte uns eine Menge schräger Blicke ein. Ich hoffte nur, wir trafen auf keinen Ordnungshüter, der uns in die Schule schleifen wollte. Aber wir hatten Glück und keiner sprach uns an. Wir schlenderten durch die Läden und ich merkte Ayumis sehnsuchtsvolle Blicke, als wir an hübschen Kleidern vorbeigingen. Ich wünschte, ich hätte genug Geld, um ihr etwas davon kaufen zu können. Vielleicht war das doch keine so gute Idee hierherzukommen. Hier gab es alles, was wir nicht haben konnten. Es war ganz schön heiß, sodass wir uns ein schattiges Plätzchen suchten. Auf einer Bank unter einem großen Baum ließen wir uns nieder. Es war bereits Mittag und die Straßen füllten sich immer mehr mit Menschen. Eine Mutter ging mit ihrem Kind vorbei, das ein Eis in der Hand hatte. Plötzlich schoss mir eine Idee durch den Kopf. „Warte mal kurz hier“, sagte ich zu ihr und ließ meine Schultasche neben ihr liegen. „Wohin gehst du?“ „Bin gleich zurück.“ Ich schlenderte wieder Richtung Passage und sah mich nach einer Eisdiele um. Es gab zig Eisläden, doch ich suchte mir den einen aus, in dem ein alter Opa arbeitete. Er nahm freundlich lächelnd meine Bestellung auf, sodass ich schon ein schlechtes Gewissen bekam, bei dem, was ich vorhatte. Doch als er mir das Eis gereicht hatte, lief ich los. Ich lief so schnell mich die Beine trugen. Hinter mir hörte ich ihn schimpfen, aber er nahm nicht die Verfolgung auf. Genau, wie ich es mir gedacht hatte. Tut mir leid, Onkelchen. Völlig aus der Puste kam ich bei Ayumi an und reichte ihr das Eis, das nur leicht geschmolzen war. „Was...“, fragte sie völlig verwundert und nahm zögernd das Eis in ihre Hand, „wo hast du das denn her?“ „Stell keine Fragen und iss“, sagte ich und setzte mich zu ihr. Das Eis schmeckte köstlich und nach kurzem Überlegen fing auch Ayumi an zu essen. Wir lehnten uns zufrieden zurück. „Mein Bruder ist also ein Dieb“, neckte sie mich und warf mir einen wissenden Blick zu. „Hm, so würde ich das nicht nennen. Ich bin nur... erfinderisch.“ „Erfinderisch?“ Sie lachte. „So nennt man das also.“ Mir fiel auf, dass wir wieder ausgelassen miteinander sprachen. Die Anspannung zwischen uns fiel wie eine tonnenschwere Last von unseren Schultern. Die Sonne schien sanft zwischen den Bäumen auf uns herab. Mein Blick wanderte nach oben und betrachtete die im Wind raschelnden Blätter. Der Tag hatte scheiße angefangen, aber sich zum Glück zum Guten gewendet. Auf einmal spürte ich etwas Kühles auf meiner Wange. Ayumi hauchte mir einen Kuss darauf. „Danke für das Eis, Brüderchen.“ Mein Blick wanderte zu ihr, während sie ihren bereits abgewandt hatte. Es prickelte angenehm auf meiner Haut. „Nicht dafür“, erwiderte ich und hoffte, dass sie mein heftiges Herzklopfen nicht hörte, jenes so laut in meiner Brust zu schlagen schien. Kapitel 9: Auf Leben und Tod ---------------------------- Während ich auf dem Dach des Schulgebäudes lag, die Arme unter meinem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen, überlegte ich, wie unser Leben weiterlaufen sollte. Gestern war, bis auf ein paar Zwischenfälle, ein wunderbarer Tag. Ich habe mit Ayumi geschwänzt, wir haben Eis gegessen und sind dann später nach Hause gegangen. Trotz Vaters Schelte würde ich es nicht rückgängig machen, selbst wenn ich könnte. Dass ich regelmäßig schwänzte, war Vater längst bekannt, aber er konnte nichts dagegen tun und hatte sich bereits damit abgefunden. Doch dass ich Ayumi zu diesem Verhalten verleitete, konnte er nicht dulden. Ich hatte darauf nichts Trotziges erwidert, was ich sonst immer tat, sondern nur geschwiegen. Wahrscheinlich hatte Vater ausnahmsweise Recht. Ich hatte mir nichts dabei gedacht zu schwätzen, da ich es oft genug tat. Aber Ayumi hatte einen guten Ruf zu verlieren. Sie war ziemlich gut in der Schule und wenn sie sich Mühe gab, konnte etwas Anständiges aus ihr werden. Ich hingegen... Meine Noten waren durchschnittlich und das regelmäßige Fehlen in der Schule und die Auseinandersetzungen mit Lehrern und Schülern zogen negatives Licht auf mich. Was brachte es mir überhaupt, zur Schule zu gehen? Ich würde vielleicht meinen Abschluss gar nicht schaffen. Also warum Zeit verschwenden? Vielleicht sollte ich besser die Schule abbrechen und arbeiten. Dann konnten Ayumi und ich ausziehen und ein eigenes Leben aufbauen. Bei dem Gedanken grinste ich vor mich hin. „Was grinste denn so dumm, Arschgesicht?“ Ein Schatten hatte sich auf mein Gesicht gelegt, doch bevor ich meine Augen öffnen konnte, bekam ich einen heftigen Tritt in die Brust. Ich schnappte nach Luft, stieß denjenigen zur Seite und nahm sofort Abstand ein. Tomoya Takarai sah mich abfällig an und spuckte aus. Hinter ihm traten zwei weitere Typen hervor, die ich jedoch nicht kannte. Der eine war einen Kopf größer als wir alle. Er hatte ein brutales Gesicht und hervorstechende Augen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Der andere war bisschen kleiner als ich, aber in seinen Augen glitzerte etwas, was man als Wahnsinn bezeichnen konnte. Eine lange Narbe zierte sein Gesicht. Er leckte sich die Lippen, als könnte er es kaum abwarten, sich auf mich zu stürzen. „Willst du wieder auf's Maul?“, sagte ich ungerührt an Takarai gerichtet und rappelte mich auf. Die Stelle, die er mit seinem Fuß getreten hatte, schmerzte noch, aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte nicht vergessen, wie abfällig er über Ayumi gesprochen hatte. Und diese zwei Schlägertypen, die er zur Verstärkung mitgebracht hatte, jagten mir keine Angst ein. Takarai gab nur ein verächtliches Schnauben von sich und warf seinen Begleitern einen kurzen Blick zu, als wollte er mir zu verstehen geben, dass ich nicht in der Position war, ihm zu drohen. „Du spuckst ganz schön große Töne, Wichser“, zischte er, „wenn wir mit dir fertig sind, nehmen wir uns deine Schwester vor.“ Mein Puls beschleunigte sich augenblicklich, ich spürte die Wut in mir aufsteigen. Er würde seine Worte noch bereuen. Ich würde ihn schon allein wegen dieser Bemerkung windelweich prügeln und seine hirnlosen Begleiter ebenso. Takarai schien meine Anspannung nicht zu entgehen und er grinste hinterhältig. „Willst du wissen, was wir mit ihr machen werden?“, provozierte er mich weiter, „wir werden sie...“ „Halt dein verdammtes Maul!“, schrie ich. Bei der Vorstellung daran, was sie ihr antun könnten, stieg der Ekel in mir auf. Ich spürte, wie ich gleich die Beherrschung verlieren würde. Ich ballte meine zitternden Hände zu Fäusten. Der Große lachte auf, bevor er sich ohne Vorwarnung auf mich stürzte. Ich konnte seinem ersten Schlag nicht mehr ausweichen, sondern hob nur abwehrend die Hände. Hätte ich das nicht getan, hätte er mich mitten im Gesicht getroffen und mir garantiert die Nase gebrochen. Ich taumelte zurück und ehe ich mich versah, holte er zum nächsten Schlag aus. Diesmal traf er mich direkt in der Magengrube. Durch die Wucht, mit der er zuschlug, blieb mir fast die Luft weg. Scheiße... der war ja verdammt schnell für seine Größe. Ich hatte keine Zeit mich zu erholen, denn der andere mit dem wahnsinnigen Blick kam angelaufen. Nur mit Mühe entkam ich seinen Tritten. Nachdem ich deren Taktik halbwegs durchschaut hatte, kassierten sie ein Paar Schläge von mir. Doch ich hatte die Rechnung ohne Takarai gemacht. Es sah zunächst so aus, als würde er sich raushalten, doch dann tauchte er vollkommen überraschend inmitten des Kampfes auf und brachte mich für einen Augenblick aus dem Konzept. Sie machten sich diese Gelegenheit zunutze, der Große packte mich von hinten und hielt meine Arme schmerzvoll fest. Doch das war noch gar nichts zu der Woge des Schmerzes, die darauf folgte. Zuerst versuchte ich mich zu wehren, nach ihnen zu treten. Doch der Wahnsinnige und Takarai schlugen erbarmungslos mit ihren Fäusten und Beinen auf mich ein, bis mein Körper langsam schlapp machte und leicht nach vorne sackte. Blut hatte sich in meinem Mund gesammelt und ich spuckte es den beiden vor die Füße. Es traf deren Schuhe und der Kleine packte mich brutal an den Haaren und riss meinen Kopf zurück. Er holte zum Schlag aus, doch Takarai hielt ihn zurück. „Wir wollen ihn ja nicht umbringen“, sagte er, „vorerst.“ Der Kleine ließ mich widerwillig los, sodass mein Körper wieder schlaff nach vorne sackte. Ich hörte wie jemand sich eine Zigarette anzündete. Takarai hockte sich vor mich hin und stieß mir den Rauch ins Gesicht. Es brannte in meinen Augen. Zu allem Überfluss lief mir auch noch mein eigenes Blut in die Augen und ich musste blinzeln, um wieder etwas sehen zu können. „Entschuldige dich“, sagte dieser und zog genüsslich an seiner Zigarette. Ich vermutete, er meinte die Tracht Prügel, die er von mir bekommen hatte, nachdem er abwertend über Ayumi gesprochen hatte. „F...“ „Was?“ „Fick... dich...“ Takarai lächelte flüchtig und erhob sich wieder. Sie konnten mich ruhig weiter verprügeln, aber ich würde mich nie dazu herablassen, mich bei diesem Schwein zu entschuldigen. Plötzlich wurde ich nach vorne gestoßen, bis zu der Kante des Daches. Meine Augen weiteten sich etwas, als mir bewusst wurde, was sie vorhatten. Mein Kopf wurde wieder an den Haaren zurück gerissen, damit ich in die gefühllosen Augen von Tomoya Takarai blicken konnte. „Deine letzte Chance, Shinya“, sagte er ausgesprochen ruhig, als würden wir unbefangen über das Wetter plaudern, „entschuldige dich und vielleicht werden wir nicht allzu hart zu deiner Schwester sein.“ Es ertönte ein dreckiges Lachen von meinen Peinigern. Bei der Erwähnung von Ayumi brannte mir plötzlich eine Sicherung durch. Ich schrie, spuckte ihm Flüche ins Gesicht und riss an meinen Händen, die im eisernen Griff steckten. „Ich bring dich um, du mieses Arschloch!“, spie ich ihm in seine hässliche Visage, „euch alle!“ Ich wusste nicht, woher diese Kraft kam, mich noch einmal aufzulehnen, aber ich spürte, wie Adrenalin durch meinen Körper schoss. Takarai wischte sich das Blut und den Speichel vom Gesicht, das er abbekommen hatte, und gab dem brutalen Riesen ein kaum merkliches Zeichen. Er zerrte an mir und versuchte mich über die Kante des Daches zu ziehen. Ich musste an den Moment denken, als ich das letzte Mal mit Yuji hier war. Wie ich mich an den Rand des Daches gestellt und vom Tod gesprochen hatte. Damals war meine einzige Sorgen, dass ich mich mit Ayumi gestritten hatte. Ayumi. Wer sollte denn jetzt auf sie aufpassen? Sie hatte doch niemanden außer mir. Murai. Wäre doch nur Murai hier, damit ich ihm wenigstens sagen könnte, dass er auf sie Acht geben soll, wenn ich nicht mehr da bin. Ich hatte den Kuss immer noch nicht vergessen, aber wenn er nur auf sie aufpassen könnte, würde ich es verzeihen. War das nun die Strafe dafür, dass ich den Tod verspottete, als ich mich an den Rand des Daches gestellt hatte? Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, die zum Dach führte. Einen Moment lang herrschte Stille, keiner rührte sich, als hätte jemand die Zeit angehalten. „Drei gegen einen ist ganz schön unfair, findet ihr nicht?“ Murais Stimme klang wie aus einer fernen Welt. Doch nah genug, um mich aus diesem Alptraum zu entziehen. „Verpiss' dich! Das geht dich nichts an!“, schnauzte Takarai. „Ich bin Vertrauensschüler. Ich denke schon, dass es mich etwas angeht.“ Seine Stimme klang scharf und bedrohlich. „Oder soll ich die Polizei rufen?“ Takarai schnalzte genervt mit der Zunge. Unerwartet wurden meine Hände befreit. Der Große ließ von mir, wodurch ich meine Stütze verlor und kraftlos zu Boden sank. „Wir sind noch nicht fertig, Missgeburt“, zischte Takarai und spukte auf mich, bevor die drei abzogen. Murai ging vor mir in die Hocke und sah mich mit gerunzelter Stirn an. „Du siehst scheiße aus.“ Hätte ich nicht solche Schmerzen, hätte ich gelacht. Aber so brachte ich nur ein kleines Lächeln zustande. „Fick dich.“ Murai grinste. „Du solltest mir lieber dankbar sein. Ohne mich würde dein Körper zertrümmert vor der Schule liegen.“ Da hatte er nicht ganz Unrecht. „Ich bin immer noch sauer auf dich“, murmelte ich und verzog mir schmerzvoll das Gesicht, als ich mich versuchte aufzurichten. Murai kam mir zur Hilfe und stellte mich behutsam auf die Beine. „Alte Kamellen“, sagte er nur, während er mich stützte, „kein Wunder, dass diese Typen es auf dich abgesehen haben, wenn du dich so aufspielst.“ Ich hätte ihn liebend gern von mir weg gestoßen, aber dann wäre eher ich zu Boden gestürzt. „Halt einfach deine Fresse, ok?“, sagte ich und Yuji lachte. „Irgendwann wird dich wirklich einer abmurksen, Hyde.“   ~*~   Am nächsten Tag war Tomoya Takarai tot. Seine Leiche wurde frühmorgens von dem Schuldirektor auf dem Schulhof aufgefunden. Die Polizei ging von einem Selbstmord aus. Takarai solle sich gestern nach der Schule auf das Dach des Schulgebäudes begeben haben. Sobald alle Schüler und Lehrer das Gelände verlassen hatten, habe er sich hinuntergestürzt.   Ich konnte diese Nachricht nicht fassen. Seit heute Morgen sprach die ganze Schule davon, doch es fühlte sich nicht real an. Takarai und Selbstmord? Gestern war er noch ganz darauf versessen, mich umzubringen. Das ergab einfach keinen Sinn. Aber wenn es kein Selbstmord war, dann war das... Mord? Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken runter. Gestern hatte ich mir selbst noch seinen Tod gewünscht. Hatte ich ihm nicht sogar gedroht, ihn umbringen? Und jetzt war er wirklich tot. Ich konnte nicht sagen, dass mich sein Tod traurig machte. Es war kein großer Verlust für die Menschheit, aber... es schockierte mich dennoch, dass irgendwo in der Schule ein Mörder frei herumlief. Kapitel 10: Unter Verdacht -------------------------- „Shinya, komm nach dem Unterricht bitte zum Direktor.“ Als der Lehrer diese Worte aussprach, richteten sich alle Blicke auf mich. Ich konnte mir vorstellen, was meine Klassenkameraden dachten. Es war nicht das erste Mal, dass ich zum Schuldirektor geschickt wurde, doch nach dem plötzlichen Dahinscheiden von Tomoya Takarai war es der einzige Grund, weshalb ich mich beim Direktor persönlich melden sollte. Alle wussten, dass Tomoya und ich in keinem guten Verhältnis zueinanderstanden und ich konnte mir vorstellen, dass das auch bis zum Direktor vorgedrungen war. Ich begab mich nach dem Unterricht direkt zu seinem Büro, wo überraschenderweise außer dem Schuldirektor zwei fremde Männer im Anzug auf mich warteten. Die beiden Herren stellten sich als Kommissare vor, die den Tod von Tomoya Takarai untersuchten. „Ich dachte, es wäre Selbstmord“, sagte ich verständnislos, nachdem sie mich gebeten hatten, Platz zu nehmen. „Davon sind wir zunächst ausgegangen“, sagte der eine. Sein Name war Sasaki, er war älter als der andere und strahlte Autorität aus. Ich ging davon aus, dass er die Ermittlungen leitete. Unter seinem forschenden Blick fühlte ich mich etwas unbehaglich, doch das versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen. „Wir haben ein paar Fragen an dich“, sagte der andere. Er hatte sich als Kuranagi vorgestellt. Er war deutlich jünger als der andere Kommissar, nicht älter als 25. Er hatte ein freundliches Lächeln, doch seine Augen waren wachsam auf mich gerichtet. „In welchem Verhältnis standest du zu dem Opfer, Tomoya Takarai?“, fuhr er fort, nachdem er einen Notizblock und einen Kugelschreiben aus seinem Jackett geholt hatte. Ich zuckte leicht mit den Schultern. „In keinem besonderen. Wir gingen in dieselbe Klasse.“ Kuranagi schien das bereits zu wissen, denn er notierte sich erst einmal nichts. „Kam es zwischen euch irgendwann zu einer Auseinandersetzung?“ Der junge Kommissar redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam sofort auf den Punkt. Ich wusste, worauf er hinauswollte und entschied mich dafür, die Wahrheit zu sagen. Irgendjemand musste ihnen irgendetwas erzählt haben, andernfalls würde ich nicht hier sitzen. „Kann schon sein. Wir waren nicht gerade beste Freunde“, erwiderte ich vorsichtig und schwieg. Mir rasten jegliche Gedanken durch den Kopf. Wenn ich jetzt erzählen würde, was vor einigen Tagen auf dem Dach passiert war, würde sich das nicht gerade positiv auf meine Situation auswirken. Damit hätte ich in ihren Augen höchstwahrscheinlich ein Motiv. Ich musste meine Worte mit Bedacht wählen, doch es brachte nichts zu leugnen, ich hätte mich nie mit Tomoya angelegt. „Du scheinst dich gerne mit deinen Mitschülern zu prügeln“, warf der ältere Kommissar in den Raum. Mein Blick wanderte an ihm vorbei zum Schuldirektor, der der Befragung schweigend folgte. Man konnte ihm sein Unbehagen deutlich ansehen. „Und wenn schon. Das heißt nicht, dass ich jemanden umbringen würde.“ „Das behauptet auch keiner“, beschwichtigte der junge Kommissar lächelnd, doch wurde dann wieder ernst, „allerdings haben zwei Schüler ausgesagt, dass du dich mit Tomoya am Tag seines Todes geprügelt hast. Dabei sollen die Worte gefallen sein, dass du ihn umbringen wirst. Ist das korrekt?“ Ich spürte, wie mir die Luft wegblieb, als würde sich eine unsichtbare Hand um meine Kehle legen. „Ich weiß es nicht.“ „Was weißt du nicht?“, hakte Kuranagi nach, „dass ihr euch geprügelt habt oder dass du ihm gedroht hast?“ „Dass ich ihm gedroht habe. Ich weiß es nicht mehr.“ Das entsprach der Wahrheit. Ich war an dem Tag auf dem Dach so wütend und außer mir, dass ich mich kaum an die Worte erinnerte, die gesprochen wurden. Es könnte sein, dass ich es gesagt hatte. Aber sicher war ich mir nicht. Die Kommissare tauschten einen vielsagenden Blick, der nichts Gutes verhieß. Kuranagi fragte nach meinem Alibi, wo ich zur Tatzeit war, und ich erzählte ihm, dass ich nach der Schule wie üblich mit meiner Schwester nach Hause gegangen war. Ob sie es bestätigen könnte? Klar. Könnte noch jemand bestätigen, dass wir danach den restlichen Tag zu Hause verbracht haben? Anscheinend glaubte er, dass meine Schwester mich decken könnte. Ich sagte, dass mein Vater und meine Stiefmutter meine Anwesenheit ebenfalls bekräftigen konnten. Danach hatten die Kommissare keine weiteren Fragen an mich.   Die Befragung hatte einen seltsamen Beigeschmack hinterlassen. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass sie mir nicht glaubten. Ich an ihrer Stelle wäre wahrscheinlich auch misstrauisch. Aber sie hatten nichts gegen mich in der Hand, keinerlei Beweise. Zumindest hoffte ich das. Vielleicht versuchte mir das jemand in die Schuhe zu schieben. Aber warum sollte jemand so etwas tun? Meine Fantasie geht mit mir durch, dachte ich und schnaubte. Das war schließlich kein Kriminalroman, sondern die Realität.   In den nächsten Tagen wurde meine Familie verhört, die meine Aussage natürlich bestätigt hatte. Es tat mir leid, dass Ayumi in diese Sache mit reingezogen wurde. Ich bereitete ihr nichts als Kummer. Nachdem die Polizei gegangen war, gab es zu Hause einen riesigen Streit. Mein Vater war außer sich und Masami stachelte ihn nur noch mehr an. „Sag es mir! Hast du irgendetwas mit dem Mord an diesem Jungen zu tun?!“, schrie mich mein Vater an. Wir waren nur zu dritt im Wohnzimmer. Er, Masami und ich. Die Tür war geschlossen, doch sicher konnte Ayumi jedes Wort durch die dünnen Wände verstehen. Ich dachte, ich wäre gegen jeglichen Schmerz immun, doch das mein eigener Vater mir diese Frage stellte, traf mich bis tief in mein abgestumpftes Herz. „Ich war hier und das weißt du“, sagte ich ausgesprochen ruhig, obwohl mein ganzer Körper zitterte. Traute er mir einen Mord zu? „Warum sollte die Polizei dich dann verdächtigen?“, warf Masami ein. Sie stand mit verschränkten Armen an den Schreibtisch gelehnt da und sah mich aus ihren dunklen Augen an. „Halt du dich bloß da raus, du miese Schlange!“, sagte ich nun ungehalten und bekam von meinem Vater eine saftige Ohrfeige. Es war das zweite Mal, dass er mich je geschlagen hatte. Bald würde es sicher zur Gewohnheit werden. „Werde bloß nicht respektlos, Hyde!“, mahnte er mich und fixierte mich mit seinem glühenden Blick. Die Welt ist verrückt geworden. Wo ist die Gerechtigkeit? „Ich will, dass du sofort ausziehst, nachdem du die Schule beendet hast.“ Seine Worte trafen mich noch heftiger als sein Schlag. „Du bist kein guter Umgang für Ayumi. Immer wirst du in irgendetwas verwickelt und das wirkt sich negativ auf deine Schwester aus. Das werde ich nicht länger dulden. Ich habe genug von deinem Unsinn. Nach deinem Abschluss wirst du dir einen Job und eine eigene Wohnung suchen. Du wirst Ayumi nicht mehr sehen.“ Seit wann interessierte er sich wieder für Ayumi? In den ganzen Jahren, in denen Masami uns gequält hatte, hatte er nur tatenlos zugesehen und jetzt interessierte er sich auf einmal wieder für seine Tochter? Ich wollte ihm am liebsten das alles an den Kopf werfen, doch ich war unfähig zu sprechen. Ich stand wie angewurzelt da und versuchte die Situation zu verarbeiten, doch ich schaffte es nicht. Stattdessen brach ich in schallendes Gelächter aus. Die beiden starrten mich fassungslos an, bis mein Vater das Wort ergriff. „Findest du das etwa komisch? Sei froh, dass ich dich nicht sofort vor die Tür setze!“ Ich fasste mir mit einer Hand ins Gesicht und spürte, wie das Lachen langsam abebbte. Ich fuhr mir durchs Haar und strich die zotteligen Strähnen aus dem Gesicht. „Ich werde gehen. Mit dem größten Vergnügen.“ Die Welt ist verrückt geworden. „Aber ich nehme Ayumi mit. Ihr werdet uns nicht trennen. Nicht ihr!“ Mit diesen Worten wandte ich mich ab und ging Richtung Tür. Ich würde sie niemals zurücklassen. Nicht in dieser lieblosen Wohnung, nicht mit diesem ignoranten Vater, nicht mit dieser grausamen Stiefmutter. Ich werde sie mitnehmen. Ich werde mir einen Job suchen und für uns sorgen. Wir werden glücklich sein. Endlich werden wir glücklich sein in dieser verrückten Welt. Meine Hand legte sich auf den Türknauf, als ich einen dumpfen Schlag auf meinem Hinterkopf spürte. Wo ist die Gerechtigkeit?, dachte ich, bevor mir alles schwarz vor Augen wurde. Kapitel 11: In den Tiefen der Dunkelheit ---------------------------------------- Ich lief eine lange Straße entlang, lief so schnell ich konnte. Mein Herz schlug wild, meine Lunge brannte. Ich wusste, ich wurde verfolgt, doch wagte mich nicht umzudrehen, aus Angst, man würde mich kriegen, sobald ich einen Blick nach hinten riskierte. Es war eine sternenlose Nacht. Nur der Mond wies mir den Weg. Wie lange lief ich schon? Ich spürte meine Beine nicht mehr, als würden sie sich mit unsichtbarer Kraft bewegen, ohne dass ich sie bewusst kontrollierte. Ich verspürte den Drang, mich zu vergewissern, dass sie noch da waren, und sah hinab. Doch kaum senkte ich meinen Blick, ließ meine gesamte Konzentration nach. Als hätte jemand plötzlich eine Vollbremsung gemacht, um mich aufzuhalten. Ich stolperte über meine eigenen Füße und fiel kopfüber auf die Straße. Mit meinen Händen schaffte ich es noch rechtzeitig, den Sturz abzufangen, um nicht mit dem Kopf aufzuschlagen, doch der Schmerz in meinen Handflächen war nicht minder qualvoll und breitete sich wie eine Welle über meinen gesamten Körper aus. „Kommt raus, kommt raus, ihr lieben Kinder.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich zitterte vor Angst. Nein! Ich durfte mich nicht fürchten. Die Angst würde mich verschlingen, wenn ich sie zuließe. Mein Blick wanderte zu meinen aufgeschürften Händen, zu den kleinen Händen eines Kindes. „Was…“, entwich es mir leise. Schweißperlen tropften mir in die Augen, sodass es meine Sicht behinderte. Ich kniff die Lider fest zusammen, öffnete sie wieder, doch meine Hände hatten immer noch die Größe und die Form eines Kindes, nicht eines Erwachsenen. Erst jetzt merkte ich, dass auch der Rest meines Körpers auf die entsprechende Größe geschrumpft war. Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was mit mir geschehen war, hörte ich erneut diese Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war kaum ein Flüstern und doch wusste ich instinktiv, dass die Quelle der Stimme ganz in meiner Nähe war. „Hyde…“ Ayumis Stimme. Wie helles Licht, das unerwartet durch die Dunkelheit dringt. Ihre zierlichen Hände berührten meine Wangen. Im Gegensatz zu mir sah Ayumi ihrem Alter entsprechend aus. Sie lächelte. Doch es war ein trauriges Lächeln, das einzige Lächeln, das sie mir schenken konnte. „Lauf weg!“, schrie ich, obwohl sie mir gegenübersaß, „lauf! Schnell! Sie ist gleich da!“ Doch sie rührte sich nicht vom Fleck, liebkoste weiterhin mein Gesicht mit saften Berührungen. „Du wirst mich doch beschützen, Hänsel?“ Ihre Lippen bewegten sich nicht, doch es war offensichtlich, dass sie diese Worte gesagt hatte. HYDE! MEIN NAME IST HYDE! Als hätte sie meine Gedanken gelesen, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange, der sich diesmal ganz anders anfühlte. Nicht prickelnd und kühl, sondern unangenehm feucht, und diesmal verursachte er keinerlei Herzklopfen, sondern hinterließ eine tiefe, trostlose Leere. „Ayumi…“, hauchte ich, als sich ihre Arme wie Schlangen um meinen Hals legten, „Ayumi!“ Ich konnte nicht atmen und rang zappelnd nach Luft, versuchte mich von ihr loszureißen. „Deine Mutter ist nicht mehr böse auf dich.“ Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es sich nicht mehr um Ayumi handelte, sondern um Masami. Ihre Fingernägel gruben sich in meinen Rücken, bohrten sich tiefer in mein Fleisch. „Du siehst deinem Vater sehr ähnlich.“ DU BIST NICHT MEINE MUTTER! VERSCHWINDE! FASS MICH NICHT AN! Ich wollte sie anschreien, doch mein Mund gehorchte mir nicht mehr. „Hyde… Mein lieber, wunderschöner Junge.“ Wessen Stimme war das? Wo kam sie her? Ich kannte sie nicht. Mein Blick wanderte suchend umher, und dann erblickte ich sie am Ende der Straße. Ayumi, schoss es mir als erstes in den Sinn, doch die Frau war um einiges älter. Sie war groß und schlank und hatte langes, schwarzes Haar. Ihre Augen waren zwei dunkle Punkte. Aber abgesehen von diesen Unterschieden erinnerte sie mich an Ayumi. „Wer bist du?“, fragte ich sie und streckte meinen Arm nach ihr aus. Sie war zu weit entfernt, als dass ich sie auf diese Weise erreichen könnte, doch ich wollte es wenigstens versuchen. „Warte! Geh nicht! Wer bist du?“ Auf eine mir unverständliche Weise konnte ich mich von Masami befreien, um der fremden Frau, die mich so sehr an Ayumi erinnerte, zu folgen. Diesmal kam ich nicht so schnell voran. Meine Beine fühlten sich bleischwer an. Ich bewegte mich nur mit Mühe vorwärts. „Warte! Bleib stehen! Wer bist du?“ Meine Rufe zeigten keine Wirkung, denn sie setzte ihren Weg unbeirrt fort. Ohne Vorwarnung brach der Weg vor mir ab und ging steil nach unten. Nur mit Mühe konnte ich das Gleichgewicht halten, um nicht in die Tiefen, die sich vor mir auftaten, zu stürzen. „Es tut mir leid, Hyde.“ Ich wandte mich um und sah Vater vor mir. „Es tut mir leid“, wiederholte er und stieß mich gnadenlos die Schlucht hinunter.   Mit pochendem Herzen erwachte ich aus meinem Alptraum, der mich zutiefst verstörte. Um mich herum herrschte Dunkelheit. Nur der Mond erleuchtete ein wenig die Umgebung. Ganz wie in meinem Traum. Ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass ich mich nicht in meinem Zimmer befand. Ich war in einem Wald. Träumte ich etwa immer noch? „Hyde?“ Ayumis Stimme schreckte mich auf. Sie kauerte neben mir auf dem harten Boden, ihre großen Augen auf mich gerichtet wie zwei funkelnde Sterne. In ihren Augen glitzerten Tränen. „H-Hyde! Du bist endlich wach! I-ich hatte solche Angst um dich.“ Ich fuhr mir durch mein zerzaustes Haar, das mir in den Augen hing, immer noch irritiert, ob das alles immer noch ein Traum oder bereits die Wirklichkeit war. „Was ist passiert? Wo sind wir?“, fragte ich schließlich, auch wenn ich es bereits erahnte. Ich ertastete eine Beule am Hinterkopf und augenblicklich fielen mir die letzten Minuten wieder ein, bevor ich das Bewusstsein verlor. Das Gespräch mit Vater und Masami, der Schlag auf den Hinterkopf. „Ich habe alles mitangehört. Du, Vater und Masami habt euch so heftig gestritten. Ich hatte solche Angst, dass Vater dich fortschickt! D-dann wäre ich allein mit Masami…“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und fuhr fort. „Dann hörte ich einen lauten Krach und auf einmal war es still im Zimmer. Ich habe gelauscht, aber es war so schwer zu verstehen, was da vor sich ging. Später am Abend hat mir Vater erzählt, du seist fortgelaufen, aber das wollte ich nicht glauben. Nie wärst du ohne mich gegangen.“ Ayumi sah mich erwartungsvoll an und ich nickte zustimmend. „Und dann?“, hackte ich nach, als die Pause immer länger wurde. „Ich war den Rest des Abends auf meinem Zimmer und gab vor zu schlafen. Doch wie könnte ich? Ich hatte die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl. Spätnachts hörte ich Geräusche im Flur und schlich leise hinaus. Als mir klar wurde, was die beiden vorhaben…“ Ayumis Stimme brach und sie legte sich die Hand auf den Mund. Dadurch klang ihr Schluchzen gedämpft, als käme es von weit, weit her. „Vater hatte vor, dich in diesen Wald, Aokigahara, zu bringen und dich hier aussetzen… mit der Hoffnung, dass du nie herausfindest.“ Aokigahara. Der Selbstmordwald. Hier hatten schon viele Menschen ihren Tod gefunden. Wie poetisch, Vater. So sehr hasst du mich? „Ich bin mir sicher, dass es Masamis Idee war“, fügte Ayumi bitter hinzu, als hätte sie meine Gedanken erahnt, „aber er… er hat nichts dagegen unternommen.“ Sie ballte ihre kleine Hand zur Faust. Ich hatte sie noch nie so wütend und enttäuscht zugleich gesehen. Selbst dann nicht, als Vater sie nicht vor Masamis Übergriffen bewahrt hatte. Ich umfasste ihre schmalen Schultern und brachte sie dazu, mich anzusehen. „Und du? Was machst DU hier? Hat Vater dich etwa auch…“ Ayumi schüttelte heftig den Kopf. „Nachdem mir klar wurde, was sie vorhaben, habe ich mich weit hinten im Kofferraum versteckt und mich mit einer Decke zugedeckt. Ich hatte solche Panik, dass er mich entdeckt! Aber er bekam nichts davon mit. Er war wohl zu sehr damit beschäftigt, selbst nicht von jemandem entdeckt zu werden.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich mit ihr schimpfen, dass sie sich ohne nachzudenken einer Gefahr ausgesetzt hatte und nun genauso wie ich in diesem Wald feststeckte? Oder sollte ich genau deswegen ihren Mut bewundern? Schweigend umarmte ich sie. Wir saßen eine Weile da, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und lauschten der Stille. „Hyde?“ „Hm?“ „Was wird jetzt aus uns?“ Diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt und gefürchtet, dass sie früher oder später zur Sprache kommen würde. „Ich werde uns hier rausholen“, sagte ich entgegen meiner Ängste, auf ewig in diesem Wald umherzuirren. „Ich werde uns hier rausholen“, wiederholte ich selbstsicherer, „versprochen.“ Der Mond sah schweigend auf uns herab und schien uns unseres Vorhabens wegen zu verhöhnen. Kapitel 12: Die alte Hütte -------------------------- Ich konnte mein Versprechen nicht halten. Am ersten Tag war ich noch guter Dinge. Es konnte doch nicht so schwer sein, einen Weg aus diesem verfluchten Wald herauszufinden. Aber Aokigahara wurde nicht umsonst der Selbstmordwald genannt. Wer einmal hier drin gefangen war, kam nicht wieder heraus. Und ich hatte die Befürchtung, dass wir uns immer weiter in die Tiefe des Waldes verwirrten. Der Hunger und die Erschöpfung meldeten sich bereits am ersten Abend. Ayumi kannte sich ein wenig mit essbaren Beeren aus, sodass wir nicht gänzlich mit leeren Bäuchen herumlaufen mussten, doch die kleinen Mahlzeiten, wenn man das überhaupt so nennen konnte, reichten nicht aus, um uns ausreichend zu sättigen und bei Kräften zu halten. Wir beschlossen unsere Suche nach dem Ausgang für heute zu beenden und uns schlafen zu legen. Der Mond stand hoch am Himmel und schien zwischen dem Geäst auf uns herab. Der harte Boden diente uns als Bett, unsere Arme als Kissen – und unsere Körper schenkten uns Wärme. Ayumi schlief als erste ein, doch bei mir wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Ich machte mir Sorgen, wie es weitergehen sollte, und ich machte mir Vorwürfe. Dass wir beide in diesem Dilemma steckten, war allein meine Schuld. Wäre ich nur nicht so aufmüpfig gewesen, hätte ich bloß meinen Mund gehalten... Dann hätte Vater mich gar nicht erst in diesem Wald verschleppt, Ayumi wäre ihm nicht gefolgt und wir würden nicht in dieser aussichtslosen Lage stecken. Ich biss mir schmerzvoll auf die Unterlippe und drückte Ayumi näher an mich heran. Es war sinnlos, sich Vorwürfe zu machen, wenn es nicht mehr zu ändern war. Ich würde uns hier herausschaffen, wir würden ganz sicher nicht in diesem Wald verrecken. Dafür würde ich sorgen. Doch nach zwei weiteren Tagen und zwei weiteren Nächten schwand langsam meine Hoffnung. Der Pfad schien kein Ende zu nehmen. War das überhaupt ein Pfad? Drehten wir uns womöglich sogar im Kreis? Ich spürte die Wut in mir aufsteigen, die durch meine Hilflosigkeit ausgelöst wurde. „Verdammt“, fluchte ich, als wir das nächste Mal eine Pause einlegten. Ich ballte eine Hand zur Faust und ließ meinen Frust an einem Baum aus. Ayumi stellte sich zu mir und nahm meine pochende Hand in ihre kleinen Hände. „Das bringt doch nichts“, sagte sie beschwichtigend. In ihrem Blick lag keinerlei Vorwurf oder Verzweiflung. Sie schien immer noch darauf zu vertrauen, dass wir einen Weg nach draußen finden würden. Doch das Schlimmste war, dass sie immer noch Vertrauen in mich hatte, was meinen Selbsthass nur von mehr schürte. Ich hielt ihrem hoffnungsvollen Blick nicht stand und wandte meinen ab. „Lass uns weiter.“ Ich wollte mich grade in Bewegung setzen, da ergriff Ayumi aufgeregt meine Arm. „Hyde! Sieh mal! Ein Sikahirsch.“ Mein Blick folgte ihrem Zeigefinger, der in die Richtung eines Gebüsches wies. Tatsächlich. Vor uns stand ein Hirsch in seiner ganzen Pracht. Sein majestätisches Geweih ragte in die Höhe. „Wunderschön“, murmelte Ayumi ehrfürchtig. Selbst in dieser heiklen Lage, in der sie sich befanden, konnte sie sich immer noch für Dinge begeistern. Ich bewunderte sie in diesem Moment mehr denn je. Seit wir aufgebrochen waren, hatte sie sich kein einziges Mal beschwert, geschweige denn die Hoffnung verloren. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie intensiv musterte. Der Hirsch interessierte mich nicht mehr. Ich sah, wie sie ihren Atem anhielt und ihre Augen voller Begeisterung auf ihn richtete, als könnte er jeden Moment verschwinden, wenn sie nicht still war. Der Sikahirsch sah plötzlich in unsere Richtung, als in der Ferne ein Ast knackte. Mich durchfuhr ein seltsames Gefühl. Als würde mich ein menschliches Wesen anschauen. Seine braunen Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken. Doch dieses Gefühl war unbegründet, schließlich war das nur ein Tier, das nicht wissen konnte, welche dunklen Begierden ich in meinem Herzen versteckte. Der Moment schien eine Ewigkeit anzudauern, bis der Hirsch schließlich die Flucht ergriff. „Und weg ist er“, sagte meine Schwester mit einem Hauch von Traurigkeit in der Stimme. „Und weg ist er“, wiederholte ich und sah ihm nach, während er mit großen, grazilen Sprüngen zwischen den Eichen verschwand. Instinktiv ergriff ich ihre Hand und zog sie mit – dem Hirsch hinterher. „Hyde, nicht so schnell! Was ist denn auf einmal?“ Wenn ich das wüsste... Ich hatte nur das dringende Bedürfnis diesem Sikahirsch zu folgen. War es deswegen, weil er mich mit diesen menschlichen Augen angesehen hatte? „Hyde! Nun warte doch...“ Sie stolperte hinter mir her und auch ich spürte, wie schwer sich mein Körper anfühlte. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und lief in dieselbe Richtung, in der der Hirsch verschwunden war. „Hyde...“ Plötzlich hielt ich inne, sodass Ayumi ebenfalls gezwungen war, anzuhalten. Vor uns breitete sich eine Lichtung aus, als hätten sich die Bäume wie ein Vorhang geöffnet und die Bühne freigegeben. Und auf jener Bühne befand sich eine alte kleine Holzhütte, aus deren Schornstein Rauch aufstieg. „Ist das da etwa...“, murmelte Ayumi ungläubig und schien ihr Glück kaum fassen zu können, „wir sind gerettet!“ Sie lief auf die Hütte zu, bevor ich etwas erwidern konnte. „Ayumi! Warte!“, rief ich ihr nach und eilte ihr hinterher. Wir wussten nicht, wer dort wohnte, und ob derjenige Fremden gegenüber freundlich gesinnt war. Doch auch ich konnte meine Aufregung, die mit Freude einherging, nicht verbergen. Als ich Ayumi erreichte, klopfte sie bereits an die Tür. „Riechst du das?“, fragte sie mich und sog den Geruch gierig durch die Nase. Tatsächlich roch es köstlich nach Essen. Mein Magen bestätigte es mit einem lauten Knurren. Da uns nach mehrmaligem Klopfen niemand aufmachte, rüttelte ich an der Tür, die überraschenderweise unverschlossen war. Das war sehr unvorsichtig von demjenigen, doch ich störte mich nicht daran. Wir wechselten mit Ayumi einen vielsagenden Blick und im stillen Einverständnis betrat ich als erster die kleine Hütte. Es gab keinen Flur, sodass ich direkt mitten in einem großen Zimmer stand, das anscheinend als Wohn- und Esszimmer diente. Auf der rechten Seite befand sich eine kleine Kochnische, von wo aus wahrscheinlich der leckere Geruch stammte. Ich versuchte, das erneute Zusammenziehen meines Magens zu ignorieren und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Ist jemand hier?“ Keine Antwort. Ich winkte Ayumi zu mir und sie trat dicht an meine Seite. Auch ihr Magen meldete sich, sie legte verlegen ihre Hand auf ihren Bauch. Unsere Blicke wanderten automatisch zu dem Topf auf dem Herd. Ob da drin eine leckere Suppe kochte? Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, stand ich bereits in der Kochnische, mein Blick auf den Topf gerichtet. „Hyde...“, hauchte Ayumi leise, unsicher „sollten wir nicht lieber auf den Besitzer warten?“ Ich griff nach einem Handtuch und zog den Deckel hoch, ohne auf Ayumis Einwand einzugehen. Wenn wir nicht bald etwas aßen, würden wir vor Hunger umfallen. Ich würde mich im Nachhinein bei dem Koch entschuldigen. Gerade als ich die Schränke nach Tellern durchsuchte, öffnete sich die Eingangstür. Ich drehte mich abrupt um, bereit eine Erklärung abzuliefern, und hielt plötzlich inne. Eine Frau mittleren Alters stand in der Tür und sah sich verwundert um. Sie betrachtete uns mit stiller Neugierde. Ihre dunklen, aufmerksamen Augen musterten zunächst Ayumi und blieben dann an mir haften. Ihr schwarzes Haar, das durch vereinzelte graue Strähnen durchzogen war, hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing. Sie hatte einen Korb am rechten Arm hängen, in dem Kräuter und Pilze lagen. Mich überkam ein dumpfes Gefühl, sie zu kennen. Aber ich konnte mich nicht entsinnen woher. „Oh, mit Besuch habe ich gar nicht gerechnet“, sagte sie lakonisch und lächelte uns unverwandt an. „Bitte entschuldigen Sie, dass wir einfach eingedrungen sind! Wir irrten nun schon so lange und hatten solchen Hunger...“ Ayumi verbeugte sich entschuldigend und auch ich löste mich langsam aus meiner Starre. Mir war nicht bewusst, wie dümmlich ich schaute, bis ich mein Antlitz in dem Spiegel neben der Haustür erblickte. Ich schloss meinen halbgeöffneten Mund und räusperte mich. „Ja, tut uns leid...“, stammelte ich und verbeugte mich tief. „Ach, schon gut.“, sagte sie leichthin und winkte ab, „Gäste hatte ich seit Jahren nicht mehr. Ihr seid eine willkommene Abwechslung.“ Sie ging zu der kleinen Kochnische, wo ich immer noch stand, stellte ihren Korb auf dem Küchentresen ab und sah dann zu mir. Ihr durchdringender Blick jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Die Teller sind da oben.“ Ich sah sie für einen Moment verständnislos an. „Die hast du doch gesucht, oder nicht? - Ihr seht wirklich hungrig aus. Ich kann es euch nicht verübeln, dass ihr dem Geruch gefolgt seid.“ Sie wies auf ein Schränkchen, das ich noch nicht durchsucht hatte, bevor sie sich ihren Sachen zuwandte. Ayumi und ich wechselten einen überraschten Blick. Wir hatten wohl beide nicht mit dieser Gastfreundlichkeit gerechnet. Nichtsdestotrotz drängte sich mir die Frage auf, wer diese Frau eigentlich war, die so einsam und allein in den Tiefen des Aokigahara hauste. Und vor allem, warum sie mir so bekannt vorkam. Kapitel 13: Jenseits der grausamen Welt --------------------------------------- Das Leben im Aokigahara Wald wurde nach und nach zu etwas Selbstverständlichem. Wie der natürliche Lauf der Welt, könnte man sagen, als würde auf den Sommer der Herbst folgen und darauf der Winter. Keiner fragte sich, warum es so war. Es war einfach eine unumstößliche Tatsache. Als wäre es etwas vollkommen Normales, dass zwei junge Menschen die Zivilisation verließen, um ihr Leben im Aokigahara fortzusetzen. Ich konnte mir dieses Gefühl nicht erklären, aber es fühlte sich richtig an. Und ich musste gestehen, dass es keinen anderen Ort gab, an dem ich in diesem Moment lieber wäre. Natürlich war das nur meine Empfindung, und objektiv betrachtet, war unsere Situation alles andere als normal. Aber nachdem ich merkte, dass es Ayumi genauso erging wie mir und sie sich hier wohl zu fühlen schien, fühlte ich mich in meiner Ansicht bestätigt. Wahrscheinlich dachten wir beide, dass es besser war hier zu sein, jenseits der grausamen Welt, die uns außerhalb dieses Waldes erwartete. Wenn ich an unser Zuhause dachte, an Vater, an Masami und daran, was sie uns alles angetan hatten, dann konnte man diesen Umstand, in dem verfluchten Selbstmordwald gelandet zu sein, als einen wirklichen Glückstreffer bezeichnen. Garantiert wären wir vor Hunger umgekommen, wären wir nicht auf diese Hütte und die großzügige Gastgeberin gestoßen. Nun drohte uns kein Hungertod mehr, sodass es keinen Grund mehr gab, den Wald schnellstmöglich zu verlassen. Und selbst wenn wir den Wald verließen, wohin sollten wir überhaupt gehen? Wir hatten unser Zuhause verloren, wir konnten nicht mehr zurück. Ich konnte nicht zurück Aber auch Ayumi würde nie ohne mich zurückkehren wollen. Vater hatte mich verstoßen und, grob gesagt, mein Todesurteil unterschrieben, indem er mich in dem Selbstmordwald aussetzte. Ich hätte gerne sein entsetztes Gesicht gesehen, als er heimkehrte und feststellen musste, dass Ayumi verschwunden war. Ich wünschte, er würde wissen, dass sie bei mir war. Dass das, was er verzweifelt verhindern wollte, eingetreten war. Ich gönnte ihm dieses Unwissen nicht. Natürlich würde ihn Ayumis Verschwinden in jedem Fall quälen, aber ich wünschte, er wäre sich der Ironie bewusst, die hinter all dem steckte.   Ayako, die Frau, die allein in der Hütte lebte, ließ uns ohne Einwände bei sich wohnen. Ohne sie überhaupt darum gebeten zu haben, kam der Vorschlag direkt von ihr. Als Gegenleistung sollten wir nur einige Aufgaben im Haushalt verrichten, doch dies erschien mir ein fairer Preis zu sein. Sogar ein ziemlich großzügiger Preis dafür, dass sie uns auf unbegrenzte Zeit bei sich leben ließ und dafür lediglich das Mindeste, was wir ihr geben konnten, verlangte. Aus diesem Grund erschien mir ihr Angebot zunächst sonderbar und meine Alarmglocken schlugen Bereitschaft. Kein Erwachsener tat je etwas aus Gutmütigkeit. Zumindest keiner, den ich kannte. Sie hatten immer Hintergedanken bei allem, was sie taten, und so war ich auf der Hut vor Ayakos zwielichtigen Absichten. Doch die Tage vergingen und nichts geschah, was mein Misstrauen geweckt hätte, und allmählich erlaubte ich es mir, mich zu entspannen. Allerdings verschwand meine Vorsicht nicht vollständig. Die Jahre hatten mich gelehrt, Erwachsenen nicht zu vertrauen. Deswegen war es gleichgültig, wie freundlich Ayako auch zu uns war, ich konnte mein eingebranntes Misstrauen nicht abstellen.   In den ersten Nächten konnte ich kaum schlafen. Wenn ich einnickte, wurde ich von seltsamen Träumen geplagt. Sie ließen mich nie lange schlafen, doch wenn ich dann schweißgebadet und mit klopfendem Herzen erwachte, erinnerte ich mich nicht mehr an deren Inhalt. Die Träume hinterließen lediglich ein qualvolles Gefühl in mir. Wie als versuchte man sich an einen wichtigen Gedanken zu erinnern, den man grade noch im Sinn hatte. Man wusste, es war etwas Wichtiges, doch man kam einfach nicht mehr darauf. Ayumi erzählte ich nichts von meinen Träumen. Ich wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Genauso wenig hatte ich ihr davon erzählt, dass ich das Gefühl nicht loswurde, Ayako von irgendwoher zu kennen. Wie sollte ich es auch meiner Schwester erklären, wenn ich es nicht einmal selbst verstand?   Trotz meiner schlaflosen Nächte ging es mir gut. Ja, man konnte fast sagen, es ging mir schon lange nicht mehr so gut. Ayako kümmerte sich liebevoll um uns. Sie kochte und verwöhnte uns mit köstlichen Gerichten und Leckereien, die wir noch nie in unserem Leben gegessen hatten. Manchmal half ihr Ayumi beim Kochen, während ich einige Sachen im Haus erledigte. Ich reparierte hier und da kaputte Gegenstände, putzte den Kamin, hackte Holz. Aufgaben solcher Art, die früher von unseren Bediensteten erledigt wurden. Bedienstete. Wenn ich jetzt daran zurückdachte, fühlte es sich nicht nach meinem Leben an, sondern das eines anderen. Vielleicht lag es daran, dass es schon so weit zurücklag. Damals war ich noch ein kleiner naiver Junge gewesen, der genauso wie Ayumi an Märchen und Happy Ends glaubte. Aber mittlerweile glaubte ich an gar nichts mehr, außer an eine ungerechte, grausame Welt. Die Ereignisse, die auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ruin meiner Familie folgten, überschatteten selbst die glücklichste Erinnerung. Somit war es nicht verwunderlich, dass es mir schwerfiel, unser jetziges Glück zu fassen. Vor einigen Tagen hätte ich gedacht, wir müssten verhungern, und jetzt durften wir uns die Bäuche vollschlagen. Ayumi schien das Leben hier dagegen in vollen Zügen zu genießen. Ich hatte sie schon lange nicht mehr so ausgelassen und glücklich erlebt. Ich freute mich über diesen Zustand sehr. Sie hatte dieses bisschen Glück mehr als alle anderen verdient. Obgleich ich wusste, dass es nicht ewig anhalten würde…   Als ich eines Nachts wieder aus einem meiner lebhaften Träume erwachte, sah ich eine Gestalt am Fuße des Sofas stehen. Da die Hütte nur über zwei Schlafzimmer verfügte, schlief ich im Wohnzimmer. Das Mondlicht fiel nicht ausreichend ins Zimmer, um die Person, die in der Dunkelheit stand, zu erkennen. Doch ich war mir sicher, dass es sich um Ayako handelte. Ayumi konnte es nicht sein, denn sie war kleiner als die Gestalt vor mir. Selbst wenn ich die Größe nicht richtig einschätzte, so würde Ayumi nie einfach dastehen und mich anstarren. Und dass mich diese Person anstarrte, spürte ich ganz deutlich. Ein Schauer durchfuhr mich, doch bevor ich wusste, wie ich reagieren sollte, wandte sich die Person bereits ab und verschwand in Ayakos Zimmer. Da war ich mir sicher, dass sie es war. Am nächsten Morgen wusste ich nicht recht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte und ich nahm an, es würde ihr genauso gehen, doch sie benahm sich nicht anders als sonst. Ich beschloss, den Vorfall nicht anzusprechen. Ayumi zu liebe. Vielleicht interpretierte ich auch zu viel in diese nächtliche Begegnung hinein. Am Ende wäre das alles nur ein peinliches Missverständnis.   An einem sonnigen Tag trat ich aus dem Haus, nachdem ich den Kamin gesäubert hatte, und entdeckte Ayumi auf der Wiese. Sie lag auf dem Bauch, die Beine abgewinkelt, die Ellbogen auf die Erde gestützt, und las in einem Buch. Ihre Haare waren zu einem langen, komplizierten Zopf frisiert, den ihr sicher Ayako geflochten hatte. Der Wind spielte mit den wenigen losen Strähnen, die sich nicht hatten bändigen lassen. Mein Herz klopfte schneller, je näher ich zu ihr kam. Ich genoss diese Zweisamkeit, besonders weil wir keinen verurteilenden Blicken ausgesetzt waren. Das lag wohl daran, dass Ayako nicht wusste, dass wir Geschwister sind. Irgendwie hatten wir den richtigen Moment verpasst, es ihr zu erzählen. Sie hatte uns nie etwas Persönliches gefragt, nur einmal hatte sie sich dafür interessiert, wie wir in dem Wald gelandet waren. Doch als wir mit Ayumi einen Blick austauschten, winkte sie ab und sagte, das wäre nicht so wichtig. Wahrscheinlich war ihr unser Blickkontakt nicht entgangen und sie verstand, dass wir nicht darüber reden wollten. Vielleicht hielt sie uns ja für ein unglücklich verliebtes Paar, das sich, aus welchen Gründen auch immer, in diesem Wald das Leben nehmen wollte. Ich war einfach nur erleichtert, dass sie uns nicht mit neugierigen Fragen nervte. Doch manchmal spürte ich ihren Blick auf uns ruhen. Er war nicht eindringlich, nicht einmal unangenehm. Einfach nur nachdenklich und interessiert. Ich nährte mich vorsichtig Ayumi, da ich sie nicht erschrecken wollte, und als mein Schatten sich auf sie legte, sah sie zuerst überrascht, dann lächelnd zu mir auf. „Hyde.“ Ich setzte mich zu ihr, stützte meine Arme hinter mir ab und hielt mein Gesicht in die Sonne. Die Sonnenstrahlen fühlten sich angenehm an, blendeten mich aber, sodass ich die Augen für eine Weile schloss. Einen Augenblick saßen wir stillschweigen da, gemeinsam, und doch jeder für sich. „Was liest du da?“, fragte ich und spähte zu ihr rüber. „Ach, das. Das sind Märchen. Hat mir Ayako gegeben.“ Ich deutete ein Nicken an. „Bist du hier glücklich, Ayumi?“ Meine plötzliche Frage schien sie zu irritieren. Sie sah von ihrem Buch auf. Ihr Zeigefinger lag auf der Stelle, wo sie aufgehört hatte zu lesen. „Natürlich“, antwortete sie in einem Tonfall, der einen an seiner Frage zweifeln ließ. Nach dem Motto: Was stellst du denn für dumme Fragen? Doch ich ließ mich davon nicht beirren. „Wir sollten uns bald auf den Weg machen.“ „Was meinst du?“ „Ich meine, dass wir hier nicht ewig bleiben können.“ „Aber…“ „Was aber? Wie lange willst du noch bleiben? Wir haben Ayakos Gastfreundschaft lang genug in Anspruch genommen.“ Da sie betreten dreinsah, fügte ich noch schnell hinzu: „Ich finde es ja auch schön hier, aber wir sollten Ayako nach dem Weg fragen und dann gehen. Oder willst du für immer hierbleiben?“ Es war lediglich eine rhetorische Frage, aber ich sah an ihrem Blick, dass sie genau das wollte. „Und wo sollen wir hin?“ Ich sah meine Schwester nachdenklich an. Sie hatte eine gute Frage gestellt. „Tja, wohin. Das weiß ich auch nicht.“ Bevor ich antworten konnte, stand sie auf und ging zurück ins Haus. Ich sah ihr kurz nach und seufzte resigniert. Ich konnte verstehen, dass sie hierbleiben wollte und wenn ich ehrlich war, wollte ich das zum Teil auch. Aber irgendwann mussten wir gehen. Wir konnten nicht ewig bei dieser fremden Frau, über die wir so gut wie nichts wussten, wohnen bleiben. Hm, warum eigentlich nicht? Dieser plötzliche Gedanke überraschte mich und brachte mich zum Nachdenken. Wenn Ayako nichts dagegen hatte, warum sollten wir diesen Ort verlassen? Vielleicht war der Gedanke, unser Leben bis ans Ende unserer Tage in dieser Hütte zu verbringen, doch gar nicht so abwegig. Ich schnaubte und griff nach dem Märchenbuch, das Ayumi vergessen hatte mitzunehmen, und las ein paar Zeilen jenes Märchens, welches sie vor wenigen Minuten auch gelesen hatte. Die Alte aber war eine böse Hexe, die lauerte den Kindern auf und hatte, bloß um sie zu locken, ihr Knusperhäuslein gebaut. Und wenn eins in ihre Gewalt kam, da machte sie es tot, kochte es und aß es und das war ihr ein Festtag... Ich verzog das Gesicht und klappte das Buch zu. „Verrückte Alte“, murmelte ich entgeistert, als ich mich erhob, und klopfte mir den Staub von der Hose. Mein Blick wanderte, ohne mir dessen sofort bewusst zu sein, zu der kleinen Hütte. Etwas hatte sich in meinem Blickfeld geregt. Eine Gardine, die sich wie von Geisterhand bewegte. Kapitel 14: Traum oder Wirklichkeit? ------------------------------------ Ich träumte von Ayumi. Sie lief lachend über die Wiese und schaute sich ab und zu nach mir um. Ihr weißes Sommerkleid wurde vom Wind aufgebauscht, doch sie störte sich nicht daran. Ihre langen, hellbraunen Haare waren offen und wippten von einer Seite zur anderen. Wir spielten Fangen, genauso wie damals, als wir noch Kinder waren. In der Realität konnte ich sie immer einfangen, aber im Traum kam ich einfach nicht voran, egal, wie schnell ich lief. Plötzlich zogen Wolken auf, der Himmel verdunkelte sich, wirkte bedrohlich. Ich wollte nach Ayumi rufen, ihr sagen, dass wir besser reingehen sollten. Doch kein einziges Wort kam aus meinem Mund – und Ayumi lief immer weiter und lachend vor mir davon. Selbst als es anfing zu regnen, trübte es nicht ihre Stimmung. Als es dann so aussah, als würde ich sie endlich einholen, war sie nicht mehr allein. Ayako war aufgetaucht und hielt meine Schwester im Arm. „Meine lieben Kinder“, murmelte sie und strich Ayumi sanft über den Kopf. Dann blickte sie zu mir und lächelte. Die Art, wie sie lächelte, wie sie mich ansah, verschlug mir die Sprache. Es sah genauso aus wie... Plötzlich blitzte und donnerte es, sodass ich erschrocken zum unheilvollen Himmel hinaufsah. Als ich meinen Blick wieder auf Ayumi und Ayako richten wollte, waren die beiden bereits verschwunden. Stattdessen packte mich jemand von hinten an der Schulter und riss mich herum. Das vertraute Gesicht und das süffisante Grinsen vor mir waren so lebensecht, dass ich es nicht fassen konnte. „Murai!“ „Wer denn sonst, du Arschgesicht!“ Ich lachte und weinte zugleich. Mein Gefühlsausbruch war selbst in einem Traum verstörend. Seit ich klein war, hatte ich nicht mehr geheult. Aber meine Freude über das Wiedersehen mit meinem Freund war so groß, dass mein Körper anscheinend nicht wusste, wie er es verarbeiten sollte. Yuji lachte nur und klopfte mir auf die Schulter. „Nun heul nicht wie ein Baby! Ich habe euch überall gesucht. Endlich habe ich dich gefunden.“ „Aber wie hast du…“ Ich konnte meinen Satz nicht beendet, da spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Bauchgegend. Ich fasste mir automatisch an die Stelle und betrachtete dann meine blutverschmierten Hände. In Yujis Hand entdeckte ich ein blutiges Messer und sah ihn fassungslos an. „Wieso…“, brachte ich nur hervor und sackte kraftlos auf die Knie. Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum hatte er das getan? Yuji Murai – der mich immer beschützte, der mich stets maßregelte, wenn ich mal wieder eine sinnlose Prügelei anzettelte. Das ergab einfach keinen Sinn. Er trat mit seinem Fuß gegen meinen Oberkörper, sodass ich nach hinten ins Gras kippte, und setzte sich rittlings auf mich. Ohne etwas zu sagen, hielt er mir das Messer an die Kehle und betrachtete mich ruhig aus seinen unergründlichen kalten Augen. „Wir sehen uns in der Hölle, Hyde.“ Für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie Bedauern über seine steinharte Miene, doch bevor ich mir dessen ganz sicher sein konnte, schlitzte er meine Kehle auf und ich wachte mit pochendem Herzen auf. „Hyde… Hyde!“ Ayumis Stimme schien so weit weg zu sein und ich starrte sie eine Weile benommen an. Einen kurzen Augenblick wusste ich nicht einmal mehr, wo ich mich befand. „Du hattest einen Alptraum“, redete meine Schwester sanft auf mich ein und streckte ihre Hand nach mir aus. Reflexartig stieß ich sie weg, da ich immer noch den mörderischen Yuji vor meinem inneren Auge hatte. In der Dunkelheit des Zimmers konnte ich ihren fassungslosen Gesichtsausdruck erahnen. „Entschuldige“, murmelte ich und raufte mir das Haar. „Es ist nur…“ Ich seufzte, da ich nicht auf Anhieb die richtigen Worte fand. „Ich hatte von Murai geträumt.“ „Von Yuji?“ „Ja.“ „Und was hast du geträumt?“, hakte sie interessiert nach, da ich nichts mehr sagte. Ich rang innerlich mit mir, ob ich ihr nicht die Wahrheit sagen sollte. Nur hatte ich Angst, dass es sie verstören könnte. Und wenn ich mir jetzt auf die Schnelle irgendeine harmlose Version ausdachte, würde sie es mir eh nicht abkaufen. „Er hat mich umgebracht. Im Traum, meine ich. Er hat mich erstochen.“ Es schien so lächerlich, kaum hatte ich die Worte ausgesprochen. „Aber wie ich schon meinte“, sprach ich schnell weiter, wie um mich selbst zu überzeugen, „es war nur ein dummer Traum. Nichts weiter.“ Ayumis Schweigen überraschte mich nicht. Sie war sicher geschockt von meinem grotesken Innenleben. Ich wollte sofort das Thema wechseln und sie fragen, was sie überhaupt mitten in der Nacht hier zu suchen hatte, da sagte sie etwas, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ich hatte das auch geträumt.“ Ihre Stimme zitterte leicht, doch es hörte sich nicht nach einem Scherz an. „Was?“, gab ich etwas dümmlich von mir. „Dass du stirbst“, sagte sie leise, als könnten ihre Worte Wirklichkeit werden, wenn sie es laut aussprach. „Das habe ich heute Nacht auch geträumt.“ Am Ende brach ihre Stimme ganz ab und sie fing an zu weinen. Ich wusste nicht, was mich in diesem Moment mehr erschütterte – ihre Worte oder ihr Schluchzen. Ich nahm sie in den Arm und ließ mich zusammen mit ihr zurück aufs Sofa fallen. Es war zwar klein für zwei Personen, aber da Ayumi so zierlich war, passte es grade noch. „Das war nur ein Zufall“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Außerdem war das nur ein Traum. Ich lebe ja noch!“ Ich versuchte das ganze ins Lächerliche zu ziehen, doch Ayumis Zustand machte das ganze nicht gerade einfach. „Aber warum haben wir das gleiche geträumt? Das kann kein Zufall sein!“ Ich dachte einen Augenblick darüber nach und erwiderte: „Hast du denn auch wirklich dasselbe geträumt?“ „Wie meinst du das?“ „Na, hast du denn zum Beispiel auch geträumt, dass Yuji mich umgebracht hat?“ „I-ich weiß es nicht.“ „Hast du geträumt, dass er mich erstochen hat?“ „Also ich… bin mir nicht sicher.“ „Na siehst du! Alles halb so schlimm!“, sagte ich nach außen hin überzeugend, doch innerlich war mir immer noch mulmig zumute. Ayumi schwieg, doch ich spürte, dass es damit noch nicht gegessen war. „Aber du warst tot, Hyde. Du lagst im Gras, dein Hemd war voller Blut. Deine Hand lag auf deinem Bauch und deine Augen waren weit aufgerissen, als hätten sie den Tod höchstpersönlich gesehen.“ Ein Schauer lief mir über den Rücken, während ich ihr zuhörte. Konnte es etwa doch sein, dass unsere Träume identisch waren? „Erinnerst du dich noch daran, was du anhattest?“, fragte ich unvermittelt und wartete angespannt auf ihre Antwort. Ayumi schien einen Augenblick darüber nachzudenken. „Ich glaube, es war ein weißes Kleid. Wieso?“ Obwohl ich lag, wurde mir ganz schwindlig. Meine Theorie, dass es sich nur um einen Zufall handeln musste, geriet ins Wanken. Ich brachte kein vernünftiges Wort über die Lippen. Ayumi berührte meine Wange und zwang mich, sie anzusehen. Selbst durch die Finsternis spürte ich deutlich ihren direkten Blick auf mir. „Hör bitte auf, mir etwas vorzumachen, Hyde. Ich bin nicht mehr das kleine, hilflose Mädchen, das von dir beschützt werden muss.“ Ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte. Was sollte das denn jetzt heißen? Wo kam auf einmal ihr Mut her? Vermutlich, weil wir uns von Masami befreit hatten. Jetzt hatte sie nichts mehr zu befürchten. Dennoch war es unangenehm, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Meine Aufgabe war es, sie zu beschützen. Das war mein Lebenssinn. Wenn er verschwand, was hatte ich dann noch? „Ich soll dich also nicht mehr beschützen?“ Ich konnte die Bitterkeit in meiner Stimme nicht unterdrücken. „Wie du willst. Wir hatten vielleicht doch denselben Traum. In meinem Traum trugst du nämlich auch ein weißes Kleid.“ „Ich wusste es“, murmelte sie ehrfürchtig. „Ich war noch nicht fertig. – Ich träume solches Zeug schon, seit wir in diesem verfluchten Aokigahara festsitzen. Ich träume jede Nacht grausame Dinge, Ayumi. Du glaubst nicht, in wie vielen Träumen ich schon gestorben bin. Aber der grausamste Traum ist diese verdammte Realität, in der ich dich nicht haben kann.“ Die letzten Worte waren unaufhaltsam über meine Lippen gekommen. Die Grenze, die ich über die Jahre mit eisernem Willen aufrechterhalten hatte, hatte ich in diesem winzigen Moment der Schwäche überschritten. „W-was sagst du da…?“ „Du hast mich schon verstanden.“ Ich drückte sie zurück in die Kissen und sagte mit belegter Stimme: „Du hast gesagt, ich soll dich nicht mehr beschützen. Also muss ich dich auch nicht mehr vor mir beschützen.“ Meine Lippen senkten sich auf ihre, als würde eine dunkle Macht mich dazu drängen. In jedem Augenblick erwartete ich Widerstand, Geschrei, Schläge, alles, nur nicht das, was tatsächlich folgte. Sie lag still da und regte sich nicht. Ich dachte zuerst, sie hätte das Bewusstsein verloren, doch dann legte sie ihre Arme um meinen Hals und drückte sich dem Kuss entgegen. Völlig perplex verharrte ich in der Position, in der ich war. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Kurz überlegte ich einen Rückzieher zu machen, doch mein Wille war schwach. Ich verdrängte alle moralischen Grundsätze, alle Versprechen, die ich mir je gegeben hatte und gab mich meiner dunklen Begierde hin. Es war falsch und das wussten wir beide. Doch es spielte keine Rolle mehr. Hier, in diesem verfluchten Wald, waren wir nur zwei Menschen, die einander liebten. Sünde. Ich horchte auf, als ich das Flüstern hörte, und löste mich von ihren Lippen. „Was hast du?“, murmelte Ayumi mit belegter Stimme. „Hast du es nicht gehört?“ „Nein. Was denn?“ Mein Verstand spielte mir scheinbar schon Streiche. Ich schüttelte den Kopf, wie um meine Gedanken zu verdrängen, und wandte meine Aufmerksamkeit meiner Schwester zu. Nein. Sie war nicht meine Schwester. Nicht jetzt. In dem Moment, in dem ich sie erneut küssen wollte, hörte ich es wieder und diesmal war ich mir das ganz sicher. Sünde. „Hörst du es denn wirklich nicht?“ Wo kam das nur her? Ich setzte mich auf und sah mich um. Und da stand sie. Wieder am Fußende des Sofas. Ich konnte nur ihre Umrisse erkennen und dieses eine Wort, was sie immer wieder wie in Trance sagte. Mich erfasste blankes Entsetzen, doch ich war unfähig mich zu rühren. Dann wurde es still. Sie schien erst jetzt bemerkt zu haben, dass ich sie ansah. Sie hob langsam ihren Kopf und stürzte sich plötzlich auf mich, indem sie immer wieder Sünde schrie. Mit einem Schrei erwachte ich aus diesem entsetzlichen Alptraum, der mich in den Grundfesten erschütterte. Ein Traum? Es war alles nur ein Traum! Beinahe hätte ich laut losgelacht. Natürlich! Ayumi würde sich nie von mir küssen lassen. Das war undenkbar! Ja, sie würde meine Gefühle nie erwidern… „Hyde?“ Ayumis verschlafene Stimme riss mich jäh aus meinen Gedanken. „Ayumi!? Was tust du hier?“, stieß ich hervor. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie neben mir lag und sich nun langsam aufsetzte. Vor dem Fenster brach der Tag langsam an und die ersten Lichtstrahlen stahlen sich ins Zimmer der kleinen Hütte. Ayumi sah mich mit einem müden Lächeln an. „Was ich hier mache? Du Dummerchen, ich habe doch hier geschlafen. Gestern Nacht hatte ich einen Alptraum und bin zu dir gekommen.“ Ich hatte langsam das Gefühl verrückt zu werden. Was war Traum, was Wirklichkeit? Die Grenzen schienen ineinander überzulaufen, sodass ich kein Gefühl mehr für Realität hatte. Wenn das was sie sagte, der Wahrheit entsprach, hatten wir uns dann…? Ich packte meine Schwester an den Schultern und sah ihr ernst in die Augen. „Was… ist danach passiert? Nachdem du zu mir gekommen bist.“ Ich traute mich nicht, es direkt beim Namen zu nennen und sie zu fragen, ob wir uns letzte Nacht geküsst hatten. Schon allein der Gedanke daran, versetzte mich leicht in Panik. „Hyde, du machst mir Angst…“ Ich schüttelte sie leicht, aber entschlossen. „Was ist danach passiert?!“, wiederholte ich und ihre großen grünen Augen sahen mich verständnislos an. „Nichts. Wir sind dann irgendwann eingeschlafen.“ Erleichterung mischte sich mit Enttäuschung, doch ich ließ mir nichts anmerken. „Du hattest wohl wieder schlecht geträumt“, hörte ich sie sagen, nachdem ich sie losgelassen hatte. „Hast du wieder denselben Traum geträumt?“ Sie musste meinen verstörten Blick bemerkt haben, dennoch fuhr sie unbeirrt fort. „Es war kein Zufall, dass wir letzte Nacht dasselbe geträumt haben. Es muss ein böses Omen gewesen sein.“ Ihre Worte ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Was ging hier vor? Seit wir in Aokigahara waren, träumte ich wirres Zeug und jetzt konnte ich die Realität nicht einmal mehr von meinen Träumen unterscheiden. Vielleicht wurde ich ja wirklich verrückt. Aber abgesehen davon… Wie konnte es sein, dass Ayumi denselben Traum hatte wie ich? Langsam aber sicher manifestierte sich eine tiefgehende Unruhe in meinem Inneren. Ich glaubte an keine Omen so wie meine Schwester, aber ich wusste, dass das hier nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Außerdem beschlich mich das komische Gefühl, dass ich noch etwas anderes, äußerst Wichtiges vergessen hatte. Eine Erkenntnis aus meinen Träumen. Doch egal, wie sehr ich mich versuchte daran zu erinnern, ich bekam den Gedanken einfach nicht zu fassen. Kapitel 15: Abstieg in die Finsternis ------------------------------------- So sehr mich dieser Ort faszinierte, umso mehr verstörte er mich auch. Meine Alpträume nahmen kein Ende, wurden grausamer, gewalttätiger, realer. Mit jedem meiner Tode kam das kalte Erwachen. Schweißüberströmt und mit rasendem Herzklopfen tauchte ich an die Oberfläche meines Bewusstseins und schnappte nach Luft wie ein an Land gezerrter, zappelnder Fisch. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich die Träume kaum noch von der Realität unterscheiden konnte. In einer dieser Nächte hatte ich Ayumi geküsst, nein, nicht wirklich geküsst, sondern nur geträumt, ich würde es tun. Dabei fühlte es sich so verdammt real an, dass ich immer noch das Gefühl hatte, es wäre ein Teil meiner Erinnerung. Wie war das möglich? Außerhalb von Aokigahara hatte ich auch Alpträume gehabt, aber diese handelten oft nur von Masami und waren nie so lebhaft. Aber in diesem verfluchten Wald ließ sich eine klare Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion nicht mehr ziehen. Seit jener Nacht, in der Ayumi und ich denselben Traum hatten, erfuhr sie auch von meinen anderen Alpträumen, die mich regelmäßig quälten. Ihre Unbekümmertheit, mit der sie in den Tag hineinlebte, verschwand und sie fühlte sich allmählich unbehaglich an diesem Ort, genauso wie ich. Doch den entscheidenden Schritt zu gehen und Aokigahara endgültig zu verlassen, wagten wir noch nicht. Die Begegnung mit Ayako war das Beste, was uns bis jetzt in unserem Leben passiert war. Außerdem war die Frage noch nicht geklärt, wohin wir überhaupt gehen sollten. Ayumis Vorschlag, uns an Ayako zu wenden, wurde von mir vereitelt. Diese Frau wohnte schon länger hier und es wäre möglich, dass sie auch von solch bizarren Träumen geplagt wurde. Ihr Rat könnte hilfreich sein, so Ayumis Theorie. Aber etwas hinderte mich daran, Ayumis Idee umzusetzen. Trotz Ayakos freundlichen Art und Fürsorge konnte ich kein Vertrauen zu ihr aufbauen. Abgesehen von ihrer unheimlichen Angewohnheit, mitten in der Nacht am Fußende meines Sofas aufzutauchen, war ich allen Erwachsenen gegenüber misstrauisch eingestellt. Angefangen bei Masami, Vater, den Lehrern, bis hin zu den Nachbarn und den ehemaligen Bediensteten – sie alle interessierten sich nur für sich selbst und ihre selbstsüchtigen Begierden. Sie verschlossen die Augen vor der Wahrheit und lebten in ihrer Scheinwelt, während Ayumi und ich gnadenlos der Realität ausgeliefert waren. Hatte ein Erwachsener, der von unserem Leid wusste, uns je geholfen, uns beschützt? Ganz sicher nicht. Also warum sollte dann eine wildfremde Frau das tun, wenn es darauf ankam? Ich war mir sicher, dass hinter der liebevollen, nach Gebäck duftenden Ayako ein dunkles Wesen lauerte, das früher oder später aus dem Sumpf ihres Herzens herauskriechen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Und wenn es soweit war, dann sollten wir nicht hier sein. Es gab nur zwei Menschen auf dieser Welt, denen ich vollkommen vertraute, und einer davon war Ayumi. Der Tod hatte mir meine Mutter genommen und das Leben nahm uns den Vater. Was mit Ayumis Mutter geschehen war, wussten wir nicht. Nachdem sie Ayumi bekommen hatte, war sie einfach abgehauen. Wenn die eigenen Eltern einen im Stich ließen, was blieb einem dann noch? Man war sich selbst überlassen und musste um sein Überleben kämpfen. Aber wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich genug vom Kämpfen. Ich wünschte, wir könnten für immer hier bleiben, doch intuitiv hatte ich von Anfang an gewusst, dass das unmöglich war und wir diesen Ort irgendwann verlassen mussten. Wenn meine Träume nicht wären und ich mehr Vertrauen aufbringen könnte, vielleicht, aber auch nur vielleicht, wäre es ganz anders gekommen.   An einem frühen Nachmittag hackte ich draußen vor dem Haus Holz für den Kamin. Nachts wurde es langsam kühler und so hatte mich Ayako damit beauftragt, für die Wärme zu sorgen. Als ich eine kurze Pause einlegte, sah ich zu meiner Schwester, die in unmittelbarer Nähe Wäsche an die Leine hängte, und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Das Holzhacken war eine harte Arbeit, da musste Ayako ganz froh sein, dass das jemand übernahm. Momentan war sie unterwegs, um etwas zu Essen zu besorgen. Wir wussten immer noch nicht, was eine Frau wie Ayako dazu veranlasst hatte, der Gesellschaft den Rücken zu kehren und sich in Aokigahara zurückzuziehen. Soweit ich es beurteilen konnte, war sie eine schöne Frau, und in jungen Jahren bestimmt noch schöner. Sie hätte sicherlich keine Probleme gehabt, einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen. Aber vielleicht wollte sie das gar nicht, vielleicht lief ihr Leben nicht ihren Vorstellungen entsprechend, sodass es keinen anderen Ausweg gab, als in die Einsamkeit zu flüchten. Ich konnte aus eigener Erfahrung sagen, dass das Leben einem oft einen Strich durch die Rechnung machte und man gezwungen war, andere Wege zu gehen. Während ich meinen Gedanken nachhing, brachte ich das gehackte Holz ins Haus und legte es vor dem Kamin ab. Mein Blick wanderte ohne ein besonderes Ziel durch die gemütlich eingerichtete Hütte, und blieb bei Ayakos Schlafzimmer hängen. Mir war aufgefallen, dass die Tür nie offen stand und ich bis jetzt noch keinen Blick hineinwerfen konnte. Während ich mich fragte, wie es wohl hinter der geschlossenen Tür aussehen mochte, trugen mich meine Beine automatisch dahin und ehe ich mich versah, stand ich mitten in ihrem Zimmer. Die Tür war unverschlossen, anders, als ich es erwartet hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und mit ihm stieg meine Aufregung. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, in ihre Privatsphäre einzudringen, da sie sich auch nicht in unsere einmischte, aber solange sie nichts davon erfuhr... Das Zimmer war ziemlich klein, höchsten 5 Tatami-Matten groß. Es war schlicht eingerichtet und auf das Nötigste reduziert. Was mir auf den ersten Blick auffiel war, dass es keine Gegenstände gab, die dem Zimmer eine persönliche Note verliehen. Keine Bilder, keine Fotos, keine Bücher. Die Wände waren kahl und ausdruckslos. Hier konnte praktisch jeder wohnen, ohne dass man auf seine Person hätte schließen können. Ich beschloss kurzerhand, mich ein wenig genauer umzusehen und öffnete als erstes den Wandschrank, in dem sich nur ein Futon befand. Ich schob die Schiebetüren wieder zu und nahm mir die weiß lackierte Kommode vor. In diesem Moment kam ich mir vor wie ein Perverser, der die Sachen einer Frau durchwühlen wollte, und so beschloss ich, nur einen Blick hineinzuwerfen, ohne etwas anzufassen. In den Schubladen befand sich nur Ayakos Kleidung. Beim Öffnen der untersten Schublade war meine Hoffnung bereits gering, doch noch auf etwas zu stoßen, das mir mehr Aufschluss über Ayakos Persönlichkeit oder ihre Vergangenheit geben würde, doch ich sollte mich täuschen. In dem gänzlich leeren Fach lag ein einzelnes Polaroid Foto. Überrascht über diesen Befund nahm ich das Foto heraus, um es mir genauer anzuschauen. Darauf war eine junge Frau mit einem Baby im Arm abgebildet. Daneben stand ein kleiner Junge. Die Frau lächelte in die Kamera, doch sie erweckte nicht den Eindruck aufrichtiger Freude. Es war ihr Blick, der ihr Lächeln Lügen strafte. Die Gesichter der Kinder hingegen waren mit einem Stift unkenntlich gezeichnet, wodurch man ihren Gesichtsausdruck nicht identifizieren konnte. Ich fragte mich, welche Geschichte sich wohl hinter diesem Bild verbarg. Obwohl das Foto etwas älter war, konnte man Ayakos jüngeres Ich eindeutig erkennen. Die Frau mit dem zaghaften Lächeln und den melancholischen Augen war ohne Zweifel Ayako. Ich erschauderte, als mir die verblüffende Ähnlichkeit mit Ayumi auffiel. Beide hatten dieselben Gesichtszüge, dieselbe Form der Augen, sogar die Nase war genauso schmal und perfekt wie die von Ayumi. Ich fragte mich, warum mir das nicht schon vorher aufgefallen war. Und urplötzlich erinnerte ich mich. Wie ein Stromschlag durchzog mich die Erinnerung an jenen Traum, den ersten Alptraum, den ich in diesem fluchten Wald hatte. Verfluchte scheiße! Deswegen kam mir Ayako so bekannt vor. Ich war ihr bereits in meinem Traum begegnet. Aber wie war das möglich? „Was tust du da?“ Ich fuhr erschrocken herum, als Ayumis Stimme von der Türschwelle erklang. Ihr fragender Blick durchbohrte mich, verlangte nach einer Antwort, doch ehe ich sie ihr geben konnte, trat sie zu mir. „Du darfst nicht hier sein, Hyde! Das gehört sich nicht“, tadelte sie mich wie ein kleines Kind, doch stieß dabei auf taube Ohren. „Sieh dir das an“, sagte ich und hielt ihr das Foto hin, das ich soeben in der Schublade gefunden hatte. Sie zögerte, doch warf schließlich widerwillig einen Blick darauf. „Sind das Ayako und ihre Kinder?“ „Ich nehm's mal an. Aber fällt dir nicht noch etwas anderes auf?“ Ayumis Stirn legte sich nachdenklich in Falten. „Sie sieht irgendwie traurig aus...“ Ich wurde etwas ungeduldig. Mein Herz pochte vor Aufregung gegen meinen Brustkorb, als wollte es herausspringen, und ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Ich wollte ihr sofort von meinem Traum erzählen, von Ayako, die mir darin erschienen war, und von dieser verblüffenden Ähnlichkeit mit meiner Schwester, die ihr anscheinend gar nicht auffiel. „Ja, aber findest du nicht, sie sieht aus wie...“ Meine letzten Worte wurden durch einen dumpfen Knall unterbrochen, als würde etwas zu Boden fallen. Ayumi zuckte erschrocken zusammen und wir sahen beide gleichzeitig zur Schlafzimmertür. Kaum löste ich mich aus meiner Starre, um das Foto in der untersten Schublade zu verstauen, da sah ich aus dem Augenwinkel eine Person eintreten. Das Foto in der Hand haltend richtete ich mich wieder auf und sah zu der Frau, die uns ohne Umschweife bei sich aufgenommen und dafür kaum etwas als Gegenleistung verlangt hatte, die uns nie nach unserer Vergangenheit gefragt hatte, und fühlte mich in diesem Augenblick wie ein Verräter. „Was habt ihr hier zu suchen?“ Ayako sah uns nacheinander fragend an und ihre ruhige Fassade bröckelte, als sie das Foto in meiner Hand entdeckte. Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich schlagartig, ihre Unterlippe bebte, als würde es sie große Mühe kosten, ihre Fassung zu bewahren. Ayumi fing an, sich zu entschuldigen, doch das schien Ayako nicht im geringsten zu interessieren. Ich spürte, wie sich etwas anbahnte. Eine nervenaufreibende Spannung, die mit einem Mal alles und jeden verschlingen könnte. „Lass uns gehen, Ayumi.“ „Was? Aber...“ Ich achtete nicht auf den Protest meiner Schwester, sondern ergriff ihre Hand und zog sie mit mir. Meine Intuition sagte mir, dass wir so schnell wie möglich verschwinden sollten. „Nein!“ Ayako baute sich vor uns auf und versperrte uns den Weg. Als sie in unsere verdutzten Gesichter sah, rang sie sich ein Lächeln ab. „Wohin wollt ihr denn?“ „Es wird Zeit für uns zu gehen. Wir haben Ihre Gastfreundschaft zu lange beansprucht.“ In der Regel rechtfertigte ich mich nicht für meine Entscheidungen, aber das waren wir ihr schuldig. „Aber wohin wollt ihr denn gehen?“, hakte sie noch einmal nach und drängte mich mit ihrer Frage in die Ecke. „Uns fällt schon etwas ein.“ Es klang nicht sehr überzeugend, aber mir fiel keine bessere Antwort ein. Ich musste gestehen, dass es mir schwer fiel, diesen Ort zu verlassen. Ayako kümmerte sich um uns, als wären wir ihre eigenen Kinder. Ja, sie hatte uns sogar besser behandelt als unser eigener Vater. Und auch wenn ich mich gegen jedes bisschen Zuneigung, die von einem Erwachsenen kam, sträubte, so sehnte ich mich gleichzeitig auch danach. Doch diese innere Unruhe ließ mich nicht los und drängte mich zur Flucht, weswegen ich meine kindliche Sehnsucht nach der Liebe einer Mutter im Keim erstickte. „Ihr dürft nicht gehen... Ihr dürft mich nicht verlassen!“ Ayakos verzweifeltes Flehen durchbrach meine innere Mauer und wühlte mich auf. Sonst konnte nur Ayumi bis zu meinem Herzen vordringen. Ich kämpfte gegen das Gefühl an, das mein Herz erweichen wollte, und senkte den Blick. Das Foto in meiner Hand fiel mir ins Auge. Die Kinder, dessen Gesichter mit einem Stift unkenntlich schraffiert wurden. Ich fuhr mit meinem Daumen darüber und spürte die tiefen Einkerbungen. Jemand musste mit ziemlicher Kraft hineingedrückt haben. Aus Wut oder sogar aus Hass. Ich fühlte mich auf eine merkwürdigerweise Weise mit diesen beiden Kindern verbunden. Vielleicht führten sie dasselbe beschissene Leben wie Ayumi und ich. Vielleicht teilen wir dasselbe Schicksal. Ich hielt Ayako das Foto vors Gesicht. „Sind das Ihre Kinder? Warum sind ihre Gesichter unkenntlich gemacht? Waren Sie das?“ „Hyde...“, hörte ich Ayumi von der Seite flüstern, „nicht.“ „Schon gut, Ayumi“, sagte die Frau vor uns und ihre Stimme hatte wieder an Kraft gewonnen, „die Neugier ist des einen Freud und des anderen Leid.“ Ein bitteres Lächeln legte sich auf ihre schmalen Lippen. „Ich werde dir deine Fragen gerne beantworten, Hyde. Aber dafür seid ihr mir auch ein paar Antworten schuldig.“ In der Welt der Erwachsenen bekam man nichts umsonst. Sie wollten immer eine Gegenleistung. Egal, wie gering diese auch sein mochte. „Geht klar.“ Ich reichte Ayako das Foto und wir folgten ihr in die Kochnische. Der Korb, den sie immer mitnahm, um Nahrungsmittel wie Pilze und Kräuter, Beeren und Äpfel zu beschaffen, und deren Inhalt lagen auf dem Boden zerstreut. Das musste das Geräusch von vorhin gewesen sein. Ayumi half Ayako die Sachen aufzuheben und auf den Tresen zu legen. „Setzt euch. Ich mache uns Tee.“ „Wir wollen nicht lange bleiben. Wir wollen nur Antworten.“ Ayumi berührte meinen Arm und gab mir zu verstehen, dass ich mal wieder den Bogen überspannte. Ich presste die Lippen aufeinander und setzte mich widerwillig an den Tisch. „Wir trinken gerne einen letzten Tee zusammen, Ayako“, sagte Ayumi versöhnlich und nahm neben mir Platz. Meine Schwester wusste, dass wir heute noch gehen würden und das mein Entschluss unumstößlich war, aber sie wollte Ayako nicht vor den Kopf stoßen. Ayumis Mitgefühl und Güte überraschte mich immer wieder. Als der Tee serviert wurde, setzte sich Ayako uns gegenüber. Sie holte das Foto hervor und legte es vor sich auf den Tisch. „Du wolltest wissen, ob das meine Kinder sind. Ja, so ist es. Aber ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo sie sind und ob es ihnen gut geht. Ich habe nur dieses Foto.“ „Wie traurig“, murmelte Ayumi, „wie ist das denn passiert? Hat man dir deine Kinder weggenommen?“ „Ja.“ „Aber wie kann das sein? Dazu hat doch niemand das Recht.“ „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“ Ayumi und ich wechselten einen kurzen Blick. „Wie meinst du das? Erinnerst du dich nicht mehr?“ Ayumi war ganz schön neugierig. Neugieriger als ich. Sie stellte so viele Fragen, auf die ich nicht einmal gekommen wäre. Während wir auf Ayakos Antwort warteten, schlürfte Ayumi ihren heißen Tee. „Ich erinnere mich schwach.“ Ihre Hand zitterte leicht, doch sie bekam das schnell unter Kontrolle. „Genug von mir. Jetzt seid ihr dran. - Warum seid ihr in diesem Wald?“ „Warum sind Sie es?“ „Fragen mit Gegenfragen zu beantworten ist nicht fair, Hyde.“ „Sie haben nicht alle unsere Fragen beantwortet. Warum sind die Gesichter der Kinder so unkenntlich schraffiert? Wenn es doch das einzige Foto ist, was Sie haben.“ Ayumi stellte ihre leere Tasse auf dem Unterteller ab, wohingegen Ayako und ich unseren Tee noch nicht einmal angerührt hatten. „Tja...“ Ayako legte ihren Kopf schief und betrachtete geistesabwesend die Fotografie. „Sie hatten diese teuflischen Augen, weißt du.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinte und starrte sie entsetzt an. „Wovon zur Hölle sprechen Sie?“ „Genau. Hölle. Da gehören sie hin. Alle Sünder gehören dahin.“ Sie sprach mit der absoluten Ruhe eines Lehrers und dem Wahnsinn eines Fanatiker. Das wurde mir langsam zu abgefahren. Die Frau hatte sie doch nicht mehr alle. Ich wollte mir nicht länger diesen Schwachsinn anhören. Mir war aufgefallen, dass Ayako die ganze Zeit keine konkreten Antworten gegeben hatte. Es wäre gut möglich, dass sie uns angelogen hatte. „Lass uns gehen, Ayumi.“ Meine Schwester reagierte nicht und saß still in sich zusammengesunken da. „Ayumi! Was hast du?!“ Ich rüttelte sie an den Schultern, doch sie starrte mit einem leeren Blick vor sich hin. „Was haben Sie mit ihr gemacht?“, schrie ich Ayako an, doch die Antwort erübrigte sich, als mein Blick auf die einzig leere Tasse fiel. „Keine Sorge. Sie wird wieder. Vorausgesetzt du tust, was ich sage.“ Meine Intuition hatte mich die ganze Zeit nicht getäuscht. Scheiße... Hätte ich doch nur auf sie gehört! Wir hätten sofort verschwinden sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten, aber ich wollte ja unbedingt etwas über die gesichtslosen Kinder auf dem Foto erfahren. Wahrscheinlich hatte ich auch Recht, was deren Schicksal betraf. „Was wollen Sie von mir?“ Ayako hob ihre Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. „Köstlich. Probiere mal.“ Ich wusste nicht, was für ein krankes Spiel sie spielte, aber es machte mich rasend vor Wut. Ich ballte meine Hand zur Faust und schlug auf den Tisch, sodass die Tassen auf ihren Tellerchen klapperten. „Was wollen Sie, verdammt!?“ Ayako war von meinem Ausbruch unbeeindruckt. Sie stellte die Tasse wieder ab und sah mir direkt in die Augen. „Ich möchte nur, dass ihr bleibt.“ Diese Frau war unberechenbar. Wenn ich nicht das tun würde, was sie verlangte, würde Ayumi dann für immer in diesem Zustand bleiben? Ich wollte es nicht herausfinden. Mir blieb keine andere Wahl, als zu gehorchen. Hilflosigkeit war ein dreckiges Miststück. „In Ordnung“, gab ich widerwillig von mir. Ayako lächelte flüchtig. „Tut mir leid, Hyde. Aber ich vertraue dir nicht mehr. Du warst ohne Erlaubnis in meinem Zimmer, hast meine Sache durchwühlt, dich in meine Vergangenheit gedrängt, um deine Neugierde zu befriedigen. Dennoch... ich will, dass ihr hier bleibt. Bei mir. Ihr seid fast wie meine eigenen Kinder.“ In ihrem Blick blitzte Wahn auf und ich schluckte. „Was soll ich tun, damit Sie mir glauben?“ „Viel kannst du nicht tun. Vertrauen lässt sich nicht so einfach aufbauen. Aber das weißt du ja am besten, schließlich hast du mir doch nie richtig vertraut, nicht wahr?“ Ich schwieg, aber sie hatte mich natürlich durchschaut. Ayako erhob sich und deutete mir an, ihr zu folgen. Ich überlegte kurz, ob ich sie überwältigen sollte, doch das würde Ayumi nur schaden. Also schluckte ich meine Wut demütig herunter. Nach Ayakos Geheiß schob ich das Sofa zur Seite und entdeckte überrascht eine Falltür. „Rein da.“ Ich öffnete sie und blickte in die Finsternis. Bevor ich hinabstieg, wandte ich mich noch einmal an die Frau, die sich um uns besser gekümmert hatte als unsere Eltern und die letztendlich genauso unberechenbar und grausam war wie sie. „Was meinten Sie vorhin, als Sie sagten, Ihre Kinder hätten teuflische Augen?“ Einen Augenblick lang verdüsterte sich ihre Miene. Sie trat einen Schritt näher an mich heran und schien etwas in meinem Blick zu suchen. „Sie waren grün.“ Kapitel 16: Grüne Augen ----------------------- Genetik ist eine faszinierende Sache. Ayumi war der beste Beweis dafür. Niemand in unserer Familie hatte grüne Augen und hellbraunes Haar. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Früher malte ich mir oft aus, wie wohl meine Mutter ausgesehen hatte. Da sie nach meiner Geburt verstorben war, hatte ich sie nie kennengelernt. Fotos hatten wir auch keine, und da Vater nie von ihr sprach, hatte ich keinen Anhaltspunkt, an den ich mich klammern konnte. Sie musste nicht zwangsläufig wie ich oder mein Vater schwarzes Haar und braune Augen haben. Genauso gut hätte sie blond und mit blauen Augen sein können. Solange die Gene meines Vaters dominierten, würde ich dieselben äußerlichen Merkmale aufweisen, wie jetzt auch. Doch in meiner Fantasie sah ich meiner Mutter ähnlicher als meinem Vater. Warum ich das unbedingt wollte? Weil es mir zuwider war, dem Mann zu gleichen, der seine Kinder sich selbst überlassen hatte, der in eine Depression verfiel und die Augen vor den grausamen Machenschaften seiner neuen Ehefrau verschloss. Wer würde so einem Menschen gleichen wollen, selbst wenn es bloß das Aussehen war? Aber die Sache mit der Vererbung war folgende: Man konnte sich leider nicht aussuchen, welche Merkmale man erbte. Ich wusste, dass ich meinem Vater sehr ähnelte - und ich verabscheute es. Deswegen freute es mich, als Ayumi mir sagte, meine Augen hätten einen grünen Schimmer. Es steigerte meine Hoffnung, dass ich nicht gänzlich so aussah wie er. Dass vielleicht doch ein Erbgut meiner Mutter sich durchgesetzt hatte und sich in meinem Äußeren widerspiegelte. Um mich davon zu überzeugen, hatte ich sogar einmal intensiv in den Spiegel geblickt, auf der Suche nach dem Grün, von dem Ayumi sprach, doch zu meiner Enttäuschung war die Iris schlicht und ergreifend braun. Als ich Ayumi davon erzählte, meinte sie jedoch, dass wäre normal. Es hing alles davon ab, wie sich das Licht in den Augen brach. Ich glaubte ihr, denn sie war klüger als ich, um solche Dinge zu wissen. Bis auf den einen Tag, an dem wir zusammen schwänzten, um stattdessen durch die Stadt zu bummeln und Eis zu essen, hatte sie den Unterricht kein einziges Mal verpasst. Sie hatte gute Noten und bemühte sich sehr. Das totale Gegenteil von mir. Doch obwohl ich auf Ayumis Kenntnisse vertraute, unternahm ich keinen weiteren Versuch, meine Augenfarbe zu inspizieren. Ich hatte Ayumis grüne Augen schon immer als etwas Besonderes betrachtet. In Japan war das ja auch ein seltenes Phänomen. Ich beneidete Ayumi darum, dass dieses Merkmal so ausgeprägt war. Obwohl sich unsere Gesichtszüge ähnelten, stach sie mit ihrem Aussehen meilenweit hervor. Sie konnte sich von unserer Familie abheben. Sie konnte wenigstens so tun, als gehörte sie nicht zu uns. Grüne Augen, Ayumis grüne Augen, waren wunderschön. Wie konnte man so etwas Einzigartiges hassen? Ayako hatte grüne Augen sogar als teuflisch bezeichnet. Welchen Grund könnte es für ihre Abneigung geben? Hasste sie womöglich den Vater der Kinder und übertrug diesen Hass auf die Kinder, weil sie die Augen ihres Vaters geerbt hatten? Konnte sie deswegen den Anblick grüner Augen nicht ertragen? Es war zwar ein banaler Grund, aber ich könnte ihn durchaus verstehen. So wie ich meinem Vater nicht ähneln wollte, so wollte Ayako nicht, dass ihre Kinder ihrem Vater ähnlich sahen. Aber bei der Verteilung der Gene hatte keiner ein Mitspracherecht. Niemand konnte sich sein Aussehen aussuchen. Es war wie ein Glückslos. Der eine ging als Gewinner hervor, der andere musste mit der Niete leben. Doch anders als beim Glückslos gab es keine zweite Chance. Ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen und es interessierte mich ehrlich gesagt auch nicht. Was ich wusste war, dass Ayako zwei Gesichter hatte. Hinter der Maske einer Heiligen verbarg sich eine Verrückte. Und mich quälte die Ungewissheit, ob ihre Missgunst gegenüber grünen Augen sich auf Ayumi übertragen hatte. Bis jetzt war mir nicht aufgefallen, dass sie Ayumi aufgrund ihrer Augenfarbe anders behandelte. Aber nachdem wir in ihrer Vergangenheit herumgewühlt hatten, hatte sich Ayako schlagartig verändert. Sie hatte Ayumi etwas in den Tee gemischt und mich hier unten eingesperrt, damit wir nicht fortgingen. Aber aus welchem Grund? Wollte sie auf diese Weise ihrer Einsamkeit entfliehen? Oder waren ihre wahren Absichten abgrundtiefer, als ich es mir vorstellen mochte? Je mehr ich mir den Kopf zermarterte, desto unruhiger wurde ich. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konnte ich in ihre Falle tappen? Warum hatte ich das nicht vorhergesehen? Warum nicht auf mein Gefühl gehört? Aus meiner Machtlosigkeit heraus, fluchte ich innerlich und raufte mir das Haar. Ayumi war jetzt ganz allein mit Ayako, während ich unter den Dielen eingesperrt war. Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ihr etwas zustoßen würde. Durch die Dielen über mir hatte man eine beschränkte Sicht. Man konnte nur erahnen, wenn jemand über einem vorbeilief. Ayako hatte das Sofa nicht wieder über die Falltür geschoben, sodass kleine Lichtstrahlen durch die Spalten hinabfielen. Ich horchte auf, um den Geräuschen zu lauschen, aber es war totenstill. „Ayumi!“, schrie ich, als ich es nicht mehr aushielt, und klopfte mit meiner Faust laut gegen die Decke. „Ayumi, hörst du mich?!“ Wie im Wahn klopfte ich und rief ihren Namen, als plötzlich ein Augenpaar in meinem Sichtfeld auftauchte und ich erschrocken zurückwich, soweit es eben ging. „Gib endlich Ruhe, Hyde. Ayumi schläft. Du willst sie doch nicht etwa wecken?“ Mein Herz klopfte wild in meiner Brust, ich konnte kaum einen richtigen Gedanken fassen. „Was wollen Sie von uns, Sie verdammte Hexe?! Lassen Sie uns gehen!“ Ich wusste, es war sinnlos mit ihr zu reden. Aber ich musste doch irgendetwas tun. „Ich kann euch nicht gehen lassen.“ „Warum?“ Ayako zog sich zurück, ohne mir eine Antwort zu geben. „WARUM?!“ Mein Ausbruch war vergeblich, denn sie ließ sich nicht erweichen. Nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte, spürte ich den pochenden Schmerz in meinen Fingerknöcheln.   Es war bereits Nacht, als Ayumi leise gegen den Boden klopfte. „Hyde?“ Ich befand mich im Halbschlaf, sodass ihr Flüstern sofort meine Aufmerksamkeit erweckte. „Ayumi! Geht es dir gut?“ „Ja. Und dir?“ „Ja, alles gut. Kannst du die Falltür öffnen?“ Ayumi verneinte. „Sie ist durch ein Schloss versperrt. Ayako muss den Schlüssel irgendwo versteckt haben. Ich werde ihn suchen und dich hier rausholen.“ „Ayumi, hör mir zu. Sei vorsichtig. Die Alte hat sie nicht mehr alle!“ „Ich pass schon auf. Diesmal werde ich dich beschützen, Hyde.“   Wegen der ganzen Aufregung hatte ich nicht daran geglaubt, noch einmal einzuschlafen, aber der Tag hatte mich geschafft. Ich konnte den Kampf gegen die Erschöpfung nicht länger bestehen und verfiel in einen tiefen Schlaf. In dieser Nacht träumte ich von grünen Augen. Sie verfolgten mich, waren überall, wo ich auch war. Wenn ich im Klassenzimmer saß, starrten sie mich von dem Buchumschlag an; wenn ich auf dem Dach meiner Schule lag, leuchteten sie am helllichten Tag von Himmel herab wie Sterne und wenn ich in den Spiegel sah, dann blickten sie mir entgegen: meine eigenen, grünen Augen. Ich wurde von einem lauten Krach geweckt. Mit Kopfschmerzen und steifem Nacken versuchte ich zu begreifen, was über mir vor sich ging. Mein beschränktes Sichtfeld war mir keine große Hilfe, nur die Geräusche ließen mich erahnen, was in der Hütte passierte. Plötzlich wurde es ganz still. Ich ahnte Schlimmes und rief Ayumis Namen. Doch es blieb weiterhin still. Wenn ihr etwas zustieß, würde ich mir das niemals verzeihen. Das war alles meine Schuld. Von dem Moment an, als mein Vater mich in den Wald verschleppte, bis zu diesem Augenblick der vollkommenen Hilflosigkeit. Ich hasste mich dafür, dass ich Ayumi immer in meine Probleme hineinzog, aber diese Erkenntnis half mir jetzt auch nicht weiter. Hätte ich bloß nicht so eine große Klappe gehabt, wäre das alles niemals passiert. Ich war hier unten eingesperrt, während Ayumi über mir ums Überleben kämpfte. Ich malte mir grausame Szenarien aus und bekam Panik. In meiner blinden Wut klopfte ich erneut gegen die Decke, sodass der Staub mir ins Gesicht rieselte. „Scheiße“, fluchte ich und rieb mir meine brennenden Augen. In meinen Ohren rauschte das Blut, ich kriegte kaum Luft. Das konnte doch nicht so enden... Etwas raschelte über mir und ich horchte auf. Als würde jemand versuchen, das Schloss zu öffnen. Ich duckte mich, soweit es meine Position erlaubte, und wappnete mich gegen das, was folgen würde. Wenn es Ayako war, musste ich die Gelegenheit ergreifen und sie überwältigen. Die Falltür wurde aufgerissen und ich blinzelte das helle Licht weg, das mir in die Augen schnitt. „Hyde...“ Mein Blick traf auf grüne Augen, die mich voller Erleichterung ansahen. „Ayumi...“ Ich kletterte aus dem Drecksloch und drückte meine Schwester überschwänglich an mich. „Geht es dir gut?“ Ayumi schmiegte sich an mich, ihre Finger krallten sich in mein Shirt. Sie sagte nichts, vergrub nur ihren Kopf an meiner Brust. Es kam mir so vor, als würde sie nicken, aber ich war mir nicht sicher. Ich drückte Ayumi wieder leicht von mir und betrachtete sie. Erst jetzt fiel mir auf, dass ihr Haar zerzaust und ihre Lippe aufgeplatzt war. Mit einem tieftraurigen Blick sah sie zu mir auf. Meine Sorge mischte sich mit Wut und zog wie eine dunkle Wolke über mein Gesicht. „War das Ayako? Ich werde sie umbringen!“, zischte ich und sah mich suchend nach ihr um. „Wo ist sie?!“ Ayumi hob ihren Arm und richtete den Zeigefinger auf die Kochnische. „Sie... sie wollte den Schlüssel zurück... da hab' ich mich gewehrt und...“ Ayumis Stimme versagte. Sie legte ihre Hände auf den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. „I-ich habe sie geschubst und irgendwie... hatte sie den Halt verloren und ist mit dem Kopf auf der Tischplatte aufgeschlagen...“ Ayumis Verzweiflung und Angst war aus jedem Wort herauszuhören und ich sollte sie trösten, doch meine Füße trugen mich automatisch in die Richtung, die mir ihr Zeigefinger wies. Ich entdeckte Ayako auf dem Fußboden. Sie lag bewegungslos da, ihre Augen geschlossen, ihr Kopf zur Seite gedreht. Ayumi hatte ihr wohl ganz schön zugesetzt. Diese Hexe hatte es nicht anders verdient, aber ihren Tod hatte ich mir keinesfalls gewünscht. Es war nicht so, dass ich Mitleid mit ihr empfand, vielmehr lag mir Ayumis Wohlbefinden am Herzen. Wenn sie Ayako getötet hatte, sei es nur aus Notwehr, dann würde es Ayumi niemals verkraften. Ich wollte nicht, dass an ihren Händen Blut klebte. Das würde sie für immer verändern. Und ich bezweifelte, ob ich dann jemals ihr Lächeln sehen würde. Ich hockte mich hin und fühlte Ayakos Puls. Er war schwach, aber sie war nicht tot. „Sie lebt. Alles gut, Ayu...“ Ayako packte meinen Arm, bevor ich Ayumis Namen zu Ende sprechen konnte. „Ihr undankbaren Teufel!“ Vor Schreck stieß ich einen Fluch aus und schlug reflexartig ihre Hand weg. Doch Ayako stürzte sich auf mich und schaffte es in einem Moment der Unaufmerksamkeit, ihre Hände um meinen Hals zu legen. „Ihr seid es nicht wert zu leben! Ihr seid ein grausamer Scherz der Natur! Ich werde euch dahin befördern, wo ihr hingehört!“ Ihre Worte ergaben keinen Sinn für mich, doch das war zweitrangig. Ich umfasste ihre Handgelenke und versuchte, mich aus ihrem Griff zu befreien, doch die vom Wahnsinn erfüllte Ayako hatte eine unglaubliche Kraft. Ich spürte, wie mir langsam schwarz vor Augen wurde, doch ich war nicht bereit, das Zeitliche zu segnen. Ich konnte nicht sterben, ich konnte Ayumi nicht alleine zurücklassen! Ayakos Körper sackte plötzlich auf mich und ich schnappte gierig nach Luft. Ayumis Schlag gegen ihren Kopf hatte sie außer Gefecht gesetzt. Ich schob sie von mir runter und kam schwankend auf die Beine. Ayumi hielt ein Stück Holzbalken mit beiden Händen fest umklammert. Es war einer von denen, die ich gestern für den Kamin gehackt hatte. War das wirklich erst gestern gewesen? Es kam mir vor, als wäre es vor einer Ewigkeit. Ich nahm den Balken behutsam aus Ayumis Händen und ließ ihn zu Boden fallen. Dann zog ich ihren zitternden Körper an mich und strich beruhigend über ihren Kopf. Sie stand unter Schock und rührte sich nicht. Nicht einmal ein Schluchzen gab sie von sich.   Draußen schien die Sonne warm und hell. Ihre Strahlen fielen sanft zwischen den Ästen auf unsere Gesichter, als wollten sie uns trösten. Ich sah mich um und überlegte, in welche Richtung wir gehen sollten, da holte Ayumi etwas aus ihrer Rocktasche hervor und hielt es mir hin. „Das habe ich gefunden, als ich nach dem Schlüssel gesucht habe.“ Ich faltete das Blatt Papier auseinander und weitete die Augen, denn ich konnte unser Glück kaum fassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)