Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 4: Trautes Heim ----------------------- Ich öffnete die Tür zu unserem kleinen Appartement, das gerade mal für 4 Personen ausreichte und betrat mit Ayumi den Flur, wo wir unsere Schuhe auszogen und in die Hausschuhe schlüpften. Man konnte leise den Fernseher hören. Vielleicht würde man unser Erscheinen gar nicht so schnell bemerken und wir könnten ungesehen auf unseren Zimmern verschwinden. Doch dieser Gedanke blieb nur ein unerfüllter Wunsch. „Oh, da seid ihr ja endlich!“, trällerte Masami mit ihrer engelsgleichen Stimme. Masami Shinya, unsere Stiefmutter. Das Bildnis einer wunderschönen Frau mit dem Herzen eines Teufels. Wie konnte jemand äußerlich so schön und innen nur so hässlich und verdorben sein? Wie ein roter saftiger Apfel gefüllt mit Würmern. Ein Scherz der Natur. „Wo seid ihr so lange gewesen? Das Essen ist schon kalt!“ Ayumi trat einen Schritt hinter mich und krallte sich an den Saum meines T-Shirts. Ich konnte ihre Angst förmlich spüren. Selbst jetzt noch, nachdem wir fast erwachsen waren, jagte Masami ihr Angst ein. Ich sah das verrückte Glitzern in Masamis Augen, als sie Ayumis verängstigte Reaktion bemerkte. Mit einem überlegenen, selbstgefälligen Grinsen, das ihre roten Lippen umspielte, beobachtete sie amüsiert die Szenerie. „Nun steht nicht so im Eingang rum. Kommt essen.“ Sie wandte sich ab und ließ uns alleine im Flur stehen. Ich tauschte mit Ayumi einen kurzen Blick aus und wir folgten Masami widerwillig ins Esszimmer. Sie spielte gerne die Vorzeigemutter, bis sie irgendeinen Grund fand, uns fertig zu machen. Wir setzten uns schweigend an den Tisch, während sie daneben stand und uns abwechselnd ansah. „Na, was ist? Wollt ihr nicht essen?“, sagte sie mit vorwurfsvoller Stimme und stemmte ihre Hände in die Hüften. Unser Verhalten sollte sie eigentlich nicht wundern. Nachdem sie uns einmal irgendein Mittel ins Essen getan hatte, genossen wir die Mahlzeiten mit Vorsicht. Danach lagen wir eine ganze Woche krank im Bett. Als Vater das herausfand, hatte er ihr gedroht, sie rauszuwerfen und sich sogar von ihr zu scheiden. Das war das einzige Mal, dass er sie so einschüchtern konnte. Nach dieser Schelte hatte sie so etwas Widerwärtiges nie wieder getan. Jedoch fand sie stets neue Möglichkeiten uns das Leben zur Hölle zu machen. Da ich dieses Possenspiel so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte, probierte ich die Suppe. Ich warteten einen Augenblick ab, ob mir schlecht wurde, aber nichts geschah. Wenn ich den Vorkoster spielte, konnte ich wenigstens Ayumi vor einem Unglück bewahren, falls mit dem Essen etwas nicht stimmte. Mein Blick glitt zu meiner Schwester, die ihren Löffeln zitternd in der Hand hielt. Wenn Masami in der Nähe war, wurde Ayumi wieder zu einem kleinen, verängstigten Mädchen. Es war nichts mehr von ihrer Lebensfreude oder ihrem Selbstbewusstsein, das sie an den Tag legte, zu spüren. Ihr Lächeln erstarb, ihr Blick wurde leer. Sie verwandelte sich in eine seelenlosen Puppe, die unfähig war selbstständig zu handeln. „Was ist? Du willst nicht?“, fragte Masami düster. Die Stimmung wurde angespannter. „Ich stand den ganzen Tag am Herd und hab für euch Gören gekocht! Und so dankst du es mir, du undankbares Flittchen?!“ Mit einer Handbewegung schleuderte sie den Teller, der vor Ayumi stand, vom Tisch. Ayumi wich erschrocken zurück und ich erhob mich rasch, für den Fall, dass Masami auf die dumme Idee kam, meine Schwester anzurühren. Als Kind konnte ich mich schlecht wehren, aber jetzt war ich älter und stärker. Und das wusste Stiefmutter auch. „Danke für das Essen, Mutter“, sagte ich höhnisch und zog Ayumi, die immer noch wie gelähmt da saß, vom Stuhl.   Am Abend putzte ich mir die Zähne und ließ die Ereignisse der letzten Stunden Revue passieren. Wir waren vor Masamis Übergriffen nie sicher. Auch wenn wir nichts taten, verdrehte sie die Tatsachen solange, bis wir die Schuldigen waren. Wie lange mussten wir das noch ertragen? Glücklicherweise hatte sie uns nach dem missglückten Mittagessen in Ruhe gelassen. Vater arbeitete heute länger und kam erst vor kurzem nach Hause. Seit langem kam er nicht mehr zu mir, um mich zu begrüßen oder sich zu erkundigen, wie mein Tag gelaufen war. Wie es seinem Sohn oder seiner Tochter erging, war ihm anscheinend nicht mehr so wichtig.Vater des Jahres würde er also schon mal nicht werden. Ich vernahm ein dumpfes Klopfen an der Badezimmertür, gefolgt von einem leisen: „Hyde?“ Ich tapste zur Tür, schloss auf und ließ Ayumi eintreten. Dann ging ich wieder zum Waschbecken, um meinen Mund auszuspülen. Hinter mir verschloss sie wieder die Tür. Ayumi trat an meine Seite, um sich ebenfalls die Zähne zu putzen. Schweigend standen wir nebeneinander, jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Unsere Blicke trafen sich kurz im Spiegel, doch sie schien durch mich hindurchzusehen. Nachdem wir fertig waren, wusch ich mir noch schnell das Gesicht. Plötzlich spürte ich eine leichte Berührung auf meinem nackten Rücken. Ayumi ließ ihre Finger über meine Narben gleiten. Eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Ein Teil von mir wollte sie von sich stoßen, da sie mit ihrer unschuldigen Berührung die Erinnerung an den Ursprung dieser verfluchten Male weckte. Ich musste mich beherrschen, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als solange auszuharren, bis sie sich zurückzog. „Das ist alles nur meinetwegen...“, murmelte sie mit einer brüchigen Stimme, den Tränen nahe. Ich wandte mich zu ihr um und legte ihr behutsam meine Hände auf die Schultern, während sie krampfhaft versuchte gegen ihre Tränen anzukämpfen. „Hör auf damit, Ayumi.“ Ich hasste es, wenn sie sich die Schuld gab. „Die einzige Schuldige ist diese böse Hexe.“ Und Vater, fügte ich in Gedanken hinzu, sprach es jedoch nicht laut aus. Meistens reichten wenige Worte aus, um Ayumi zu beruhigen, aber heute gab sie sich mit meinen tröstenden Worten nicht zufrieden. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. „Nein, Hyde! Diese Schläge... sie waren für mich bestimmt. Sie hasst mich... aus tiefstem Herzen. I-ich sollte diejenige sein, deren Rücken so-so...“ Ihre Stimme brach und ein Schluchzen entwich ihr. Ohne darüber nachzudenken, fuhren meine Hände über ihren makellosen Rücken, der unter ihrem Nachthemd verborgen lag. Darunter spürte ich deutlich ihre zierliche Gestalt. Ich habe sie vor diesen Schlägen und diesen Narben bewahrt, und das machte mich auf eine Art und Weise sehr glücklich. „Es ist gut so, hörst du? Ich habe versprochen, dich zu beschützen. Und wenn es sein muss, werde ich noch mehr Schmerzen ertragen. Hauptsache du bleibst unversehrt.“ „Hyde...“ Nun brach sie vollkommen in Tränen aus. Hilflos stand ich da und hielt sie einfach nur fest, bis sie sich einigermaßen beruhigte. „Lass uns schlafen gehen“, schlug ich vor und drückte sie sanft von mir. Sie wischte sich die Tränen weg und fragte nebenbei, ob sie diese Nacht nicht bei mir schlafen konnte. Ihre Frage überraschte mich nicht. Ayumi schlief oft bei mir, weil sie sich sicherer fühlte. Ich nickte zustimmend und wir gingen in mein Schlafzimmer, das sich direkt neben dem Badezimmer befand.   Ich konnte lange nicht einschlafen und starrte wie hypnotisiert die Zimmerdecke an. Während ich so dalag und versuchte einzuschlafen, erinnerte ich mich an jenen Nachmittag, als nicht ich Ayumi sondern sie mich beschützt hatte. Damals gingen wir noch zur Grundschule. Zu der Zeit spielte ich ziemlich gern Fußball. Ich trainierte überall, wo es nur ging. Sogar zu Hause. Damals hatte ich eine wertvolle Vase zerbrochen und zog Masamis Zorn auf mich. Das war das erste Mal, dass sie die Hand gegen mich hob. Ich weiß gar nicht mehr genau, woher auf einmal Ayumi auftauchte. Doch plötzlich stand sie zwischen uns, sodass Masamis Ohrfeige Ayumi so hart im Gesicht traf, dass ihre Lippe aufplatzte und blutete. Genau, jetzt wusste ich es wieder. An diesem Tag schwor ich mir, Ayumi zu beschützen. Das hatte ich schon fast vergessen... Ayumis leiser Atem verriet mir, dass sie bereits schlief. Hoffentlich würde sie heute Nacht keine Alpträume haben. Das Böse holte einen gern in seinen Träumen ein. Ich drehte mich auf die Seite und betrachtete meine schlafende Schwester.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)