Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 3: Die Geschichte von Hänsel und Gretel ----------------------------------------------- „Ich will nicht nach Hause“, murmelte Ayumi unvermittelt und riss mich aus meinen deprimierenden Gedanken. Sie streckte ihre Hand zum Himmel aus, um die Augen vor der blendenden Sonne zu schützen. Die Sonnenstrahlen stahlen sich zwischen ihren Fingern hindurch und trafen sanft ihre milchweiße Haut. Ich betrachtete kurz ihr besorgtes Gesicht. Auch ich wollte  nicht nach Hause, aber wohin sollten wir sonst gehen? Ich hatte oft überlegt mit ihr wegzulaufen. Hatte sogar Geld von unserem Vater und unserer Stiefmutter gestohlen. Doch als Stiefmutter es rausgefunden hatte, schlug sie meine Hände blutig. Vater hatte sich zu der Zeit schon längst nicht mehr für uns interessiert, sodass uns eine Standpauke erspart blieb. Ich erinnere mich noch an seinen resignierten Blick, als hätte er bereits alle Hoffnung in uns und die Welt aufgegeben. Selbst wenn ich ihm meine blutenden Hände vors Gesicht gehalten hätte, würde er sich nur stumm und desinteressiert abwenden. „Du wirst mich doch beschützen, Hänsel?“ Ayumis Stimme klang wie aus einer fernen, längst vergessenen Zeit. Fast hätte ich sie überhört. Ich senkte meinen Blick und verspürte auf einmal eine lähmende Angst, die meine Kehle zuschnürte. „Immer, Gretel. Immer.“ Es war eine Art Spiel, das wir früher als Kinder oft gespielt hatten, und das auf dem Märchen von den Brüdern Grimm beruhte. Es handelte von zwei Geschwistern, die auf Geheiß ihrer bösen Stiefmutter im Wald ausgesetzt wurden. Verzweifelt versuchten sie den Heimweg zu finden, doch fanden stattdessen ein Knusperhaus, in das sie von der bösen Hexe hineingelockt wurden. Zunächst war diese freundlich und gab den Kindern Essen und einen Schlafplatz, doch es stellte sich bald heraus, dass sie die beiden auffressen wollte. Letzten Endes konnten die Kinder sich retten und fanden schließlich einen Weg nach Hause. Ayumi sah eine Verbindung zwischen dem Märchen und unserem Leben. Wir hatten auch eine böse Hexe als Stiefmutter, Masami. Meine richtige Mutter ist bei meiner Geburt verstorben, ich hatte sie nie kennengelernt. Vater sprach nie über sie. Am Anfang wollte ich alles über sie erfahren. Wie sie war, wie sie aussah. Ich hatte nicht einmal ein Foto von ihr. Aber irgendwann war ich es leid, Vater danach zu fragen. Ein Jahr nach Mutters Tod hatte Vater Masami geheiratet. Sie kam aus einer mittelständischen Familie und so weit ich wusste, sollte Vater sie von Anfang an heiraten. Meine Großeltern waren sehr traditionell gewesen und hatten diese Hochzeit arrangiert. Was genau schief gelaufen ist, wusste ich nicht. Aber ich konnte mir schon denken, dass meine richtige Mutter der Grund dafür war. Ein weiteres Jahr später kam Ayumi zur Welt, doch war sie nicht die leibliche Tochter meiner Stiefmutter, sondern die Tochter einer Affäre mit einer ausländischen Bediensteten. Diese verschwand unmittelbar nach Ayumis Geburt und man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Ich war noch klein, als das alles geschah und wusste von diesen Ereignissen nur deswegen, weil die Angestellten in unserem damaligen Haus hinter versperrten Türen tuschelten und tratschten. Die böse Hexe Masami hatte selbst keine eigenen Kinder. Natürlich hatte sie welche gewollt, aber der liebe Gott hatte sie nicht mit Kindern gesegnet. Vielleicht rührte daher ihre Verbitterung. Und somit hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, mich und vor allem Ayumi zu quälen. Stiefmutter hasste Ayumi am meisten von uns beiden, denn ich war schon vor Stiefmutter da, Ayumi dagegen war die Frucht einer Affäre. Das führte Masami immer wieder vor Augen, dass sie keine eigenen Kinder haben konnte und dass ihr Mann sie letztendlich mit einer niederen Angestellten betrogen hatte. Stiefmutter nutzte jede Kleinigkeit als Anlass, um sie zu demütigen und ihre Wut und Verzweiflung an ihr auszulassen. Doch ich versuchte Ayumi so gut es ging zu beschützen, wodurch ich meistens mehr abbekam als sie. Vater hatte am Anfang dagegen gehalten, doch nachdem er seinen Job und das meiste seines Vermögen verloren hatte, war er in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen, das seine Lebenskraft und seine Anteilnahme verschlang. Er hatte kaum Kraft morgens aus dem Bett zu kommen, geschweige denn sich um seine Kinder zu kümmern. Darum blieb es an mir, wenigstens die Rolle des Beschützers zu übernehmen. Ayumi hatte sich damals in ihre Fantasie geflüchtet und uns beiden die Namen der Protagonisten gegeben. Ich war Hänsel und Ayumi war Gretel. Schon damals hatte ich mich als Beschützer gesehen. Ich war älter als sie und ein Junge. Ich musste auf sie aufpassen, es war meine Pflicht. Jemand  musste sie vor unserer bösen Stiefmutter beschützen. Ironischerweise war das im Märchen genau anders rum. Hänsel wurde in einen Käfig eingesperrt und gemästet, damit die Hexe ein saftiges Festmahl bekam. Gretel hatte die Hexe überlistet und in den Ofen geschubst, in dem sie elendiglich verbrannte. In Ayumis Spiel hätte ich Gretel sein müssen, dachte ich zynisch.   Schweigend verbrachten wir noch ein wenig Zeit auf der Wiese und genossen die Ruhe und die Freiheit, die uns nur hier draußen vergönnt war, bevor wir uns auf den Weg nach Hause machten. Ayumi ergriff meine Hand, als wir uns dem Hochhaus näherten. Nachdem Vaters Firma pleite gegangen war, mussten wir aus dem großen Haus unserer Kindheit ausziehen und uns eine Wohnung suchen. Wir fanden in einem kleinen Appartement unser neues Zuhause. Zuhause. Es war eher ein Käfig, in dem man unsere Flügel nach und nach stutzte und aus dem es kein Entrinnen gab. Ein Zuhause im herkömmlichen Sinne würde es niemals geben. Nicht hier. Nicht für uns. Ich erwiderte leicht ihren Händedruck und wappnete mich innerlich gegen das, was auf uns zukommen würde. Innerlich errichtete ich eine Mauer, die mich vor allem schützen sollte. So war es auf jeden Fall leichter. Doch selbst nach all den Jahren schwand mein Mut, wenn es hieß nach Hause zu gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)