Crystal Eyes von Monstertier (reloaded) ================================================================================ Kapitel 26: ------------ Adam wendete den Kopf vom Fernseher weg und schloss die Augen. Die Handlung des Films interessierte ihn nicht wirklich, und die Hälfte bekam er sowieso nicht mit. Die Stimmen und die Hintergrundmusik waren nur eine nervige Geräuschkulisse, die es schlicht nicht schaffte, sein Interesse zu wecken. Er machte es sich noch etwas bequemer in seiner liegenden Position, den Kopf auf Muse’ Oberschenkel gebettet, und ließ seine Gedanken wandern, mal wieder und wie in den letzten Tagen recht häufig. Einen Moment später spürte er Muse’ Hand in seinem Haar, wie er sanft durch die schwarzen Strähnen strich. Eigentlich hatten sie sich zu einem Filmeabend verabredet, mit Popcorn, Cola und guter Laune, nur blieb irgendwie die gute Laune aus. Muse selber wirkte müde und erschöpft, so als ob er einen langen Tag gehabt hätte, und Adam war genauso wenig die pure Lebensfreude. Seine Gedanken wanderten immer wieder von einem Punkt zum nächsten, ohne Ruhe und ohne Ergebnis. Er drehte sich förmlich im Kreis, lief Schlangenlinien und kam doch nicht zum Ende. Und weder der Film noch die Anwesenheit seines Freundes lenkte ihn in irgendeiner Weise ab. Genervt schloss er die Augen. Dachte, schon wieder, an den letzten Sonntag zurück. Den Sonntag, oder besser gesagt, die Sonntagnacht, die er am liebsten aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte. --- Ein Auto fuhr vorbei. Seine Scheinwerfer warfen kurz dunkle Schatten an die Wand, tauchten den Raum in helles, gleißendes Licht, bevor sie dann verschwanden und die Beleuchtung den Straßenlaternen überließen. Stille trat ein, nur der tropfende Wasserhahn durchbrach sie, stetig und nervig, sich in Adams Gehirnwindungen fressend. Er lag einige Augenblicke ruhig da, lauschte dem Tropfen und versuchte gleichzeitig zwanghaft, wieder einzuschlafen. Er konnte noch nicht mal sagen, was ihn geweckt hatte. Vielleicht eine Bewegung von André, da dieser sich von ihm gelöst und ihm den Rücken zugedreht hatte. Vielleicht auch ein vorbeifahrendes Auto. Oder ein Traum. Er konnte es beim besten Willen nicht sagen, Fakt war jedoch, dass das wieder Einschlafen ein Problem darstellte, egal wie sehr er sich bemühte. Resigniert stand er leise auf, um André nicht zu wecken, und tappte zum Wasserhahn. Das Parkett unter seinen nackten Sohlen fühlte sich kalt an, und der Raum selber war auch nicht sonderlich wärmer. Gänsehaut breitete sich auf seinen nackten Armen aus und er zitterte leicht. Kein Wunder, dieses alte Gebäude war nicht wirklich gut isoliert, Kälte drang sehr viel einfacher ein. Das Bett und seine Wärme wirkte mit einem Schlag noch verführerischer als davor. Dort kam die Kälte nicht so einfach hin. Er seufzte und drehte vorsichtig den Wasserhahn zu. Müde starrte er einige Augenblicke den letzten Tropfen an, der ins Waschbecken fiel. Seine Hochstimmung, die er nach dem Treffen mit Sachiko gehabt hatte, war komplett verflogen. Und die Zweifel kamen wieder. Zweifel daran, ob er nicht viel zu selbstsicher gewesen war. Zweifel daran, ob er nicht Leon tatsächlich verloren hatte. Wer würde bitte zu demjenigen zurückkehren, der einen einen arroganten, selbstverliebten Bastard genannt und ihm ins Gesicht geschlagen hatte? Vor allem jemand, der so stolz war wie Leon. Der alles besaß und alles bekam, was er wollte. Und der leicht Ersatz für einen widerspenstigen, kleinen Jungen finden würde. Egal wie optimistisch Sachiko in dem Fall war, im Moment konnte er nicht so recht daran glauben. Verdammt. Wie süchtig konnte man eigentlich nach einem einzigen Menschen sein? Die Arme um den Oberkörper geschlungen, setzte er sich auf einen der Barhocker und legte das Kinn auf den Tisch. An Schlaf war wirklich nicht zu denken, dazu drehten seine Gedanken viel zu seltsame Pirouetten in seinem Kopf. Und dazu vermisste er viel zu sehr die Wärme von Leons Armen. Er hätte noch eine weitere Woche bei ihm bleiben können. Er hätte noch eine weitere Woche in seinem Bett schlafen, mit ihm Sex haben und sich an ihn kuscheln können. Er spürte förmlich die Arme, die sich um ihn legten und heranzogen. Der warme Atem in seinem Nacken, die weichen Lippen auf seinem Mund, seinem Hals, seiner Schläfe. Die Brust, an die er sich kuscheln konnte, und die dunkle, rauchige Stimme, die ihm süße Worte, neckende Worte einflüsterte. Und die Augen, diese wunderschönen, sanften, spöttischen Augen. Augen, die die Kälte des Winters widerspiegeln konnten. Er vermisste ihn. Er wollte zu ihm. Seine Stimme hören, seinen Körper spüren. Verdammt. Diese Möglichkeit hatte er sich gekonnt verbaut. Verdammte Scheiße! Mühsam schluckte Adam den Kloß in seinem Hals runter und starrte die Kühlschranktür an, nur um nicht seine Beherrschung zu verlieren. Er wollte nicht wie ein kleines Mädchen in Tränen ausbrechen oder komplett an seinen eigenen Gedanken verzweifeln. Es brachte ja doch nichts, er musste abwarten. Auf etwas warten, von dem er nicht mal sicher sagen konnte, dass es tatsächlich eintreffen würde. Ein Warten, das ihm den Schlaf raubte. Plötzlich spürte er, wie sich zwei Arme um ihn schlossen. „Du denkst zuviel nach.“ Andrés warmer Atem kitzelte leicht an seinem Ohr. Adam schloss die Augen und lehnte sich zurück, gegen die starke Brust, die ihm ein Gefühl von Schutz gab. Es tat so gut. Er mochte diese Berührung. Er mochte dieses Gefühl von Sicherheit. Langsam drehte er sich auf seinem Stuhl um und legte seine Stirn an Andrés Schlüsselbein. „Ich kann nicht schlafen.“ Seine Stimme war nur ein Flüstern. „Hab ich gemerkt.“ André drückte ihn noch etwas fester an sich und vergrub seine Finger in Adams Haaren. „Du denkst zuviel.“ „Mhm.“ Adam öffnete halb die Augen und starrte blind auf einen Punkt auf Andrés Brust. Er fühlte sich einsam. Einsam und allein. Hungrig nach Liebe und Zärtlichkeiten. Die Kälte fraß ihn förmlich auf. Vorsichtig hob er den Kopf. Sah André unter halb geschlossenen Augen an, feucht von Tränen, die nicht fließen wollten. Er wusste, dass er wie ein allein gelassenes Hündchen aussah. Und er wusste, welche Wirkung das auf André ausübte. Der Tänzer beugte sich gemächlich runter und drückte ihm seine Lippen auf den Mund. Sanft küsste er ihn, während er mit der Hand in seinem Haar ihn noch etwas näher an sich drückte. Es hätte ein Kuss des Trostes sein können. War es aber nicht. Adam legte vorsichtig seine Hände um Andrés Hüfte und zog ihn zu sich. Ganz ruhig, ohne Hast. Ohne einen Herzschlag, der schneller zu werden drohte, oder das obligatorische Kribbeln im Bauch, das ihn meist in den Wahnsinn trieb. Er spürte Andrés Zunge in seiner Mundhöhle und erwiderte das Spiel, dass sein Freund aufnahm. Der Kuss war anders als die anderen. Auch anders als die Allerersten, die sie miteinander geteilt hatten. Leidenschaftlicher, fordernder. Ähnlich wie der Kuss, der Leon so wütend gemacht hatte. Nicht der Kuss zweier Freunde, sondern der zweier Liebhaber. Andrés Körper an seinem eigenen war warm, anschmiegsam. Behutsam strich er mit gespreizten Fingern seinen straffen Bauch hinab, die Muskeln entlang nach unten zum Hosenbund. Leons Bauch war nicht ganz so straff, nicht so durchtrainiert. Schlank, aber nicht so muskulös. Er ließ seine Fingerspitzen unter den Rand der Hose gleiten, strich an der Hüfte entlang nach hinten und fuhr sanft den Rücken wieder hoch, legte seine Hände auf die Schulterblätter und schmiegte sich noch näher an André. So nah, dass es nicht weiter ging, dass er seinen wilden, unruhigen Herzschlag spürte. Wieso blieb sein eigenes Herz so ruhig? Wieso wurde er nicht nervös, erregt? Wiese reagierte er nicht? Das war auch ein Mann, noch dazu ein verdammt gutaussehender und sympathischer. Am Körper war nichts auszusetzen, am Charakter war nichts auszusetzen. Wieso zum Teufel noch mal reagierte er nicht? Seine Hände verkrallten sich leicht in Andrés Fleisch, hinterließen flüchtige Kratzspuren. Mehr. Vielleicht brauchte er einfach nur mehr. Mehr Körper, mehr Berührung. Mehr Sex. Plötzlich packte André ihn bei den Schultern und riss ihn von sich los. Schwer keuchend blieb er einige Augenblicke so stehen, verharrte in dieser Position, in der er Adam auf Abstand hielt, bevor er seinen Blick suchte. Adams Lippen waren von dem Kuss leicht geschwollen, sein Blick hatte einen glasigen Glanz, bevor er sich auf Andrés Augen richtete. „Willst du nicht?“ Adams Stimme klang tonlos, nicht wirklich interessiert, aber auch nicht erleichtert. So als ob es ihm egal wäre. „Nicht so.“ André ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. „Ich bin nur ungern der Ersatz für Leon.“ Adam hob an, etwas zu sagen, doch der Tänzer schüttelte nur den Kopf. „Du brauchst mir nichts vormachen. Ich bin nur der Ersatz für Leon. Du hast im Moment doch kein echtes Interesse an mir, nicht wahr? Mein Kuss hatte keinerlei Wirkung auf dich und du warst abwesend.“ Er lächelte. Ein selbstironisches, mitleidiges und ein wenig verletztes Lächeln. „Ich weiß, dass du momentan sehr empfindlich bist, aber werde nicht zum Arschloch, das andere Menschen als Ersatz benutzt. Willst du wirklich Andere damit verletzten?“ Adam ließ seine Hände kraftlos auf seine Oberschenkel fallen und schweifte mit seinem Blick einmal durch den Raum, bevor er mit leicht gerunzelter Stirn André wieder anblickte. „Ich verletzte dich?“ André schluckte. „Ja.“ „Wieso?“ „Weil du mich nur als Ersatz benutzt.“ „Aber es ist doch nur Sex. Von dir und von mir.“, flüsterte er, verwirrt. Die Worte schmeckten falsch und verlogen. Hatte man Sex mit einem Mann, wenn man einen anderen liebte? „Nein, ist es nicht.“ Der Tänzer schwieg für einen Moment. „Du... liebst Leon, nicht mich. Deswegen solltest du mit ihm schlafen, nicht mit mir.“ „Das kann dir doch egal sein.“ Es war fast ein verzweifelter Aufschrei. Er fuhr sich durch die Haare und biss sich leicht auf die Unterlippe. „Das kann dir doch völlig egal sein. Bin doch ich, der dann mit meinem Gewissen zurecht kommen müsste.“ „Ich bin dein Freund. Ich möchte nicht, dass du leidest. Außerdem,“, er atmete kurz ein, „dir würde es auch nicht gefallen, wenn Leon dich nur als Ersatz benutzt. Du wärst auch verletzt.“ „Ja, weil ich ihn liebe. Und weil ich Gefühle von ihm haben will, nicht nur das Körperliche.“ „Eben.“ „Eben?“ Adam sah ihn für einen Augenblick verständnislos an. Eben? Was genau meinte er damit? Er betrachtete ihn, sein ruhiges Gesicht, das fast schon melancholische Lächeln, den traurigen Ausdruck in den Augen. Eben... Erschrocken fuhr er zurück, als ihm die Bedeutung dieses lapidar hingeworfenen Wortes bewusst wurde. Nein, bitte, bitte nicht das! „Sag nicht, dass... wieso... ich mein...“ Hilflos sah er ihn an. „Du weißt doch selber am Besten, wie schlecht sich Gefühle steuern lassen.“ André zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht immun dagegen.“ „Dann... aber... wieso... wieso hast du nicht...“ Verzweifelt vergrub er sein Gesicht in seinen Händen. „Ich bin so blöd!“ „Was hätte es gebracht, wenn ich dir früher was gesagt hätte? Du hättest deine Liebe zu Leon nicht aufgegeben.“ „Ja, aber dann hätte ich auch nicht dauernd von ihm geredet.“ Adam warf ihm einen fast schon wütenden Blick zu. „Dann hätte ich nicht von ihm geschwärmt und dich nicht mit meinem Sorgen und Problemen belastet. Dann hätte ich dir... nicht weh getan.“ „Es ist in Ordnung“. André lachte leise auf, legte seinen Unterarm an Adams Nacken und zog ihn zu sich heran. „Ich brauch kein Mitleid oder so was.“ Sanft drückte er ihm einen Kuss auf die Stirn. „Denk nicht, dass ich so leicht aufgebe. Ich weiß zumindest, dass du mich magst und das du auch körperlich nicht gerade abgeneigt bist. Beste Vorraussetzungen, nicht wahr?“ „Beste Vorraussetzungen?“ Adam wand sich. Gerade jetzt bereitete ihm Andrés Berührung unangenehme Schauer. „Jep. Ich habe durchaus vor, Leon auszustechen und dich für mich zu gewinnen. Mit allen Mitteln.“ „Wieso hast du dann nicht mit mir geschlafen?“ André löste sich von ihm, sah ihn einen Moment lang lächelnd an und wurschtelte ihm dann durch die Haare. „Weil es nichts gebracht hätte. Wie gesagt, ich will kein Ersatz sein. Ich will mit dir schlafen, wenn du selber bewusst auch mit mir schlafen willst. Und nicht einfach nur mit jemandem, der dir Leons Körper und Wärme ersetzt. Darauf bin ich beim besten Willen nicht aus. Ich will nicht deinen Körper, ich will dein Herz.“ Adam sah ihn sprachlos an. Er hätte losheulen können. Wieso musste alles so verdammt schief laufen? Der Mann, den er liebte, sah in ihm nur ein Spielzeug, einen Besitz, und sein lieber, wertvoller Freund, der für ihn nicht mal ein bisschen mehr als nur ein Freund war, liebte ihn und sagte ihm Worte, die er gerne von jemand anderem gehört hätte. Und dabei verletzte er ihn, wenn auch unabsichtlich, benahm sich wie ein ignorantes Arschloch und benutzte ihn für sein eigenes Wohlbefinden, für die Befriedigung seiner Wünsche und Sehnsüchte. Verdammt. Dabei hatte er gedacht, sein einziges Problem wäre Leon. Er hatte sich getäuscht, fürchterlich getäuscht. Wie ging man mit einem Freund um, dessen Gefühle man nicht erwiderte und den man trotzdem nicht verletzten wollte? „Ein bisschen viel Input, hm?“ André lächelte ihn verständnisvoll an. „Wir sollten schlafen gehen. Wobei... ich glaub, ich nehme lieber die Couch. Ist besser so.“ Ohne auf eine Antwort Adams zu warten, ging er zu seinem Wasserbett zurück, packte sich Kissen und Decke und breitete sie auf der Couch aus, auf der letzte Nacht Adam geschlafen hatte. Der Junge konnte ihm nur zusehen, ohne sich zu rühren. Der betrachtete seinen Rücken, seine Haltung, die so selbstsicher wirkte. Er war es nicht. Er war nicht selbstsicher, sondern genauso hilflos und unsicher wie Adam selbst, aber er versuchte es mit seiner lockeren Art zu übertünchen. Und bis jetzt hatte er es geschafft, sehr gut sogar. Adam hatte nichts, rein gar nichts gemerkt. Er war so in sein eigenes Leid, seine eigenen Gedanken vertieft gewesen, dass er von den Gefühlen und Sorgen der Leute um sich herum gar nichts mitbekommen hatte. Wie blöd konnte man eigentlich sein? „Du wirst nicht sonderlich gemütlich schlafen können, wenn du da sitzen bleibst.“ Andrés sarkastische Stimme schreckte ihn aus seinen Gedankengängen. Automatisch nickte er, rutschte vom Hocker und tappte zum Bett. Die Decke aufnehmend, blickte er noch mal zu André. „Gute Nacht.“ André lächelte ihn an, fast wie ein kleiner Junge. Das Lächeln verschwand jedoch in den Schatten der Nacht. Er konnte André nichts erwidern, nicht mal ebenfalls eine gute Nacht wünschen. Schweigend kroch er unter die Decke und schlang sie fest um sich. Die Kälte war inzwischen bis tief unter die Haut gedrungen. Hätte er doch nur Andrés Kuss nicht erwidert. Hätte er sich doch bloß seiner Fürsorge nicht hingegeben. Hätte er doch nur nicht versucht, ihn für sein eigenes Wohl zu benutzen. Jämmerlich. Er fühlte sich so jämmerlich. Mit dieser kurzzeitigen Schwäche, mit diesem Verrat an seinen eigenen Werten hatte er einen Fehler begannen. Hatte er nicht Leon vorgeworfen, dass dieser nur die Leute um ihn herum benutze? Hatte er es nicht gerade selbst fast gemacht? Und dabei hatte er seinen Freund, hatte André sogar noch mehr verletzt, als er es in einem klaren, vernünftigen Zustand erwartet hätte. Adam schloss die Augen und drehte sich auf den Rücken. Öffnete sie wieder und starrte die kahle Decke an. Er war in ihn verliebt. André war tatsächlich in ihn, einen kleinen, unreifen und naiven Jungen wie ihn verliebt. Hätte er sich ihm nicht so hingegeben, dann hätte er es auch nie erfahren. Dann würde er normal mit ihm umgehen können, wie sonst auch. Ihm die zärtlichen Abschiedsküsse geben, sich mit ihm über Gott und die Welt, über Leon unterhalten und auch das ein oder andere Mal mit ihm kuscheln. Aber jetzt ging das nicht mehr. Jetzt würde er, ohne es zu wollen, jede von Andrés Gesten, jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen, versuchen, irgendwelche Bedeutungen dahinter zu lesen. Er würde in seiner Nähe angespannt sein. Auf der Hut und übervorsichtig gleichzeitig, um sich selber und ihm nicht unnötige Schmerzen zu bereiten. Verdammt. Und obwohl er wusste, dass genau das das falsche Verhalten war, dass es nur ihre Freundschaft belasten würde, würde er nichts, rein gar nichts daran ändern können. Mit einem leisen, genervten Seufzer fuhr er sich durch die Haare. Die Zeit, als er einsam gewesen war, als er keine Freunde, keine Verpflichtungen und damit auch keine Sorgen gehabt hatte, war so schön gewesen. Nur für sich leben, nicht auf andere achten, nicht verletzt werden und nicht verletzten. Er war gut damit zurecht gekommen. Wieso konnte er nicht einfach wieder dahin zurück kehren? Alles und jeden vergessen. Leon, Muse, André, Sachiko, die Kollegen und Gäste vom ‘Paradise Hill’, mit denen er sich so gut verstand. Sie alle einfach vergessen, sich wieder in seiner eigenen kleinen Welt einigeln und stupide vor sich hinleben. Es wäre so schön einfach. Und so verdammt traurig. Müde drehte Adam sich zur Seite und zog die Decke noch etwas höher. Gut, er hatte einen Fehler gemacht. Er würde sich irgendwas überlegen müssen, wie er mit Andrés Gefühlen umging, ohne ihn allzu sehr zu verletzten. Aber noch nicht jetzt und noch nicht heute. Erst einmal musste er sich Leon stellen. Danach... ja, danach konnte er weiter schauen. Danach kam André. Ohne dass er mitbekam, wie die Zeit verging, oder dass er auch nur das kleinste bisschen Schlaf bekam, graute der Morgen. Und noch während André schlief, duschte er, zog sich an und verließ das Loft. Er wollte ihm nicht begegnen und in einer beklemmenden Stimmung Smalltalk führen, so als ob nichts passiert wäre. Vorerst war es besser, ihn nicht zu sehen. Und so hielt er sich den Tag über im Park auf, wartete auf einer Bank, die Menschen beobachtend und auf den Abend wartend. Und irgendwann schließlich machte er sich auf den Weg zu Leon. --- „Der Film ist vorbei.“ Muse’ ruhige Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Willst du nicht lieber schlafen gehen?“ „Ich kann nicht schlafen.“ Die Augen langsam öffnend, drehte Adam sich zur Seite und bettete sich noch etwas bequemer auf Muse’ Oberschenkel. „Ich denke zuviel.“ Muse lachte leise auf. „Das ist ja mal ganz was Neues.“ Er grinste und zupfte an einigen von Adams Haarsträhnen. „Willst du mich als Kissen benutzen? Ich find meinen Oberschenkel nicht so sonderlich bequem.“ „Kannst du doch gar nicht beurteilen, du bist doch noch nie drauf gelegen.“ „Auch wieder wahr.“ Er schaltete den Fernseher aus und lehnte den Kopf nach hinten, die Augen geschlossen, während er immer noch Adams Kopf kraulte. „Du bist wie eine Katze.“ „Miau.“ Sie schwiegen, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Gedanken, die rotierten, die nicht zu einem Ergebnis kamen und sich nur schmerzhaft ins Gedächtnis fraßen. Gedanken, die absolut sinnlos und absolut hartnäckig waren. Und die einen in den Wahnsinn treiben konnten, ohne auch nur zum geringsten Ergebnis zu führen. Deprimierend. Sinnlos und deprimierend. Die Stille war nicht zu ertragen. Obwohl er und Muse häufig nur wortlos beieinander saßen, war diese Stille nicht zu ertragen. Rastlos sprang Adam mit einem genervten Laut auf, wodurch Muse erschrocken zusammen zuckte. „Ich will 'ne Schokolade. Soll ich dir auch was holen?“ Muse sah ihn einen Moment regungslos an, bevor er den Kopf schüttelte. „Nein, danke, meine Cola reicht mir.“ Adam nickte nur und tappte in die Küche. Egal, wie sehr er Leons Villa vermisste, es tat irgendwie gut, wieder in den eigenen vier Wänden zu sein. Hier lief zumindest alles relativ in den Bahnen, in denen es auch laufen sollte. Keine Gerüche, keine Atmosphären, die er nicht kannte. Hier spürte er seine Eltern. Und die Geborgenheit, die sie ihm schenkten. Er musste lächeln. Ja, egal, was aus seinem Leben werden würde, wohin es ihn irgendwann mal verschlagen würde, das Haus seiner Eltern würde für ihn immer eine Heimat und Ruhestätte bleiben. Ein Ort, wo er sich zurückziehen und entspannen konnte, dem Rest der Welt den Rücken zudrehend. Und für eine Weile alles vergessend. Ohne Hast bereitete er sich seine heiße Schokolade zu, nippte kurz am dampfenden Getränk und tappte dann zum Wohnzimmer zurück. Im Türrahmen blieb er für einen Moment stehen und musterte Muse, der seitlich zu ihm saß, den Kopf auf eine Hand gestützt, ein Bein angezogen und die Augen geschlossen. Er wirkte nachdenklich, irgendwo weit weg, und verdammt, verdammt müde. Adam runzelte die Stirn. Sie sahen sich fast täglich, vielleicht war es ihm deswegen bis jetzt nicht aufgefallen. Oder vielleicht war er auch einfach zu ignorant und auf sich selbst bezogen gewesen, aber wann waren diese dunklen Augenringe entstanden? Und wann genau war in seinen Blick dieser seltsam abwesende Ausdruck getreten? Tatsächlich wirkte er irgendwie kraftlos, ohne Leben. Was zum Teufel war los? „Alles okay?“ Es war eine blöde Einleitung, aber Adam wusste nichts besseres zu sagen. Und er war nicht der Typ, der, wenn ihm tatsächlich mal etwas auffiel, einfach drüber hinweg ging. Er wollte den Grund für diese Kraftlosigkeit wissen. Vielleicht war es nichts und Muse hatte nur schlecht geschlafen. Vielleicht war er aber einfach auch sensibler geworden und achtete mehr auf seine Umgebung. Andrés Geständnis hatte ihm doch sehr gut gezeigt, wie wenig er doch tatsächlich mitbekam. „Hm?“ Muse öffnete langsam die Augen und wendete den Kopf ein Stückchen zu seinem Freund. „Was meinst du?“ „Du wirkst müde.“ Adam setzte sich auf die Couch, Muse fixierend, und nippte an seinem Getränk. „Irgendwas stimmt nicht, nicht wahr?“ „Ich hab nur wenig Schlaf bekommen in letzter Zeit.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nichts weiter.“ „Und wieso nicht?“ Es war eine Ausrede. Oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Das sah man ihm an der Nasenspitze an. Muse warf ihm einen fast schon genervten Blick zu. „Nicht wichtig. Ich will nicht drüber reden.“ „Ich kann mich nicht erinnern, dich danach gefragt zu haben, was du willst.“ Adam stellte seine Tasse auf dem Wohnzimmertisch ab, verschränkte die Arme und blickte Muse fest an. Zumindest hatte er schon mal nicht geleugnet, dass tatsächlich etwas los war. „Es ist nicht sonderlich fair, wenn ich dir über meine Probleme die Ohren zunöle, du mir aber nicht sagst, was dich bedrückt. Ich will dir schließlich auch helfen. Und wir sind immerhin Freunde, nicht wahr?“ Muse schloss kurz die Augen. „Du kannst mir dabei nicht helfen.“ „Aber ich kann dir zuhören. Und komplett blind bin ich nicht. Ich sehe, dass irgendwas nicht stimmt.“ Er schwieg und wendete seinen Blick zu einem Punkt irgendwo an der Wand. Sein Gesicht wirkte leer, leblos. Adam musste den Impuls wiederstehen, die Luft anzuhalten oder ihn zu rütteln und ihn zum Reden zu bringen. Er wartete lieber. Es dauerte einige Zeit, in der die Stille unangenehm in der Luft hing. Nur ab und zu hörte man draußen ein Auto vorbei fahren, ansonsten war es totenstill. „Philips Frau ist wieder schwanger.“ Der Satz wirkte wie ein Stein, der gegen eine Glasscheibe geworfen wurde. Alles zerfiel in tausend kleine Splitter. Irreparabel. Diesmal sog Adam tatsächlich die Luft ein und hielt sie für einen Moment an. „Was?“ „Sie ist wieder schwanger. Er wird zum zweiten Mal Vater.“ Die Wiederholung seiner Worte war fast genauso tonlos wie das erste Mal. Kein Gefühl dahinter. Keine Hoffnung. „Er...“ Er versuchte irgendwie, seine Gedanken zu sammeln, eine Ordnung hineinzubringen. „Er schläft mit ihr?“ „Sie sind verheiratet.“ Muse zuckte nur emotionslos mit den Schultern. „Da ist es doch normal, dass sie miteinander schlafen. Niemand hat behauptet, dass es ihm gefallen muss.“ Jetzt sah er Adam an und lächelte leicht. „Sie wollte schon seit längerem ein zweites Kind. Und Philip mag Kinder auch. Mit mir könnte er ja eh keine haben.“ „Das ist doch...“ Adam schüttelte hilflos den Kopf. Das war doch kein Grund. Verdammt, der Kerl war doch, eigentlich, mit Muse zusammen, auch wenn es objektiv gesehen nur eine Affäre war. Er liebte ihn doch, wieso hatte er dann Sex mit jemand anderem? Auch wenn es seine Frau war, war ihm denn nicht bewusst, wie sehr er Muse damit weh tat? Wie sehr er unter dieser gesamten Situation litt? Und jetzt kam auch noch ein zweites Kind. Die Möglichkeit, dass Muse und Philip gemeinsam glücklich werden konnten, rückte in weite, noch weitere Ferne als davor. Philip schien nicht der Typ Mann zu sein, der zu Gunsten seines Lovers seine Frau und seine Kinder alleine ließ. Und Muse wusste das, besser als jeder andere. Trotzdem liebte er ihn. Egal wie sehr es weh tat, er liebte ihn und kam einfach nicht von ihm los. Obwohl es so viel besser für ihn wäre. Verdammt. Ohne ein weiteres Wort rückte Adam noch näher zu seinem Freund, umarmte ihn sanft und drückte ihn an sich. Er konnte nicht viel tun, er konnte nicht mehr helfen als das er zuhörte und seine Nähe spendete. Alles andere, jedes zärtliche Wort, jeder gutgemeinte Ratschlag und jede „Es wird alles gut“-Bekundung war unnütz und falsch. Fehl am Platz. Überflüssig. Sie brauchten keine Worte. Muse blieb einige Momente regungslos sitzen, bevor er langsam seine Finger in Adams Pullover verkrallte, seinen Kopf gegen ihn lehnte und erschöpft die Augen schloss. Einige Augenblicke der Ruhe, einige Sekunden des Friedens. Egal wie trügerisch es war, ab und zu benötigte sie wohl jeder. Egal wie stark man nach außen hin wirkte, innerlich blieb man verletzlich und klein. Nur eine gläserne Seele, ein Konstrukt aus zerbrechlichem Porzellan. Ohne seinen Freund loszulassen, blickte Adam aus dem Fenster, vor dem wieder ein Sturm aus Schnee und Regen wütete. Die Scheibe war nass, wurde immer wieder mit Tropfen und Schneeflocken überzogen, doch kein einziger Laut drang nach Innen, zu ihnen, in diesen Raum. Er hörte nur den Atem von Muse, und seinen eigenen. Mehr nicht. Wie in einen Kokon gehüllt, von der Außenwelt abgeschirmt. Er wünschte sich aus ganzem Herzen, dass diese Abschirmung sie noch etwas länger schützte. Auch wenn es nur ein trügerischer, dünner Schutz war. 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