Crystal Eyes von Monstertier (reloaded) ================================================================================ Kapitel 23: ------------ Die Uhr tickte leise, nervtötend vor sich hin, unterbrach die Stille, unterstrich sie noch viel mehr. Der Schnee vor dem Fenster bedeckte sanft den Boden und schmolz fast sofort wieder dahin. Durch die Tür dröhnte der Beat der lauten Musik, das Geschrei der Menschenmenge, die aus vollen Kehlen mitsang oder versuchte, eine Unterhaltung zustande zu bringen, doch hier war man davon nahezu komplett abgeschirmt. André strich sich durch die Haare und starrte auf die Kaffeetasse vor sich. Die Nacht hatte gerade erst angefangen, es war kurz nach zwölf. Eigentlich müsste er jetzt auf einem der Podeste stehen und sich an einer der Stangen räkeln, die Menge durch seine Tanzeinlage noch mehr anheizen, doch durch die lange Zugehörigkeit zu diesem Club hatte er den Status der Narrenfreiheit und konnte sich seine Pausen willkürlicher als andere setzen. Und natürlich hatte er sie sich zu dem Zeitpunkt gewählt, zu dem Muse und Adam, sein geliebter Adam, auch Pause hatten. Hätte er es doch nur sein lassen. „Ich frag mich ernsthaft, wieso du so geschockt bist.“ Muse beugte sich nach vorne und stützte seinen Kopf auf seinen Handflächen ab. Fast gelangweilt rührte er in seinem Kaffee. „Du hast dich doch Donnerstag erst noch gewundert, wieso sie noch nicht miteinander geschlafen haben. Und jetzt haut’s dich um?“ André schwieg für einen Moment und zuckte dann mit den Schultern. Er wollte eigentlich nicht darüber reden, aber Muse abzuweisen, der sich ernsthaft sorgte und helfen wollte, wäre nicht gerade die feine englische Art gewesen. Trotzdem, am Liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen und ein paar Runden geschmollt, ohne mit diesem Thema konfrontiert zu werden. „Nachdem ich gehört hatte, dass sie noch nicht hatten... na ja, da hab ich wohl gedacht, ich hätte doch noch Chancen.“ „Vorrausgesetzt, du schaffst es, schneller bei Adam zu landen als Leon? Kaum zu glauben, dass du so blauäugig bist.“ Blauäugig? Ja, das war er vielleicht tatsächlich gewesen. Irgendwie hatte er sich wohl der Illusion hingegeben, Leons Charisma würde bei Adam nicht wirken. Er hatte sich geirrt, so sehr geirrt. Aber ein letzter Funken Hoffnung war geblieben. Obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen. Beharrlich, die ganze Zeit, und trotzdem von einem zum anderen Moment verpufft. Wenn schon nicht Leons Charisma, seinen Fähigkeiten im Bett konnte man nicht widerstehen. Wie er selber bereits am eigenen Leib erfahren hatte. Trotzdem warf er Muse einen leicht verletzten Blick zu. „Ich bin nicht blauäugig, verdammt. Ich sehe nur nicht ein, die Hoffnung aufzugeben, bevor etwas feststeht.“ „Und jetzt bist du bereit aufzugeben? Nur weil sie miteinander geschlafen haben?“ Muse schüttelte leicht verwundert den Kopf. „Ich versteh dich nicht. Du bist bis über beide Ohren in Adam verknallt, hast aber bis jetzt noch nichts in die Richtung gemacht. Außer die Küsse, aber die sind nur Begrüßung und Verabschiedung und zählen nicht. Weder eindeutige Avancen kamen von deiner Seite, noch hast du versucht, ihn Leon vergessen zu lassen. Klar, dass du so nicht weit bei ihm kommst.“ „Willst du denn, dass ich was mach?“ André sah ihn kritisch an. „Ich mein, klar, ich kann schwerere Geschütze auffahren...“ „Solange du fair bleibst.“ Er zuckte mit den Achseln und nippte an seinem Kaffee. „Du weißt nur, ob du etwas hättest bewirken können, wenn du es ausprobierst. Und du bist mir als Partner für Adam alle mal lieber als Leon. Aber, eben, solang du fair bleibst. Irgendwelche Intrigen oder so was will ich nicht sehen.“ „Als ob ich das machen würde.“ Der Tänzer lachte kurz auf. „Aber du klingst grad wie eine Glucke, die ihr Kind ermahnt. Oder der große Aufpasser.“ „Na, irgendwer muss ja auf euch aufpassen. Ihr wisst doch alle selber nicht, was ihr wollt.“ André lächelte nur leicht und wendete seinen Blick nach draußen, zum Schnee, der still und leise zu Boden fiel. Nachdem Adam freudestrahlend von seinem ersten Mal erzählt hatte, hatte André ihn postwendend Zigaretten holen geschickt. Eine andere Möglichkeit, den Kleinen einige Minuten lang nicht zu sehen, war ihm nicht eingefallen. Und wäre Adam hier geblieben, hätte er bestimmt gemerkt, wie sehr sein Tete-a-tete mit Leon ihm, André, zusetzte. Er würde bald zurück kommen. Zu bald. „Meinst du wirklich, ich sollte was machen?“, fragte André leise, fast schon verunsichert. Er bekam keine Antwort, doch die hatte er auch nicht wirklich erwartet. Muse hatte Recht. André lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Solang er nicht ernsthaft irgendetwas tat, um Adam zu erobern, würde dieser mehr und mehr Leon verfallen. Wie ein Schmetterling, der sich immer mehr im Netz der Spinne verfing. Einer Spinne mit Namen Leon. Auch wenn es ihn weder glücklich noch zufrieden machen würde, wäre ihm jeder andere lieber denn Leon. Er erinnerte sich noch zu gut an die Zeit, bevor der Künstler für vier Jahre aus der Stadt verschwunden war. Ein Charmeur war er gewesen, ein Spieler, der nicht sonderlich lange bei ein- und demselben Spielzeug blieb. Hatte er erst mal das Objekt seiner Begierde erobert, ließ er es genauso schnell fallen, wie er es verführt hatte. Sowas wie Beständigkeit oder Treue gab es für ihn nicht. Und diese Lässigkeit, Sorglosigkeit, mit der er mit den Gefühlen anderer Menschen umging, hatte schon so manches Leben zerstört, in tausend kleine Splitter zerschlagen. Seine Bettgenossen hatten dieser Seifenblase, die Leon kurzzeitig erschaffen hatte, geglaubt, hatten seine süßen Worte für bare Münze gehalten, ihre ganzen Hoffnungen hinein gelegt. Wie viele waren verzweifelt aus diesem Traum erwacht, als er seine Zuwendung jemand anderem schenkte? Wie viele waren ihm so sehr verfallen, dass sie den Boden unter den Füßen komplett verloren? Der Tänzer biss sich auf die Unterlippe. Adam verdiente dieses Schicksal nicht. So unschuldig, so naiv er war, würde er sich mit ganzem Herzen diesem Mann hingeben. Und als zerbrochene Persönlichkeit zurück bleiben, sobald Leon sein Interesse auf jemand anderen richtete. Obwohl noch kein Wort von Liebe über Leons Lippen gekommen war, obwohl sie nur miteinander geschlafen hatten, glänzten seine Augen trunken vor Glück. Als ob er das ganz große Los gezogen hätte. Und nicht nur eine versteckte Niete. Andrés Blick bekam einen entschlossenen Ausdruck. Egal wie, er würde dafür sorgen, dass Adam diese Niete entlarvte, dieses Los, dass er bekommen hatte, fallen ließ. Er würde diese Unschuld, diese Naivität bewahren, bevor Leon sie komplett zerstören konnte. Egal wie, er würde dafür Sorgen, dass Adam Leon vergaß. Es schneite immer noch. Die weißen, kleinen Flocken bedeckten seine Schultern, wirkten wie feiner Puderzucker auf seiner dunklen Jacke. Adam warf einen kurzen Blick nach oben in den Himmel und zog den Schal noch ein wenig enger um sich. Die Kälte kroch immer tiefer unter seine Haut, ließ seine Muskeln verkrampfen und sich zusammenziehen. Seine Arbeitsklamotten wärmten nicht sonderlich und er hatte sich auch nicht die dickste Jacke mitgenommen. Langsam hatte er das Gefühl, dass er langsam aber sicher zu einem Eisklotz wurde, nach und nach, von unten nach oben. Und das er nie wieder auftauen würde. Wobei... Er musste unwillkürlich lächeln. Jep, in Leons Bett, an seinen warmen Rücken gekuschelt, von weichen Decken umgeben, da würde er bestimmt wieder auftauen. Im Hintergrund würde vielleicht leise Musik laufen. Bestimmt Dido, die hörte Leon schließlich so gern. Haut an Haut würden sie einschlafen und dann irgendwann von den ersten Sonnenstrahlen geweckt werden, gemächlich und sanft. Sie hatten alle Zeit der Welt. Seine Träumereien sorgten dafür, dass sich in seinem Bauch langsam ein Schwarm von Schmetterlingen aus ausbreitete, ein angenehmes Kribbeln, ein warmes Ziehen. Allein der Gedanke, wie sie heute morgen aufgestanden waren, versetzte ihn in eine Art Rausch, durch den seine Augen funkelten, tausend Sternen gleich, und sein Gesicht fröhlich leuchtete. Tatsächlich hatte er, trotz des Stresses auf Arbeit, kein einziges Mal aufgehört zu Lächeln, im Gegenteil. Jeder Gast wurde von ihm angestrahlt, als ob er ein ganzes Atomkraftwerk kurz vor der Explosion vor sich hatte. Er wünschte sich nichts mehr, als so schnell wie möglich wieder zu seinem Künstler zu kommen. Die Tatsache, dass er ihn bald abholen würde, ließ sein Herz noch einen Tick schneller schlagen. So schmeckte wohl absolutes Glück. Plötzlich zuckte er zusammen, aus seinen Gedanken gerissen, als Fingerspitzen sich auf seine Wange legten. „Ist das süß. Deine Wangen sind vor Kälte ja ganz rot.“ Er konnte den kleinen Stich der Enttäuschung nicht verhindern, als er die Stimme erkannte. Natürlich hatte er für einen kurzen Moment gedacht, es wäre Leon. Und natürlich hatte er sich geirrt. Trotzdem freute er sich, den Tänzer zu sehen. „Was machst du denn hier draußen?“ Er warf einen Blick zu André, als dieser in eine schwarze Lederjacke gehüllt, neben ihn trat. Sein nackter Oberkörper blitze kurz hervor. „Ist dir nicht kalt?“ „Es geht. Ich bin noch von drinnen aufgewärmt. Außerdem muss ich dich doch noch verabschieden. Du hast mir nicht Tschüss gesagt.“ „Du warst beschäftigt, hast getanzt. Ich kann ja wohl schlecht aufs Podest steigen.“ Adam lachte kurz auf. „Wär’ doch mal was.“ André konnte sich ein anzügliches Grinsen nicht verkneifen. „Und dann würden wir eine heiße Tanzeinlage liefern. Die Gäste wären sicher begeistert.“ „Ja, bestimmt. Begeistert davon, dass ich mich wie ein jämmerlicher Hampelmann bewegen würde. Ich kann ja nicht mal mehr gescheit stehen, geschweige denn tanzen. Meine Einlage würde also nicht sonderlich berauschend werden.“ Der Tänzer lachte nur kurz auf und lehnte sich dann neben Adam an die Wand. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie mit einem schlichten schwarzen Feuerzeug an und zog genießerisch mit leicht geschlossenen Augen daran. Den Rauch blies er in die kalte Luft hinaus. Adam sah dem grauen Dunst nach und ließ seinen Blick dann zu der Zigarette wandern. Marlboro. Er hatte es sich schon vorhin gedacht, als er die Zigaretten holen gegangen war. Leon rauchte Davidoff. Dieser kleine Unterschied kam ihm vor wie zwei verschiedene Welten. André und Leon. Es waren zwei verschiedene Welten. Er mochte sie beide. „Muse hat mir erzählt, Leon würde dich abholen?“ Adam löste sein Augenmerk von Andrés Zigarette und wendete es auf die kleinen Menschengrüppchen zu, die sich auf der Straße vor dem ‚Paradise Hill’ sammelten. Viele von diesen Männern, die hier standen, sich unterhielten, flirteten, hatten nur Beziehungen für eine Nacht. Oft genug kannten sie noch nicht mal den Namen von demjenigen, mit dem sie ins Bett gingen. Oder es lief auf eine reine Sexbeziehung hinaus. Bei ihm war es was anderes. Auch wenn es keine Liebe von Leons Seite gab, jedenfalls nicht die, die sich Adam wünschte, so war es doch mehr als nur reiner Sex. Wieso auch immer, er hatte das zumindest im Gefühl. Er bedeutete Leon etwas. Er bedeutete Leon vielleicht mehr als die ganzen Partner, die er zuvor im Bett gehabt hatte. Und er konnte einfach nicht daran glauben, dass das nur ein Luftschloss war, das er sich selber aufbaute. Es war mehr als nur ein Wunsch. Ein bisschen mehr. „Jep.“ Wie sehr konnte man sich denn tatsächlich in einem Menschen täuschen, selbst wenn dieser Mensch Leon Constal hieß? Wie gut konnte jemand schauspielern? Das intuitive Gefühl eines anderen täuschen? Er hatte sich schon so häufig diese Fragen gestellt, und immer noch keine Antwort erhalten. Er musste vertrauen. Seiner Intuition, sich selber und, vor allem, Leon. Vertrauen, dass ihm seine Sinne keinen Streich spielten. „Na dann...“ André stieß sich von der Wand ab und drehte sich halb zu Adam. „Ich sollte wohl auch wieder rein. Du meldest dich unter der Woche irgendwann?“ „Jap, mach ich.“ Der Tänzer nahm seine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, atmete noch einmal aus und beugte sich runter, um Adam den obligatorischen Abschiedskuss zu geben. Adam, wie üblich, streckte sich ein wenig. Er spürte Andrés warme Lippen auf seinen eigenen. Wie üblich. Doch diesmal war irgendetwas anders. Der Kuss dauerte einen Moment, den Bruchteil einer Sekunde länger als normal. Die Lippen waren einen Millimeter weiter geöffnet. Der Geschmack einen Tick intensiver. Das Gefühl eine Nuance tiefer. Irgendetwas war anders. An diesem Kuss, an der Haltung des Tänzers, an André selber. Es blieb ein bitterer Nachgeschmack. Und dann erst bemerkte er ihn. Diesen Blick. Diesen eiskalten, stahlharten Blick. Erschrocken fuhr er zurück und drehte seinen Kopf zur Seite. Betete noch innerlich, für einen kurzen Moment, dass er sich getäuscht hatte. Betete vergeblich. Wie durch einen dünnen Schleier sah er Leon dort stehen, einige Meter von ihm entfernt. Der Schnee bedeckte seine blonden Haare, die er sich zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Sein Hals wurde von einem dünnen, weißen Schal bedeckt, und er trug einen knöchellangen, enganliegenden cremefarbenen Mantel und weiße Handschuhe. Er wirkte wie ein Wesen des Lichts, wie eine Gestalt aus der Geisterwelt. Absolut unwirklich und fehl am Platz zwischen all den anderen Leuten. Wie ein reiner, vollkommener Engel. Ein Engel mit dem Blick eines Teufels. Das warme, weiche Rauchgrau war verschwunden. Harter Stahl blitzte ihm entgegen, kalter Stahl. Kein Gefühl, keine Regung. Nur Härte. Und Wut. Eiskalte Wut. Die Zeit schien für einen Augenblick still zu stehen. Für einen ewigen Augenblick bohrte sich Leons Blick in Adams eigene, kristalline Augen. Klagte ihn an. Schmetterte ihm seinen ganzen Zorn entgegen. Und, kurz, ließ ihn seine Verletzlichkeit spüren. „Lange nicht mehr gesehen.“ Erst Andrés Stimme riss Adam von Leons Anblick los, löste den Zauber, den Bann, der ihn gefangen genommen hatte. Durchbrach kurz die Angst, die ihn hatte erstarren lassen. „Hätte länger sein können.“ Leon schaute André gar nicht an, während er tonlos antwortete, sondern fixierte weiterhin Adam, mit diesen kalten, wütenden Augen. Er hatte die Kiefer aufeinandergepresst. Seine gesamte Mimik schien wie eingefroren zu sein. Dann, völlig abrupt, drehte er sich auf dem Absatz um und schritt davon, mit seinem ganzen Körper Verachtung ausdrückend. Adam zuckte erschrocken zusammen. Konnte Leon wirklich wegen einem Kuss so wütend werden? Konnte er es so sehr missverstanden haben? “Wie theatralisch.“ André nahm einen Zug von seiner Zigarette. „Renn ihm nicht nach. Du gehörst ihm schließlich nicht.“ Adam schüttelte nur den Kopf, ohne überhaupt Andrés Worte zu registrieren, und rannte los. Leon war gerade bei seinem Wagen angekommen, da packte er ihn am Handgelenk und drehte ihn zu sich herum. „Was soll das?“ Seine Stimme bebte. Er wusste nicht warum, aber sie bebte. „Was soll was?“, erwiderte Leon nur kalt und schüttelte Adams Hand weg. „Das. Dein Blick. Dein Ausdruck. Deine Wut. Wieso bist du wütend?“ „Wieso?“ Er gab einen abfälligen Laut von sich. „Ich stehe mitten in der Nacht auf, komme her, um dich abzuholen, und sehe, wie du fröhlich mit einem anderen Kerl rumknutschst. Und da soll ich nicht wütend werden?“ „Nein.“ Adam biss kurz die Zähne zusammen. „Du, ich... wir sind nicht zusammen, korrekt?“ Wieso stellte der Kerl jetzt plötzlich Besitzansprüche? „Das heißt, du kannst rummachen, mit wem du willst, ich kann rummachen, mit wem ich will.“ Wieso? „Keine Rechte, keine Pflichten, korrekt?“ „Ach, interessant.“ Adam hatte nicht gewusst, dass eine Stimme so kalt klingen konnte. Jetzt wusste er es. „Ich hab dich anscheinend ziemlich falsch eingeschätzt. Hätte nicht gedacht, dass du so ein Flittchen bist. Aber gut zu wis...“ „Flittchen? FLITTCHEN?“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. Unbändige Wut vertrieb die Angst, die sich vorher in ihm festgesetzt hatte, und breitete sich langsam in seinem ganzen Körper aus. „Wen nennst du hier bitte ein Flittchen? Soweit ich den Erzählungen der anderen glauben kann – und ich denke, das kann ich –, bist du es doch, der dauernd, aber wirklich dauernd wechselnde Partner hat. Keine festen Beziehungen, keine Kontinuität, gar nichts. Du fickst, mit wem du willst, du küsst, wen du willst. Ich werde wohl kaum der Erste sein, den du mitten auf der Straße ansprichst und zu dir nach Hause einlädst? Den du zum Modell stehen haben willst? Den du so sanft, so verflucht...“ Er stockte kurz. „Den du so verführst? Verführt hast? Nicht der erste und nicht der letzte, nicht wahr? Oder willst du mir ernsthaft sagen, dass du nicht mit anderen ins Bett gehst? Während du mich kennst, während du mich angemacht hast? Oder? Sag nicht, ich sei der einzige!“ Er wartete kurz, atemlos, doch von Leon kam keine Antwort. Der Künstler sah ihn nur wortlos an. Mit starrem, ausdruckslosen Blick. „Siehst du. Wirf mir bitte nichts vor, was du doch selber machst. Wir sind nicht zusammen, verdammt. Ich kann also rummachen, mit wem ich will.“ „Geht es dir nur darum?“ Adam stutzte. „Was?“ „Geht es dir nur darum, ob wir zusammen sind oder nicht?“ Leon wiederholte die Frage fast tonlos. „Na, es... also... natürlich... also... das ist doch wichtig...“, stammelte er etwas hilflos. Was sollte das? Was sollte diese Frage? „Dann sind wir halt zusammen. Wenn dich das davon abhält, mit anderen Kerlen rumzuknutschen, sind wir halt zusammen.“ Noch bevor er es selber registrieren oder aufhalten konnte, landete seine Faust mit einem lauten, dumpfen Geräusch in Leons Gesicht. „Willst du mich verarschen, du abgefuckter Bastard?“ Er bemühte sich nicht mehr, seine Stimme zu dämmen. Im Gegenteil, er schrie jetzt. Irgendwas war in ihm endgültig explodiert, irgendwas komplett gerissen. „Das ist doch nichts, was man aus einer Laune heraus entscheidet. Oder so leicht nimmt. Man ist nicht mit jemandem zusammen, um ihn zu besitzen oder einen Grund zu haben, auf Treue zu pochen. Oder sonst irgend so ein Scheiß. Man ist mit jemandem zusammen, weil man ihn liebt. Aber doch nicht... ach, verdammt, das ist dir doch eh fremd, nicht wahr? Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist. Du hast doch noch nie jemanden geliebt, nicht wahr? Dir geht es nur um Sex. Sex und Besitz, mehr brauchst du gar nicht. Du bist ein Arschloch. Ein egoistisches, egozentrisches, besitzergreifendes Arschloch. Hast du eigentlich jemals, jemals in deinem ganzen, Gott verdammten Leben daran gedacht, wie sich andere fühlen, wenn du sie benutzt? Hast du jemals an jemand anderen gedacht als an dich selbst? Nein, nicht wahr? Alle anderen sind nur dein Spielzeug. Und wenn eins dieser Spielzeuge kaputt geht, holst du dir ein neues. Gibt’s ja genug von. Es muss nur dir gut gehen, nur du musst dich gut fühlen. Es geht nur um dich, dich, dich, nicht wahr?“ Er hielt inne, holte einmal tief Luft. „Ich will nicht dein verdammtes Spielzeug sein, Leon. Und ich werde es nicht sein. Du kannst benutzen, wen du willst. Mich nicht.“ Mit einem Ruck drehte er sich um, stapfte an dem ziemlich verdutzten André vorbei, während er diesen gleichzeitig am Ärmel packte und hinter sich her zog, und stürmte förmlich in das ‚Paradise Hill’ zurück. Die Kälte, die ihm vorhin zu schaffen gemacht hatte, war verschwunden. Im Gegenteil, ihm war heiß, verdammt heiß. Sein Herz raste, pochte gegen seine Brust, als ob es gleich herausbrechen wollte. Seine Wangen glühten und die Hand, die so zielsicher Leons Gesicht getroffen hatte und die immer noch zur Faust geballt war, schmerzte. Schmerzte mehr, als sie es durch den Schlag eigentlich tun dürfte. Er stoppte erst, als er im Gemeinschaftsraum der Mitarbeiter angekommen war. Ohne es wirklich zu merken, ließ er André los und setzte sich auf einen Stuhl. Und vergrub sein Gesicht mit einem verzweifelten Aufschrei in seinen Händen. Zerstört. Alles, was er sich so mühselig aufgebaut hatte, diese Beziehung zu Leon, dieses feine, dünne Band zwischen ihnen, hatte er mit diesem jämmerlichen, jähzornigen Ausbruch zerstört. Wie ein Kartenhaus fiel alles vor seinem inneren Auge in sich zusammen. Wie sollte er jetzt noch mit ihm reden? Wie sollte er zu ihm kommen, sich mit ihm verabreden, sich an ihn kuscheln? Ihn küssen? Und gleichzeitig war diese unbändige Wut in seinem Bauch, diese Wut, die einfach nur nach draußen wollte, sich Gehör verschaffen wollte. Er litt wie ein kleines Kind, litt, weil er nicht wusste, was Leon für ihn empfand, was er für ihn war. Er wollte mit ihm zusammen sein, wollte von ihm geliebt werden. Wollte morgens neben ihm aufwachen und wissen, dass er zu ihm gehörte, dass sie zusammen gehörten. Jedes einzelne Wort von sich drehte und wendete er, um sich eventuelle Möglichkeiten darauf nicht zu verbauen. Jede einzelne Bewegung überlegte er sich abertausende Male, um Leon nicht abzustoßen. Und dann das. Dann sind wir halt zusammen. So als ob er entschied, ob er die schwarzen oder die weißen Socken anziehen wollte. Dann sind wir halt zusammen. Ohne jegliches Gefühl, mit einem Herz aus Stein. Kein Kribbeln im Bauch, keine freudige Erleichterung, keine aufgeregten, feuchten Hände. Eine Entscheidung, die nicht weiter wichtig war. Eine Entscheidung, deren einziger Sinn darin bestand, sein Spielzeug, sein Hündchen noch länger an sich zu binden, noch länger für sich allein zu behalten. Und dann, wenn man es nicht mehr brauchte, wenn man es schon komplett abgenutzt hatte, ließ man es gehen, warf man es weg. Trennte man sich einfach wieder von ihm. So einfach war das. So jämmerlich einfach. „Adam?“ Er zuckte nicht mal zusammen, obwohl er Andrés Anwesenheit fast vergessen hatte. „Ich hab alles kaputt gemacht, nicht wahr?“ Wie ein kleiner, getretener Hund sah Adam zu André hoch. „Ich hab alles kaputt gemacht. Aber ich hatte doch Recht, oder? Ich hatte doch Recht?“ „Natürlich.“ André ging in die Knie und strich ihm einige Haare aus der Stirn. „Natürlich. Trotzdem war es etwas... heftig. Ich hätte nicht gedacht, dass du so reagieren würdest.“ „War wohl einfach zuviel.“ Aus einem Impuls heraus vergrub er sein Gesicht in Andrés Halsbeuge. „Ich will ihn. Ich will ihn so sehr. Und jetzt ist er weg. Ich werde ihm nie wieder in die Augen schauen können.“ „Weil du dich schämst oder“, André hielt kurz inne, „weil du so wütend bist?“ „Beides.“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab ihm sogar eine runtergeschlagen. Verdammt, ich war so wütend. Ich BIN so wütend. Und trotzdem... ich bin so jämmerlich.“ „Nein, bist du... bist du nicht.“ Adam löste sich langsam von dem Tänzer, lehnte seinen Kopf nach hinten und rieb sich über die Schläfen. Seine Gedanken und Gefühle schlugen wilde Purzelbäume, drehten sich im Kreis, ohne auch nur das Geringste zu bringen. Wieso konnte er sich nicht einfach in einem Mauseloch verkriechen, sich dort verbarrikadieren und die nächsten paar Jahrzehnte nicht mehr rauskommen? Das wäre doch das einfachste. Wobei ihm ein warmes Bett mit einer weichen Decke vorerst reichen würde. Ein Bett... „Verdammt!“ Erschrocken zuckte André zusammen, als Adam abrupt aufstand, und sah ihn fragend an. „Was ist denn los?“ „Wo soll ich denn schlafen?“ Der Junge wendete seinen verzweifelten Blick seinem Freund zu. Verzweifelt, dass er in diesem Moment an so etwas lächerlich Unwichtiges dachte.. „Ich kann unmöglich zu Leon, aber mein Hausschlüssel liegt bei ihm. Ich müsste erst zu ihm. Das kann ich doch nicht machen.“ „Ehm, nein, wirklich nicht.“ André runzelte die Stirn. „Du kannst heute bei mir schlafen. Meine Schicht dauert zwar noch ein bisschen, aber das kannst du bestimmt noch abwarten, oder? Heute schläfst du bei mir, und morgen... na ja, kannst du vielleicht zu Leon und zumindest deine Sachen holen. In Ordnung?“ Langsam nickte Adam. „Du bist meine Rettung.“ Kraftlos ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken und schaute André entschuldigend an. „Du musst doch wieder raus, nicht wahr? Entschuldige, dass ich dich aufgehalten habe.“ „Kein Problem.“ Mit einem sanften Lächeln drückte er ihm einen Kuss auf die Stirn. „Mach dir mal keine Sorgen, es wird schon alles gut. Soll ich dir noch was zu trinken bringen? Du siehst fertig aus.“ „Danke, nein, schon okay. Ich brauch nur etwas... Ruhe... Sorry.“ “Schon okay.“ André lächelte sanft. „Ich bin dann draußen. Schlaf nicht ein in der Zeit.“ „Mach ich nicht.“ Adam sah ihm noch kurz nach, bevor er dann alleine zurück blieb. Von draußen hörte er noch dumpf die laute Musik, doch hier drinnen herrschte Stille, absolute Stille. Einzig unterbrochen vom nervtötenden Ticken der Uhr und dem steten Tropfen des Wasserhahns. Mit einem Seufzer stand er auf, ließ sich ein Glas mit Leitungswasser voll laufen und drehte dann den Hahn so fest wie möglich zu. Das Tropfen hörte auf. Das Ticken blieb. Aber die Uhr konnte er schlecht abstellen. Unruhig trat er ans Fenster. Der Schnee fiel immer noch, genauso wie davor, wie vor einigen Augenblicken. Vorhin war er noch schön, sanft gewesen. Aber jetzt sah er nur noch den Dreck, den er hinterließ, sobald er taute. Verdammt. Vor seinen Augen tauchte Leons Gesicht auf. Sein Blick, als er Adams Vorwürfe zu hören bekommen hatte. Waren sie eigentlich berechtigt? Konnte er wirklich sagen, dass Leon ein egoistisches Arschloch war? Hätte er sich denn in ihn verliebt, wenn dem denn so gewesen wäre? Er musste an ihr erstes Mal denken. Daran, wie sanft, wie zärtlich und verständnisvoll Leon gewesen war. Und er verstand es nicht. Ja, er war arrogant, ja, er bezog alles auf sich. Aber das, was die Leute ihm erzählten, deckte sich nicht mit dem, wie er ihn kannte. Von seinem zärtlichen Lächeln hatte ihm noch keiner erzählt. Von seiner Fürsorge, seiner Art, wie er ihn hegte und pflegte, der Wärme in seinen Augen. Das hatte noch keiner erwähnt. Und dann tauchte wieder der Leon von heute auf. Der Leon, der ihn besitzen wollte, egal wie. Der, der verletzt war, wenn jemand mit seinem Spielzeug spielte. Der Leon, dessen Gesicht vor Zorn zu einer ausdruckslosen Maske wurde. Weit entfernt, schier unerreichbar. So hatte er es nicht gewollt. So hatte er es absolut nicht gewollt. Und trotzdem, die Wut blieb. So Leid ihm sein Ausbruch auch tat, die Wut blieb. Er würde nicht zum Spielzeug verkommen. Er wollte nicht nur zu einem Püppchen werden, zu einem unter vielen, den man nicht wirklich registrierte, vergaß, noch bevor er ganz weg war. Adam lehnte seine Stirn gegen die Scheibe und schloss die Augen. Er hatte sich geschworen, Leons Liebe zu erringen, und diesen Schwur wollte er nicht brechen, würde er nicht brechen. Entweder ganz oder gar nicht. In diesem Spiel würde er keine Kompromisse eingehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)