Crystal Eyes von Monstertier (reloaded) ================================================================================ Kapitel 17: ------------ Die warme Vormittagssonne fiel durch das Fensterglas, durch die Kälte der Luft ein wenig gedämpft und nebelig. Sie zauberte ein hübsches Muster auf den Küchentisch, als sie sich an einem der Trinkgläser brach. Es war still in der Küche, nur das Hacken des Messers auf dem Brett verursachte einen Laut, jedoch nicht störend, sondern fast schon idyllisch. Muse konzentrierte sich vollkommen darauf, den Salat und die Paprika in kleine, feine Stücke zu hacken, schob die fertigen Teile mit ruhigen Bewegungen in die bereit stehenden Schüsseln und nahm sich sofort das nächste Gemüsestück. Seine Gesten waren fließend, fast, als ob er das schon jahrelang machen würde. Die Konturen seines Profils, seines Gesichts, wenn er den Kopf ein wenig wendete, wurden von den Sonnenstrahlen umrahmt, die einen hellen Glanz auf sein blondes Haar zauberten. Er hatte die glatten Strähnen zu einem Pferdeschwanz gebunden, nur ab und zu lösten sich einige aus dem Bund und fielen ihm in die Stirn. Immer wieder strich er sie sich mit dem Unterarm nach hinten, ohne seinen Rhythmus zu ändern, doch sie ließen sich nicht bändigen. Seine braunen Augen blickten konzentriert auf seine Hände, seine schmalen, langen Finger, um keinen Fehler zu machen und sich zu schneiden, während er kritisch auf seiner Unterlippe nagte. Es wirkte fast so, als ob er eine komplizierte Operation durchführen und nicht nur ein bisschen Gemüse schneiden würde. Jedoch waren seine breiten Schultern unter dem schwarzen, eleganten Hemd entspannt. Adam hatte seine Arme auf dem Tisch verschränkt, den Kopf drauf gelegt und musterte Muse mit einem halb zufriedenen, halb belustigten Grinsen. Mit den Fingerspitzen spielte er an seinem neuen Anhänger herum, der an seinem Handy baumelte und zwei Katzen darstellte, die Schulter an Schulter saßen und ihre Schwänze miteinander verschlungen hatten. Es war schrecklich kitschig und mädchenhaft, aber es war so richtig typisch Muse, dass er ihm sowas zum Geburtstag schenken würde. Und unheimlich, unheimlich goldig. „Sicher, dass ich dir nicht helfen soll?“ Er wusste schon nicht mehr, wie oft er diese Frage in den letzten zwei Stunden gestellt hatte. Und die Antwort blieb immer die Selbe. „Adam.“ Muse zog seinen Namen genervt in die Länge. „Du hast heute Geburtstag, du wirst heute keinen Finger rühren, außer beim Kuchen anschneiden. Und wenn du mir noch mal deine Hilfe anbieten solltest, jag ich dich aus der Küche, das schwör ich dir!“ Adam lachte leise auf. „Du weißt schon, dass die Küche nicht dir gehört?“ Sein Freund zeigte sich sichtlich unbeeindruckt und sah nicht mal von seiner Tätigkeit auf. „Du weißt schon, dass deine Eltern mir die Herrschaft darüber überlassen haben, solang sie nicht da sind? Also, bitte, keine Widerrede.“ Das Geburtstagskind musste über beide Backen hinweg grinsen. Anscheinend hatte es Muse sich zur Aufgabe gemacht, ihm diesen Tag so angenehm wie möglich zu gestalten. Vielleicht um ihn über die Erkenntnis hinweg zu trösten, dass er heute von Leon wohl nicht mal eine Nachricht, geschweige denn Glückwünsche bekommen würde. Seine Stimmung verdüsterte sich kurz. Ihm war erst am Abend zuvor siedend heiß eingefallen, dass er Leon nie seinen Geburtstag verraten hatte, dieser es also unmöglich wissen konnte. Dummerweise hatte er deswegen noch nicht mal ein Recht darauf, ihn für seine Abwesenheit zu verurteilen. Zu blöd, dabei hatte er die letzten zwei Wochen die ganze Zeit gehofft, sein geschätzter Künstler würde ihm zu Liebe einige Tage früher aus New York zurück kommen. So ein Mist aber auch! Nun ja, zu seiner Aufmunterung hatten seine Eltern dann aber nicht nur beschlossen, ihm den Tag schulfrei zu geben, sondern diesen Beschluss auch noch auf Muse übertragen. So kam es, dass sie sich jetzt, um zehn Uhr morgens, in der Küche befanden und Muse fleißig dabei war, das festliche Mittagessen vorzubereiten. Da Adams Eltern noch arbeiten mussten und erst kurz vor Mittag kommen würden, hatte er sich freiwillig dazu bereit erklärt den Koch zu mimen. Und er machte es sogar richtig gut, so, als ob er langjährige Erfahrung im Haushalt hatte. Adam hätte ihn danach gefragt, denn Muse erzählte nicht sonderlich viel von sich und seinem Zuhause. Doch ihn interessierte etwas anderes viel, viel mehr. Und er hatte nur auf den heutigen Tag gewartet, um zu fragen. Heute, wo ihm Muse anscheinend keine einzige Bitte abschlagen würde. Mit einem tiefen Einatmen streckte er die Arme nach hinten und bog den Rücken durch. Er wusste nicht so recht, wie er es ansprechen sollte, also wählte er die Methode, die er am Besten beherrschte: Einfach mit der Tür ins Haus fallen. „Sag mal,“, er zog die beiden Wörter ein bisschen in die Länge, etwas, was er immer machte, wenn er eine problematische Thematik anschnitt, „willst du mir nicht mal von Philip erzählen?“ Er wusste, dass es fies war, aber irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass es nicht viel half, bei Muse Geduld zu üben und zu warten. Wenn man etwas von ihm wollte, musste man direkt danach fragen und ihn drängen, ansonsten konnte man bis zum Ergrauen warten. Muse zuckte heftig zusammen und rutsche fast mit dem Messer ab, drehte sich dann langsam zu ihm um und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ich hätte mich fast geschnitten.“ Es klang wie das Wimmern eines kleinen, getretenen Hundes. „Ein fehlender Finger würde deiner Schönheit schon keinen Abbruch tun.“ Muse drehte sich wieder seinem Gemüse zu. Seine Kiefer verspannten sich und er knirschte leise mit den Zähnen. „Muss das heute sein? Außerdem, woher kennst du eigentlich seinen Namen?“ „Hm... André weiß viel und André redet gern. Aber er wollte mir nichts genaues sagen. Meinte, dass wär deine Sache. Und so langsam hab ich ehrlich gesagt keine Lust mehr, der einzig Unwissende zu sein. Vor allem, da ich dachte, wir wären Freunde und könnten miteinander reden.“ Er hielt kurz inne. Seine Strategie, bei Muse Schuldgefühle hervorzurufen, schien aufzugehen. „Ich nöl dich doch auch dauernd mit Leon zu, wieso erzählst du mir also nicht auch was aus deiner Beziehung?“ „Sie ist nicht interessant. Nicht erzählenswert.“ Auf dieser Aussage befand sich ein fetter Stempelabdruck mit „Lüge“ drauf, und einen dementsprechenden Blick warf Adam auch Muse zu. Obwohl dieser mit dem Rücken zu ihm stand, konnte er an den verspannten Schultern genau ablesen, dass er diesen Blick spürte. Es bereitete Adam fast schon Genugtuung, den inneren Konflikt seines Freundes zu beobachten. Seine Gewissensbisse hielten sich in Grenzen. Für was gab es Freunde, wenn man sich nicht mal sowas Wichtiges erzählen konnte? „Muss das heute sein? Ich erzähl dir ein ander Mal von ihm.“ „Nein, heute. Ein ander Mal findest du sonst noch irgendwelche anderen Ausreden. Und ich weiß genau, dass du mir zumindest heute keine Bitte abschlagen wirst. Nicht wahr?“ Mit einem Seufzer und einen verbissenen Gesichtsausdruck drehte Muse sich zu ihm um, verschränkte die Arme, das Messer immer noch in einer Hand, und starrte Adam vorwurfsvoll an. „Du bist unfair.“ „Nein, ich nutze es nur aus, dass ich dich zumindest ein bisschen kenne.“ „Und genau DAS ist unfair.“ Adam lächelte väterlich. „Ich kann damit leben.“ Er deutete mit dem Kinn auf das Messer. „Das Essen kann noch warten. Setz dich. Ich denke, ich werde viele Fragen haben. Und ich möchte, dass du sie in Ruhe beantwortest.“ Langsam legte Muse das Messer neben das Brett, strich sich mit dem Handrücken ein paar Strähnen aus dem Gesicht und wusch sich sorgfältig die Hände. Zögernd zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich rittlings drauf, verschränkte die Arme auf der Lehne und legte sein Kinn auf die Unterarme. Es wirkte, als ob er die Fragen und Antworten hinauszögern wollte, doch Adam hatte Zeit, sehr viel Zeit. Und auch sehr viel Geduld. Vorrausgesetzt, er würde Antworten bekommen. „Und was willst du wissen?“, fragte Muse mit einem unbehaglichen Blick. „Alles. Wie heißt er, was macht er, wie alt ist er, wie habt ihr euch kennen gelernt?“ Was genau ist euer Problem? Aber mit diese Frage wollte er lieber noch ein bisschen warten. „Mhm.“ Muse atmete einmal tief durch. Sein Blick wanderte ein wenig ziellos umher, bis es sich dann auf Adams Handyanhänger heftete. „Er heißt Philip, aber das weißt du ja schon. Philip Fitzgerald. Er arbeitet als kleiner Angestellter in irgendeiner Firma. Irgendwas mit Computern, keine Ahnung, was genau.“ Er seufzte leise. „Er ist 38. Wir haben uns im ‚Paradise Hill’ kennen gelernt. Vor fast zwei Jahren. Ich hab da schon ab und zu ausgeholfen gehabt, und eines abends war er da.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und warf einen forschenden Blick zu Adam. „Wir haben die Nacht zusammen verbracht, uns danach noch ein paar Mal getroffen und irgendwann... na ja, man könnte sagen, waren wir zusammen. So irgendwie.“ „Er ist alt.“ Adam starrte auf den Tisch. Er wartete auf das letzte Stück, das noch fehlte. „Ja, kann sein. Er könnte mein Vater sein, ich weiß. Trotzdem.“ Seine Stimme wurde warm, weich. „Er ist unheimlich lieb. Zuvorkommend, freundlich, höflich. Und total süß. Manchmal ein bisschen tollpatschig und unbeholfen, aber ein wundervoller Mensch. Wirklich. Du würdest ihn mögen.“ Er lächelte leicht. „Er ähnelt deinem Vater. Ein bisschen zerstreut und so, aber irgendwie... keine Ahnung.“ Aufmerksam musterte Adam Muse’ Gesicht. Es war kaum zu übersehen, wie sehr er ihn liebte und wie gern Muse eigentlich über ihn sprach. Der Altersunterschied, die unterschiedliche soziale Stellung schien ihm gar nichts auszumachen. Ihm war nur wichtig, mit der Person zusammen zu sein, die er liebte. Alles andere war zweitrangig. Adam konnte ihn nur zu gut verstehen, ging es ihm da doch nicht viel anders. „Wie sieht er aus?“ „Hm, er ist ein bisschen kleiner als ich. Aber größer als du.“ Muse legte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Kurze, hellbraune Haare, immer ein wenig verstrubbelt. Er schafft es irgendwie nicht, dass sie mal gekämmt aussehen.“ Er lächelte. „Und er hat braune Augen, haselnussbraun. Trägt eine Brille. Hat eigentlich ein Allerweltsgesicht, total unauffällig. Und irgendwie dann doch wieder nicht.“ Mit einem verträumten Lächeln stütze er sein Kinn in seine Handflächen. „Er ist wirklich, wirklich... keine Ahnung, ein toller Mensch. Durch und durch.“ Nachdenklich zog Adam seine Beine an sich und musterte Muse. „Ich würd ihn gerne kennen lernen.“ Das Lächeln seines Freundes wurde traurig. Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich hätte es auch gerne, dass du ihn kennen lernst, aber es geht nicht. Ich krieg ihn ja schon kaum zu sehen. Da nutz ich es wirklich aus, wenn wir mal alleine sind.“ „Wieso? Arbeitet er so viel?“ Adam zog eine Augenbraue hoch. Das konnte es doch wohl nicht sein, oder? „Nein, tut er nicht. Nur...“ Er strich sich durch die Haare. „Er hat noch keinem erzählt, dass er homosexuell ist. Weder seiner Familie noch seinen Freunden oder Bekannten. Und...“, ganz kurz hielt er inne und warf Adam fast schon einen verzweifelten Blick zu, „er ist verheiratet. Er hat sogar eine kleine Tochter. Ein ganz süßes Mädchen.“ Seine Augen wieder auf den Boden gerichtet, biss er sich auf die Unterlippe. „Er will sich nicht von seiner Frau trennen. Weil er Angst hat. Vor dem Gerede der Leute. Und wegen seiner Kleinen. Deswegen... na ja, er muss es vor ihr geheim halten.“ Er lachte auf. Es war kein glückliches Lachen. „Sollte es seine Frau irgendwann zufällig rausbekommen, will er sich von ihr trennen. Aber, eben, wenn’s zufällig ist. Und er lässt es wirklich nicht auf einen Zufall ankommen.“ Bei den letzten Sätzen hatte er sehr schnell gesprochen. So, als ob er die unangenehme Wahrheit dadurch überspringen, ihr davon rennen könnte. Seine Stimme bebte leicht und seine Augen wirkten starr. Adam schwieg. Dagegen waren seine Probleme mit Leon ja lächerlich gering. Und er hatte nichts besseres zu tun, als Muse Tag für Tag mit seinem Schwachsinn zu zu nölen. Wie fühlte es sich an, wenn der Geliebte rechtlich gesehen jemand anderem gehörte? Wenn man mit ihm nicht offen durch die Straßen spazieren konnte, wenn man sich nicht mal treffen konnte, ohne Angst zu haben, erwischt zu werden? Welche Gedanken gingen einem durch den Kopf, wenn man doch mal Zeit miteinander verbringen konnte? Welche Sorgen, wenn man die Nacht alleine verbrachte? So eine Beziehung war zerbrechlich, sehr zerbrechlich. Von heute auf morgen konnte einer von beiden entscheiden, dass er keine Lust mehr auf das Versteckspiel hatte. Von heute auf morgen konnte Philip beschließen, dass ihm das Risiko zu groß war. Von heute auf morgen konnte aus dem Geliebten eine völlig fremde Person werden. Vorsichtig stand er auf und trat zu Muse. Mit sanften Bewegungen legte er seine Arme um seinen Kopf, drückte ihn gegen seinen Bauch und strich ihm durch die Haare. Er merkte, wie Muse sich versteifte und Anstalten machte, sich von ihm zu entfernen, doch dann ließ er seinen Kopf gegen ihn fallen, so, als ob er sich in sein Schicksal ergeben hätte. Das Schicksal, Trost bei seinem Freund zu finden. Adam richtete seinen Blick aus dem Fenster, wo der Wind ein paar vereinzelte Schneeflocken durch die Luft wirbelte. Sie glitzerten im Sonnenlicht wie kleine Diamanten. Oder lautlose Tränen. Immer wieder strich er mit seinen Händen über die Haare, streichelte seinen Nacken, seine Schultern. Egal was er jetzt sagen würde, es wären nur leere Worte. Also schwieg er, hielt Muse fest, zeigte ihm, dass er nicht alleine war. Dass es jemanden gab, der für ihn da war, der ihn in den Arm nahm, ihm Trost spendete. Mehr konnte er nicht tun außer ihm ein Freund zu sein. Und das wollte er definitiv sein, so gut es ging. Schließlich, nach einer langen Zeit, löste Muse sich von ihm. Bedrückt starrte er zu Boden. „Es tut mir leid.“ Er schluckte schwer. „Ich wollte... ich wollte nicht... Ist immerhin dein Geburtstag.“ Adam ging vor ihm in die Hocke, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, und strich mit seinem Ärmel die letzten Tränenspuren von den Wangen seines Freundes. „Tränen stehen dir nicht. Und rote Augen auch nicht.“ Er legte den Kopf leicht schief. „Mach dir keine Gedanken. Ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast. Und ich bin froh, wenn ich dir irgendwie helfen, dich irgendwie trösten kann. Ist doch egal, welcher Tag heute ist. Du bist immer mein Freund, jeden Tag, und wenn du weinen willst, dann tu es.“ Er strich ihm die Haare zurück. „Jeden Tag, jede Stunde. Ich werde da sein, wenn was ist. Versprochen!“ Muse starrte ihn einige Momente lang an. Dann, langsam, lächelte er. Sanft, aber freudig und erleichtert. „Danke.“ Mehr sagte er nicht, und mehr war auch nicht nötig. Den Rest wussten sie auch so, ohne es sich erzählen zu müssen. „Ich sollte mit dem Essen weitermachen.“ Muse sah etwas orientierungslos zu dem Brett und dem ungeschnittenen Gemüse. Mit einem Seufzer fuhr er sich noch einmal übers Gesicht, ging zur Spüle und wusch sich kurz über die Augen. Dann drehte er sich zu Adam, der ein bisschen hilflos noch vor dem Stuhl stand. Er grinste schief. „Du darfst mir helfen.“ Adam sah ihn ein wenig verwirrt an, erwiderte aber dann das Grinsen und trat neben ihn. „Na dann, Maestro, wie soll ich das Messer schwingen?“ Muse lachte auf. „Möglichst so, dass du weder dir noch mir weh tust.“ „Aye, aye, Chef.“ Sie arbeiteten eine Zeit lang in einvernehmlichen Schweigen nebeneinander, nur von Muse’ Anweisungen unterbrochen. Es war in keinster Weise unangenehm, eher das Gegenteil. Adam spürte eine Vertrautheit zwischen ihnen beiden, die bis dahin nicht da gewesen war. Muse hatte sich ihm gegenüber geöffnet, hatte sich verletzlich gezeigt und war nun bereit, mehr von sich und seinen Gefühlen preiszugeben. Im Gegenzug konnte Adam ihm helfen, ihm Trost spenden und sein Vertrauen, seine Verletzlichkeit aufnehmen, umsorgen und umhüten. Das Vertrauen, das er davor Muse gegenüber gezeigt hatte, bekam er jetzt zurück. Sie waren auf dem selben Level angekommen. Dem Level der uneingeschränkten, vorbehaltslosen Freundschaft. Nach und nach fingen sie an, wieder über belanglose Dinge zu sprechen. Auch wenn Adam neugierig war, mehr über diese Beziehung, über Muse’ Gefühle zu erfahren, wollte er jetzt dieses Thema vorerst nicht ansprechen. Er hatte noch Zeit, genug Zeit. Und Muse würde Eingewöhnungszeit brauchen, bis er so einfach über alles reden konnte. Die Zeit verging schließlich sehr schnell. Das letzte Mal, als er einen Geburtstag mit jemanden außer seinen Eltern verbracht hatte, war schon Ewigkeiten her, so dass er die gemeinsame Zeit in vollen Zügen genoss. Sie alberten köstlich herum, wobei seine Eltern den Kindern in nichts nachstanden, und verbrachten einen wunderbaren, nahezu perfekte Tag. Es war schon spät am Abend, als Muse ging. „Bis morgen.“ Er küsste Adam wie üblich auf die Stirn, doch diesmal dauerte es für einige Augenblicke länger an. Aus einen Impuls heraus nahm Adam ihn in den Arm. „Schön, dass du da warst.“ „Mhm. Immer wieder gern.“ Er lächelte, drückte ihn nochmal an sich und löste sich dann von ihm. „Schlaf gut.“ „Danke, du auch.“ Adam winkte noch kurz und sah ihm dann nach, bis er um die Ecke gebogen war. Mit einem Seufzer schloss er die Tür und lehnte sich dagegen. Der Tag war wunderschön gewesen. Jeder einzelne Augenblick, jeder Moment. Er bereute es nicht, gefragt zu haben. Er bereute gar nichts. So, wie es war, war es okay. „Schatz?“ Seine Mutter beugte sich aus der Küchentür. „Dein Handy hat gerade geklingelt. Ne SMS.“ Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. Es gab eigentlich keinen mehr, der ihm simsen würde. André wusste nicht mal, dass heute sein Geburtstag war, und Leon... nun, Leon eigentlich auch nicht. Als er die Nummer sah, blieb ihm halb das Herz stehen. Sollte Leon nicht noch in New York sein? „Komm bitte zur Eisbahn im Park. Dort stehen Schlittschuhe für dich bereit. Leon.“ Das musste ein Traum sein, ein gottverdammter Traum. Das war schlicht und ergreifend unmöglich. „Mom, ich geh nochmal weg. Bin bald zurück.“ Noch bevor seine Mutter etwas antworten konnte, hatte er sich die Schuhe angezogen, eine Jacke übergeworfen und war aus dem Haus gerannt. Draußen war es eiskalt, aber wenigstens schneite es nicht. Die Bäume wirkten wie dürre, schwarze Gestalten am Straßenrand, blattlos und kahl, doch die nackten Äste waren von weißem Frost überzogen. Es wirkte fast unwirklich, als er durch den komplett verlassenen Park lief. Wie ein Geisterwald. Oder der Wald aus einem Märchen. Aus einem Traum. Außer Atem kam er bei der Eisbahn an. Tatsächlich, vor dem Türchen, das auf die Bahn führte, standen schwarze Schlittschuhe. Langsam, lautlos trat er näher, ohne die Augen von der Eisbahn selber wenden zu können. Leon. Er war da. Er war wirklich da. Es war kein Traum. Mit fließenden Bewegungen glitt er über das Eis. Seine Haare und sein schwarzer, langer Mantel flatterten um ihn herum, doch er ließ sich davon nicht stören. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, bewegte er sich, als ob der gesamte Platz nur ihm gehören würde. Und er gehörte ihm, jedes Bisschen. Eilig wechselte Adam die Schuhe. Leon bewies ein gutes Auge, die Schlittschuhe passten wie angegossen. Nun ja, was erwartete man anderes von einem Künstler, der Stunden damit verbrachte, andere zu beobachten? Adams Herz schlug wie wild, als er vorsichtig auf das Eis raustrat. Eigentlich war es absolut verboten, sich um die Zeit hier aufzuhalten, doch hinderte es nicht daran, dass regelmäßig Jugendliche bei Nacht herkamen. Die Umzäunungen waren auch zu leicht zu umgehen. Und diese Tatsache hatte sich anscheinend auch Leon zu nutze gemacht. Mit zittrigen Händen hielt Adam sich an der Bande fest und warf einen kurzen Blick auf sein Handy. Halb zwölf. Verdammt spät. Verdammt kalt. Verdammt schön. Vorsichtig glitt er auf das Eis hinaus. Inzwischen hatte Leon ihn bemerkt und war in der Mitte der Eisfläche stehen geblieben, wartete mit einem Lächeln auf den Lippen, bis er zu ihm kam. Einzig der Mond und eine einzelne Laterne beleuchteten die Gegend, so dass alles in dämmriges Licht getaucht war. Man konnte nicht weit sehen, man konnte selbst aus der Nähe nur schlecht Details von irgendetwas ausmachen, doch Adam war es egal. Er sah Leon. Verdammt, er sah ihn, er war echt, er war da. Nach verteufelten zwei Wochen war er wieder da! Er atmete mehrmals tief durch. Auch wenn ihm sein Herz bis zum Hals schlug, auch wenn sein Innerstes Purzelbäume schlug, musste er, sollte er ruhig bleiben. Es würde nur lächerlich wirken, wenn er vor lauter Übermut auf die Schnauze fallen würde. Selbst wenn er sich am liebsten in Leons Arme geworfen hätte, ihn festgehalten und niemals losgelassen hätte. Er benahm sich wie ein verliebter Trottel, das wusste er nur zu gut, doch es war ihm egal. Er war ein verliebter Trottel, verdammt, und es war auch gut so! Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er schließlich, auf wackeligen Beinen, vor Leon stand. Er versuchte ein zittriges Lächeln. „Hi.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ich bin so froh, dass du da bist. Ich hab dich vermisst. Ich wollte bei dir sein. So viel, was er hätte sagen können, aber es war besser, wenn er es bleiben ließ. Besser, wenn er schwieg. Und wenn er einfach nur den Augenblick genoss. „Du brauchst wirklich mehr Übung auf dem Eis.“ Leon lächelte. Ein bezauberndes Lächeln, ein verführerisches Lächeln. Ein Lächeln, wie es Engel und Dämonen gleichermaßen besaßen. „Jep.“ Einmal tief durchatmen. Nicht in Ohnmacht fallen. Sich nicht wie ein verliebtes, kleines Mädchen benehmen. Das sollte doch möglich sein, oder? „Ich dachte, du kommst erst morgen oder übermorgen.“ „Mhm.“ Leon nahm ihn an den Händen und zog ihn etwas näher an sich heran, so dass Adam nicht Gefahr lief, auf dem glatten Eis hinzuknallen. „Ich wollte doch deinen Geburtstag nicht verpassen. War zwar knapp, aber immerhin, ich hab es noch rechtzeitig geschafft. Und meine Anwesenheit ist auch das erste Geschenk.“ Er drückte ihm einen leichten Kuss auf den Mund. „Alles Gute zum Geburtstag.“ Adam fielen halb die Augen aus dem Kopf. War der Kerl allwissend? „Wo... danke... aber... woher weißt du das?“ „Hm, weißt du noch, als du krank warst und ich deine Mutter angerufen habe? Ich musste deinen Rucksack nach deinem Handy durchsuchen, und da ist mir auch dein Ausweis in die Hände gefallen. Außerdem war in dem Kalender in eurem Flur ziemlich fett der Tag markiert. Sowas kann man schlecht übersehen.“ Für einige Augenblicke starrte Adam einfach nur auf seine Hände. Auf Leons Hände, die ihn festhielten. Der Kerl war tatsächlich allwissend. Dann runzelte er die Stirn und sah auf, direkt in Leons Augen. Verdammt, er hatte diesen Anblick vermisst. Egal, was André erzählte, egal, was Muse von ihm hielt, er hatte diesen Mann vermisst. „Erstes Geschenk?“ „Jep.“ Leon deutete mit dem Kinn nach unten auf Adams Schuhe. „Wie ich sehe, sie passen. Du musst das Schlittschuhlaufen eindeutig noch trainieren. Und da dacht ich mir, solltest du auch das notwendige Werkzeug dafür haben.“ Er lächelte. „Ich werde natürlich als dein Lehrer fungieren. Versteht sich von selbst, nicht wahr?“ Adam errötete leicht. Das würde bedeuten, er würde mehr Zeit mit ihm verbringen. Mehr Zeit außerhalb der Zeichenstunden. Und er wusste nicht, ob es gut war. Zum aus der Haut fahren. „Danke.“ Seine Stimme war leise. Das größte Geschenk war immer noch Leons Anwesenheit. Und die Tatsache, dass er sich anscheinend ziemlich bemüht hatte, pünktlich zurück zu sein. „Ich bin noch nicht fertig.“ Leon ließ Adams Hände los und zog ein kleines, schwarzes Schmuckkästchen heraus. „Hier.“ Überrascht nahm Adam es entgegen. Schmuck? Vorsichtig öffnete er das Kästchen. Im Inneren, auf schwarzem Samt, befand sich ein goldenes Ohrringpaar in Form von kleinen Kreuzen. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen darüber. Das war doch... das konnte doch nicht sein, oder? „Erinnerst du dich daran?“ Leons Stimme klang leise. Nur ein Hauch. Adam nickte. Es kam ihm fast vor wie eine Ewigkeit, dieser warme Spätsommerabend, als er Leon das erste Mal getroffen hatte. Damals, als er so frech, so unsicher diese Ohrringe als Bezahlung verlangt hatte. Und er, Leon, erinnerte sich an diesen Abend anscheinend genauso sehr wie er selber. Wie oft hatte er diesen Tag verflucht gehabt, sich selber fast schon dafür gehasst, dass er damals nach draußen gegangen war. Wie wäre es gewesen, wenn er Leon damals nicht getroffen hätte? Hätte er sich mit Muse angefreundet? Hätte er André kennen gelernt? Vermutlich nicht. Vermutlich würde er immer noch von einem Tag in den anderen dümpeln, ohne sich um die Belange anderer Leute zu kümmern. Ohne zu spüren, dass er für andere Leute etwas empfinden konnte. Langsam sah er von den beiden Schmuckstücken auf, zog vorsichtig seine momentanen Stecker raus und ließ sie in seine Jackentasche gleiten. Dann, wortlos, hielt er Leon die Schatulle hin und beugte seinen Kopf leicht zur Seite. Mit sanften, zärtlichen Bewegungen fädelte Leon ihm die Ohrringe ein. Es war fast wie ein Streicheln, eine Liebkosung. Nein, es war eine Liebkosung, nicht nur fast. Adam erzitterte leicht unter seiner Berührung und schloss genießerisch die Augen. Heute, jetzt, war alles erlaubt. Er fühlte sich gut, zufrieden. Zwar kannte er Leons Gefühle nicht, wusste nicht, was er ihm bedeutete, aber er war in seinem Bewusstsein, er war in seinen Gedanken, in seiner Erinnerung. Mehr wollte er im Moment gar nicht verlangen. Für jetzt, für den Augenblick genügte es vollkommen. „Ist dir nicht kalt?“ Adam sah an sich herunter. Seine Jacke war ziemlich dünn, denn er hatte die erstbeste genommen, die ihm in die Hände gefallen war, als er das Haus verlassen hatte. Schal, Mütze und Handschuhe fehlten komplett. Aber ihm war nicht kalt, im Gegenteil. Eine innere Wärme durchströmte ihn, von Kopf bis Fuß. Ein Kribbeln, dass seinen ganzen Körper erfasste. Trotzdem nickte er. Langsam knöpfte Leon seinen Mantel auf, zog Adam an sich und umhüllte ihn damit. Adam lehnte seinen Kopf gegen seine Schulter, umschlang Leons Rücken, krallte seine Hände in seinen Pullover. Er spürte den warmen Körper, die Muskeln, den Atem in seinem Haar. Er roch Leons Aftershave, den Zigarettenrauch. Leons Duft. Leons Wärme. Irgendwo hörte er eine Kirchturmuhr schlagen. Es war Mitternacht. Sein Geburtstag war zu Ende. Und er lag in den Armen der Person, die er liebte. Es war ein perfekter Tag. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)