Crystal Eyes von Monstertier (reloaded) ================================================================================ Kapitel 16: ------------ „Hey, gut siehst du aus.“ André musterte ihn mit einen Grinsen von oben bis unten. „Scheint kalt draußen zu sein.“ Adam ließ sich auf dem Platz ihm gegenüber nieder und nickte. „Arschkalt. Aber wenigstens schneit es nicht.“ Er sah sich um. „Hast du schon bestellt?“ „Nope, wollte auf dich warten. Was willst du?“ „Heiß...“ Adam hielt inne. „Nein, lieber nen Cappuccino.“ „Okay, dann nehm ich... mhm.“ André studierte überlegend die Getränkekarte, während Adam sich unbehaglich umsah. Es war Mittwoch und sie hatten sich zu einem, ja, man konnte sagen, Date getroffen, aber was ihn stark irritierte war nicht nur, dass es das Café im Park war, in dem er letztes Mal zusammen mit Leon gewesen war, sondern dass sie sogar am selben Platz saßen, obwohl genug andere Tische frei gewesen wären. Aber gut, der Platz am Fenster war einfach der schönste, vielleicht deswegen. Er sollte lieber nicht zu viel da rein interpretieren, sonst würde er nur durchdrehen. Es hatte ja schon gereicht, dass er seit Sonntag die ganze Zeit an Leon und André gedacht hatte, und das mit nicht geringen Gewissensbissen. Einerseits, weil er André geküsst hatte, obwohl er nichts von ihm wollte, andererseits, weil er André geküsst hatte, obwohl er Leon liebte. Eigentlich hatte er sich beiden gegenüber unfair benommen. Wobei er sich fragte, ob es Leon überhaupt stören würde, wenn er jemand anderen küsste. Schließlich hatte es ihm auch nicht sonderlich viel ausgemacht, als er den Kuss mit Muse erwähnt hatte. Leicht genervt runzelte er die Stirn. Er drehte sich wirklich nur im Kreis mit diesem dämlichen Bastard. Sollte er im Moment nicht an was anderes denken? „Alles okay?“ An genau den nämlich. Adam schreckte auf und sah zu André, der seine Aufmerksamkeit von der Getränkekarte gelöst und ihm gewidmet hatte. „Ja, klar, wieso?“ „Du sahst grad sehr genervt aus. Wenn du dich nicht mit mir treffen wolltest, hättest du es doch nur sagen brauchen.“ Leicht erschrocken schüttelte Adam den Kopf. „Nein, nein, ich hab an was komplett anderes gedacht.“ Nun, ‚komplett’ war so zwar nicht ganz richtig, aber egal. „Hätt' ich nicht kommen wollen, hät ich es auch nicht gemacht, keine Sorge.“ „Hm.“ André musterte ihn kritisch. „Okay, wenn du es sagst.“ Er drehte sich zu einer Kellnerin, winkte sie zu sich und gab die Bestellung auf, dann wendete er sich wieder Adam zu, beugte sich vor und strich mit den Fingerspitzen über seine Hand. Adam zuckte erschrocken zusammen. Es kribbelte. Überall. Und er konnte nicht sagen, ob er es mochte. „Kommst du den Samstag auch wieder?“ „Keine Ahnung.“ Er starrte seine Hand an. Am liebsten hätte er sie weggezogen, aber er wollte André nicht beleidigen. Und er wollte diese Berührung genießen, voll auskosten. Also, nein, er wollte seine Hand gar nicht wegziehen. „Letztens war eigentlich das erste Mal, dass ich so richtig in einer Disco war.“ “Na, du hast dich aber sehr schnell dort zurecht gefunden. Zumindest, wenn man deine Künste auf dem Parkett ansieht.“ Er grinste leicht. „Und wenn man bedenkt, wie du mit mir umgegangen bist. Hemmungen hattest du ja scheinbar keine.“ Adam errötete leicht. „Mhm, André, versteh das bitte nicht falsch, aber...“ „Ich weiß, ich weiß.“ André nahm seine Hand und küsste eine der Fingerspitzen. „Du hast jemanden, den du liebst, nicht wahr? Muse hat es mir erzählt. Find ich sehr schade, ehrlich. Vor allem, da es bis jetzt ja nur einseitig zu sein scheint. Willst du nicht lieber zu mir wechseln?“ Er ignorierte die Frage, ließ seine Finger aber dort, wo sie waren. „Muse scheint dir ja einiges erzählt zu haben.“ „Er hatte keine Wahl. Ich kann sehr penetrant sein, wenn ich was wissen will. Und du hast mich sehr, sehr neugierig gemacht.“ Mit einem nervösen Blick zupfte Adam an einer Strähne. „Sorry.“ „Nichts zu machen. Aber so lang du mit ihm nicht zusammen bist, ist Küssen ja noch drin, hm?“ Noch bevor Adam reagieren konnte, hatte André ihn zu sich gezogen und ihm seine Lippen auf dem Mund gedrückt. Ganz kurz, ehe er sich wieder von ihm löste, strich er mit der Zungenspitze über die Lippen. „Na? Das stört dich doch nicht, oder?“ Er sah den leicht baffen Jungen schmunzelnd an. „Ich würd nur ungern drauf verzichten.“ „Ehm, ehm...“ Er wusste wirklich nicht, was er sagen sollte. Wollte er es? Störte es ihn? Eigentlich nicht. Aber eigentlich auch schon. Oh verdammt nochmal! Zu seinem Glück kam die Kellnerin und brachte die Getränke. Er starrte seinen Cappuccino an. Was sollte er sagen? „Weißt du... es ist nicht so, dass ich es nicht mag.“ Nervös strich er sich durch die Haare. „Aber, wie soll ich es sagen, also...“ „Du hast Gewissensbisse gegenüber deinem Lover?“ „Er ist nicht mein Lover. Aber ja, irgendwie schon.“ „Obwohl ihr gar nicht zusammen seid?“ Adam zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Hm, ich verstehe.“ André lehnte sich zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. „Na ja, ich kann’s sogar sehr gut verstehen. Ich würd mich wohl nicht anders fühlen, wenn ich in jemanden verliebt wäre. Blöde Situation, was?“ Er lächelte Adam aufmunternd zu. „Mach dir nichts draus. Aber glaub nicht, dass ich so einfach locker lassen werde. Du gefällst mir.“ Adam sah ihn einen Moment skeptisch an. Er war zwar froh, dass André wusste, was in ihm vorging und das er sich nicht allzu große Chancen ausrechnen sollte, aber seine Zuneigung irritierte ihn. Man konnte doch unmöglich so schnell an einer anderen Person interessiert sein! „Du kennst mich doch kaum.“ „Egal. Ich kann dich kennen lernen. Und so, wie du dich bis jetzt verhalten hast, gefällt es mir sehr, sehr gut.“ Sein Grinsen wurde ein bisschen breiter. Sein Gegenüber senkte langsam den Blick, seufzte dann nur und nickte. Es war ja nicht so, dass er nicht André auch kennen lernen wollte. Nur, ihre Erwartungen gingen da wohl ein bisschen auseinander. „Erwarte dir nicht zu viel. Irgendwie... komm ich von Leon einfach nicht mehr los. Deine Chancen... also... Arg... Ach, egal...“ André nippte gerade an seinem Kaffee, doch als Adam Leons Namen erwähnte, hielt er inne. „Leon? Dein Schwarm heißt Leon?“ „Hm.“ Adam sah ihn überrascht an. „Ja, wieso?“ „Auch, wenn’s sehr unwahrscheinlich ist, ich weiß,“, er zögerte kurz, „aber nicht zufällig ein Leon Constal?“ „Ehm, doch, genau der.“ „What the fuck? Was macht der denn wieder in der Stadt???” Adam zuckte bei diesem Ausbruch zusammen. André sah nicht sonderlich begeistert aus, um nicht zu sagen, sehr verstimmt. Ein unangenehmes Gefühl kroch Adams Rücken hoch. Leon schien nicht sonderlich beliebt zu sein. „Du kennst ihn?“, fragte er leicht verunsichert. „Natürlich. Wer kennt ihn nicht? Er ist bekannt wie ein bunter Hund, oder, zumindest, war es, bevor er vor vier Jahren weggezogen ist. Hätte nicht gedacht, dass er hierher zurück kommt.“ Unwillkürlich spitze Adam die Ohren. Hier gab es jemanden, der Leon kannte. Und dieser Jemand hatte vielleicht keine Skrupel, mehr aus Leons Vergangenheit zu erzählen. „Du magst ihn nicht?“ „Hm.“ André runzelte die Stirn. „So würd ich das nicht nennen. Bei ihm wird man förmlich schizophren. Einerseits ist man begeistert von seinem Charisma, seinem Äußeren und allem, und andererseits könnte man ihn für seine elende Arroganz und diesen grässlichen Egoismus, mit dem er alle und jeden behandelt, hassen.“ Er seufzte. „Man könnte, tut es aber nicht wirklich. Im Gegenteil, man verfällt ihm, verliebt sich über beide Ohren, all das Zeugs.“ Mit einem kritischen Blick musterte er Adam. „Anscheinend bist du ihm aber auch verfallen. Na, umso mehr hab ich zumindest einen Grund, dich von mir zu überzeugen. Er würde dir nur weh tun, glaub mir. Falls er das nicht schon gemacht hat.“ Der letzte Satz klang eher wie eine Frage, auf die Adam jedoch keine Antwort wusste. Hatte Leon ihm denn ernsthaft weh getan? Alle warnten ihn davor, sich in ihn zu verlieben oder mehr mit ihm zu tun zu haben, aber wurde er von Leon denn wirklich schlecht behandelt? Klar, er war arrogant und unheimlich selbstbewusst, schien sich alles wie selbstverständlich zu nehmen und überzeugt davon zu sein, auch alles zu kriegen, aber er hatte Adam nie ernsthaft Schmerzen zugefügt, egal ob psychisch oder physisch. Er hatte ihn geneckt, ja, ihn provoziert. Aber war es böse gemeint? Oder hatte Leon es einfach nur getan, weil er nichts von Adam Gefühlen wusste und deswegen daran nichts Schlimmes sah? Würde er sich vielleicht anders benehmen, wenn Adam seine Liebe gestand? Vielleicht dann Klartext reden? Er seufzte. War Leon wirklich so ein schlechter Mensch, wie alle sagten? „Woher kennst du ihn?“ Adam wusste nicht, was er fragen sollte. Es schwirrte so viel in seinem Kopf, allein durch diese einzige Information, dass André Leon kannte. Er wollte zumindest irgendwo anfangen. „Aus der Schule. Wir gingen eine Zeit lang gemeinsam zur Schule... auch wenn ich ein paar Stufen über ihm war, da war es schwer, ihn nicht zu kennen. Ich war natürlich wie alle andern von ihm fasziniert. Und, na ja, ich hab da auch schon im ‚Paradise Hill’ gearbeitet, er war ab und zu dort.“ „Hat...“ Adam biss sich auf die Unterlippe und fixierte seine Tasse. „Hattet ihr etwas miteinander?“ „Ja.“ Es klang nicht sonderlich überrascht über diese Frage. „Nicht oft. Wir haben vielleicht zwei, drei Mal die Nacht miteinander verbracht. Ihm wurde schnell langweilig, weswegen er dauernd wechselnde Partner hatte. Oder, besser gesagt, Bettgenossen.“ „Männer?“ „Nein, Frauen auch. Er hat alles genommen, was nicht bei drei auf den Bäumen war.“ Adam schluckte. Irgendwie bestätigte das seine Befürchtung, dass er wohl nur ein Zeitvertreib für Leon war. „Er hatte keinen einzigen festen Partner?“ André zögerte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Nichts wirklich festes. Nein.“ Der Junge sah auf. Das war nicht alles, oder? „Wieso ist er weggezogen?“ „Willst du mich ausfragen?“ Der Tänzer zog die Augenbrauen zusammen. Es wirkte nicht wütend, sondern eher nervös, unsicher. „Ich will nur mehr über ihn erfahren. Er erzählt ja nichts von sich.“ Mit einem Schulterzucken winkte André ab. „Das wird dann wohl auch seinen Grund haben. Ich habe keine Lust, ihn irgendwie zu verärgern.“ „Hast du Angst vor ihm?“, fragte Adam etwas überrascht. „Nicht direkt. Aber er hat Geld, und Geld ist Macht. Und ich glaube nicht, dass er die Skrupel hätte, diese Macht einzusetzen.“ „Hört sich an, als ob er ein Mafiosi wär.“ „Nein, nur das verwöhnte Kind von sehr, sehr reichen Eltern. Er ist sozusagen damit aufgewachsen, die fertig zu machen, die er nicht mag.“ André lehnte sich zurück. „Er ist kein Arschloch. Aber... wie soll ich sagen? Du bist für ihn nichts wert. Bis auf ein paar Ausnahmen gab es keinen, der ihm was bedeutet hat.“ „Paar Ausnahmen?“ „Jep.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es gab ein paar, die er mochte. Waren nicht viele. Keine Ahnung, wer alles.“ Dieses Thema schien ihm unangenehm zu sein. Adam seufzte innerlich. Ihm kam es vor, als ob es einiges gäbe, was André zwar wusste, aber einfach nicht sagen wollte. Auch wenn es ihm nicht gefiel, er musste es wohl darauf beruhen lassen. Im Moment hatte er sowieso schon genug erfahren. Und zu verarbeiten. Obwohl er noch viel, viel mehr wissen wollte. Leon. Von Geburt an reich und verwöhnt. Charismatisch, von allen gemocht und verehrt. Sexuell hungrig, unbefriedigt, nicht sonderlich wählerisch. Was sollte er davon halten? Was sollte er denken, fühlen? Jeder riet ihm von ihm ab, absolut jeder. Und trotzdem, er konnte nicht. Er wollte nicht. Er wollte Leon haben, wollte, dass er ihn liebte, verdammt. Egal was alle andern sagten. „Wie wär’s, wenn wir das Thema wechseln?“ So langsam bekam er Kopfschmerzen davon. “Genug erfahren?“ „Hm. Vorerst wohl ja.“ André beugte sich zu ihm vor. „Und es bringt dich nicht von deiner Meinung, oder, besser gesagt, von deinen Gefühlen ab?“ Adam schüttelte den Kopf, ohne von seiner Tasse aufzuschauen. „Nein.“ „Dacht ich mir fast schon.“ Er seufzte. „Gut, lass uns das Thema wechseln. Hast du Lust, beim ‚Paradise Hill’ ab und zu als Barkeeper zu arbeiten?“ „Was?“ Adam sah überrascht auf. „Habt ihr etwa nicht genug?“ „Na ja, du könntest als Muse’ Ersatz fungieren. Er fällt wegen Philip manchmal aus, will ja schließlich so viel wie möglich Zeit mit ihm verbringen.“ „Philip?“ „Ja, Philip. Sein Lover.“ Der Tänzer hob erstaunt eine Augenbraue. „Ihr seid befreundet und du kennst nicht mal den Namen seines Lovers?“ „Nein. Er redet nicht viel über ihn. Eigentlich gar nichts, um genau zu sein.“ „Oh... Gut, ist auch ein bisschen problematisch. Aye, ich halt lieber die Klappe. Besser, er erzählt es dir selber.“ Adam sah ihn nur ausdruckslos an. So langsam kam er sich vor wie der Depp der Nation, der von nichts und niemanden ne Ahnung hatte. Darf ich vorstellen, mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. „Oi, mach nicht so ein Gesicht.“ André nahm eine seiner Hände und drückte einen Kuss auf die Handinnenfläche. „Er wird’s dir schon noch irgendwann erzählen, mach dir da keine Sorgen. Und jetzt, endgültiger Themenwechsel. Willst du dort arbeiten?“ Er machte einen auf Dackelblick. Adam musste lachen. Es tat irgendwie einfach nur unheimlich gut, mit diesem Kerl zusammen zu sein. Er besaß eine simple Art, ihn aufzumuntern und ihm ein gutes Gefühl zu vermitteln. „Keine Ahnung, ich denk drüber nach. Wär sicher interessant.“ „Jep, allerdings. Sag einfach Bescheid, sobald du dich entschieden hast. Muse hat auch schon ein Loblied auf dich beim Chef gesungen, der nimmt dich bestimmt. Außerdem wärst du ein guter Kundenfang.“ „Danke, das nehm ich mal als Kompliment.“ „So ist es auch gemeint.“ André grinste, rutschte mit seinem Stuhl zu Adam und gab ihm einen intensiven Kuss. „Du bist einfach nur lecker. Ich würd dich ja am liebsten gleich auf der Stelle vernaschen, aber ich darf ja nicht.“ „Nein, darfst du wirklich nicht.“ Adam lachte, löste sich aber nicht von ihm. „Meine Jungfräulichkeit gehört jemand anderem.“ „Ts... na, das werden wir noch sehen, vielleicht bin ich doch überzeugender als Leon.“ Sie kabbelten sich fröhlich weiter, ohne eins der vorherigen Themen auch nur im Entferntesten nochmal anzuschneiden. Es herrschte eine gelöste Stimmung und Adam bereute es fast, dass er eine Nacht mit André nicht in Erwägung ziehen wollte. Er würde sanft, liebevoll sein, einfühlsam, zärtlich. Und trotzdem würde er Adams Hunger nach Berührungen stillen, da war er sich sicher. Wenn nur diese dämlichen Gewissensbisse nicht wären. Und diese Spinne Leon, die schon so gekonnt ihr Netz um Adam gesponnen hatte. Er fühlte sich fast wie ein Schmetterling, der sich in diesem Netz verfangen hatte. Er wusste nur noch nicht, ob er sich daraus wieder befreien könnte. Oder ob er es schaffen würde, die Spinne letztenendes doch noch zu bezirzen. Schließlich trennten sie sich, als die Sonne bereits langsam unterging. André verabschiedete sich mit einem langen Kuss, ohne auch nur irgendwie auf Adams mögliche Proteste zu achten. Adam seufzte, sah ihm noch einen Moment nach und schlug dann die Richtung zu Leons Haus ein. Die Pflanzen wollten noch umsorgt werden. Müde öffnete er die Tür und betrat die Eingangshalle. Der Tag hatte ihn ausgepowert, obwohl es eigentlich schön in Andrés Gegenwart gewesen war. Nur, mal wieder wirbelten so viele Fragen in seinem Kopf herum, auf die er keine Antwort hatte und auf die er vermutlich auch nie eine Antwort bekommen würde, dass er schon mit Kopfschmerzen kämpfen mussten. Am einfachsten wäre es natürlich, wenn er Leon direkt alles fragen würde. Und am schmerzhaftesten. Er konnte sich Angenehmeres vorstellen. Mit etwas unsicheren Bewegungen drückte Adam den Lichtschalter und starrte den Zettel fast schon böse an, der auf der niedrigen Kommode direkt neben dem Kleiderständer lag. Freundlicherweise hatte ihm Leon nämlich aufgeschrieben, wo welche Pflanze stand und wie man sich um sie zu kümmern hatte. Kaum zu glauben, dass Leon sich tatsächlich so sehr um diese Dinger sorgte. Und noch weniger zu glauben, dass Adam den Mist sogar machte. Hätte er vorher gewusst, worauf er sich da einließ, hätte er es niemals angenommen. Leons Haus war groß, sehr, sehr groß, und somit waren die Möglichkeiten, um irgendwo irgendwelche Pflanzen aufzustellen, auch vielfältig, sehr, sehr vielfältig. Seufzend hängte er seine Jacke an den Kleiderhaken, zog seine Schuhe aus, nahm den Zettel an sich und tapste dann hoch in Leons Zimmer. Eigentlich hatte er sich die ganzen Tage dort so wenig und kurz wie möglich aufgehalten, und das rächte sich jetzt. Vorsichtig ging er zum Fensterbrett und sah die Pflanze, die dort vor sich hin röchelte, zornig an. Er hatte ja nie behauptet, einen grünen Daumen zu haben, aber es sollte doch eigentlich nicht so einfach sein, eine gesunde, wohlgeformte Pflanze innerhalb weniger Tage so zu zurichten, oder? Wieso hatte er es trotzdem geschafft? „Na, komm schon. Ich war doch immer gut zu dir, Mensch.“ Er tippte die bräunlichen Blätter dieses Etwases – er wusste nicht mal, was das für ein Blümchen war – leicht verzweifelt an. Hoffentlich war das nicht grad Leons Lieblingspflanze. So wie er ihn kannte, würde das nur Ärger bedeuten. Mit einem Knurren und einem zornigen Blick auf sein Kummerkind ließ er sich aufs Bett fallen. Irgendwie war es trotzdem amüsant, dass Leon so ein Faible für Pflanzen hatte. Man traute ihm das nicht so recht zu. Adam rollte sich auf der Seite zusammen. Verdammt, er musste die ganze Zeit an ihn denken. Das Bett roch sogar noch nach ihm. Verdammt. Er wollte ihn hier haben, wollte ihn in den Arm nehmen. Wollte ihn einfach nur anschauen, bei ihm sein, mit ihm reden, mit ihm streiten. Verdammt. Verdammt. Verdammt! Er war grad mal eine Woche weg. Eine einzige Woche. Das sollte doch wohl auszuhalten sein, oder? Verdammte Scheiße. Er rollte sich vom Bett und sah sich mit einem Seufzer um. Besser, er kümmerte sich mal um die Pflanzen. Umso schneller konnte er hier weg, hier, wo in jeder Ecke, in jedem Raum Leon lauerte, sein Geist, sein Geruch, einfach nur er. Wo Adam fast wahnsinnig vor Sehnsucht wurde. Wie sollte man bitte nicht an eine Person denken, wenn man sich tagtäglich in ihrem Haus aufhielt? Mit leicht hängenden Schultern trottete er ins Wohnzimmer. Das Gute an diesem Haus war, dass er die Musik so laut er wollte aufdrehen konnte, ohne jemanden zu stören. Und da es hier nicht gerade klein war und sich nur im Wohnzimmer eine Stereoanlage befand, musste er zwangsweise die Lautstärke fast auf Maximum stellen. Vielleicht litt diese Pflanze ja an Hörschäden und ging deswegen ein. Man konnte ja nie wissen. Tja, selbst Schuld, wenn man nicht in jedes Zimmer eine Musikanlage stellte. Adam knabberte an seiner Unterlippe, während er nach und nach die CDs durchging, die Leon in seinem Regal hatte. Sie trafen nicht wirklich so seinen Geschmack, und die, die ihm gefielen, hatte er schon in den letzten Tagen bis zum Erbrechen angehört. Resigniert seufzte er und warf einen Blick zu den Kassetten, die in einer Kiste direkt unter dem Regal lagen. Eigentlich hätte er ja nicht geglaubt, dass Leon so altmodisch war und immer noch Kassetten benutze, aber anscheinend konnte er sich nicht von ihnen trennen. „Vielleicht ist ja da was gescheites dabei.“, meinte er leise zu sich selber, ließ sich auf den Boden nieder und kramte eine nach der anderen durch. Die meisten Sachen waren aus den 70ern und 80ern, Bands, von denen er zwar schon mal was gehört hatte, die er aber nicht wirklich kannte. Teilweise gab es auch klassische Stücke oder moderne Versionen davon. Nichts wirklich interessantes. Er nahm gelangweilt eine weitere in die Hand, stutzte dann aber. Er las den Titel nochmal. ‚From Suo to Leon, with Love’ Suo? Wer war Suo? Weiter stand nichts drauf, keine Band- oder Titelbezeichnungen, nichts. Aber die Hülle wirkte abgegriffen, als ob man sie häufig benutzt oder mit sich rumgeschleppt hätte. Auf der Vorderseite hatte sie einen kleinen Sprung und mehrere leichte Kratzer, fast schon normale Verschleißerscheinungen. Neugierig stecke Adam sie in eines der Kassettendecks der Stereoanlage und schaltete es an. Es erklang zuerst ein Rauschen, und dann, erst leise, dann immer lauter, Pianomusik. Scheinbar spielte jemand auf dem Piano. Nach der Qualität der Aufnahme zu urteilen war es eine Live-Aufnahme von einem Amateur. Spielte der Pianist etwa extra für Leon? Und hatte er es etwa extra für ihn aufgenommen? War das Suo? Adam strich sich nachdenklich über die Augen. War das dieser ominöse „er“, über den Sachiko und Leon geredet hatten? Oder, besser gesagt, über den Sachiko nicht hatte reden dürfen? Er legte sich auf den Bauch, in der Hand die Kassettenhülle, und lauschte den sanften Pianotönen. Es wirkte wie das Tröpfeln des Regens an einem Frühlingsmorgen. Das war das erste Bild, das ihm bei diesen Tönen einfiel. Langsam baute sich vor ihm der helle, orange Schein der Morgensonne auf, der sich auf den nassen Blättern eines Baumes widerspiegelte. Der Regen fiel fast lautlos, wie das leise Rauschen eines Baches, auf den Asphalt. Ein Auto brauste vorbei, fuhr durch eine kleine Pfütze und ließ die Wassertropfen aufspritzen. Ein Vogel stimmte sein morgendliches Lied an, putze sich kurz die Federn und sah sich dann nach seinem Frühstück um. Die nächste Melodie entfachte einen Sturm. Eine weite Grasebene, auf der ein einziger, großer Baum stand, der schon seit Ewigkeiten dort wuchs. Er ragte in den dunklen, finsteren Himmel hinauf, über den immer wieder Blitze zuckten. Der darauffolgende Donner erschütterte die Erde, ließ die Tiere vor Angst fiepen und kreischen. Die Äste des Baumes wurden zur Seite und nach hinten gebogen, lose Blätter wirbelten in einem wilden Tanz durch die Luft, Rinde löste sich von seinem Stamm, doch er brach nicht, er beugte sich nicht dem Sturm. Er hielt stand, aufrecht und stark. Adam fühlte sich an Leons Bilder erinnert. Wie diese in jedem Betrachter ein bestimmtes Gefühl auslösten, schien jede dieser Melodien ein bestimmtes Bild, eine bestimme Vorstellung aufzurufen, ohne das er überhaupt die Augen schließen musste. Er strich mit einer Fingerspitze über die Beschriftung. ‚From Suo to Leon’ Leise seufzte er. ‚With Love’ Er könnte André fragen. Vielleicht würde er ja wissen, wer Suo war. Er könnte auch Sachiko fragen. Aber er wollte nicht. Er wollte es von Leon erfahren. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass er das lieber bleiben lassen sollte, es sei denn, er wollte ihn wütend machen. Noch mehr Fragen, die keine Antwort bekamen. So langsam aber sicher ging ihm das mächtig auf die Nerven. Mit einem energischen Sprung kam er wieder auf die Beine, drehte die Musik lauter, legte die Hülle neben die Anlage und ging zu Leons Zimmer zurück. Es war Zeit, dass er sich um die Pflanzen kümmerte, sonst würde er noch die ganze Nacht hier verbringen. Sein Blick, als er eintrat, fiel auf die Fotorahmen, die neben dem Bett auf der Kommode standen. Er hatte ihnen bis jetzt kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Aber jetzt... Er schüttelte den Kopf. Leon vertraute ihm, sonst hätte er ihm nicht so einfach den Schlüssel zu seinem Haus überlassen. Er vertraute ihm, dass er nicht in irgendwelchen Privatsachen rumkramte oder etwas in der Art. Auch wenn es Adam schon öfter mal in den Fingern gejuckt hatte, die Schubladen ein bisschen unter die Lupe zu nehmen, so hatte er sich doch immer zurückgehalten. Er wollte auf keinen Fall Leons Vertrauen missbrauchen. Nur, Fotos konnte man ja eigentlich anschauen, vor allem, wenn sie so offen da standen. Sie waren ja nicht so privat wie Schubladen und Schränke. Er trat näher an einen der Nachttische und ließ seinen Blick über die verschiedenen Bilderrahmen schweifen. Es waren nur vier Stück, auf der anderen Seite des Bettes fünf. Er erkannte auf einem Maria und Jefferson, das Paar aus der Kneipe, in der Leon und er nach dem Kinobesuch gewesen waren. Das Bild wurde anscheinend auch dort aufgenommen, jedoch schien es schon eine Zeit lang her zu sein, da Leons Haare dort noch um einiges kürzer waren, und er wesentlich jünger schien. Auf einem anderen befanden sich drei ihm völlig fremde Personen, die er noch nie gesehen hatte. Ein drittes war das Portrait von einem jungen Mann. Adam sah es sich etwas genauer an und stutze. Hatte Sachiko einen Bruder? Vielleicht sogar einen Zwillingsbruder? Jedenfalls hätte es dieser junge Mann vom Aussehen her locker sein können. Die gleichen, schwarzen Haare, die gleichen Augen und Gesichtszüge. Man musste nur die Haarlänge etwas ändern und er hätte eine zweite Sachiko sein können. Er betrachtete auch die anderen Fotos, doch keines von ihnen gab ihm einen wirklichen Anhaltspunkt. Vielleicht hatte Leon nicht mal Fotos von diesem ominösen Suo? Wenn er nicht mal wollte, dass Sachiko von ihm sprach. Wenn es denn tatsächlich die selbe Person sein sollte. „Aaaaaaaaaaarg.“ Adam ließ sich wieder rücklings aufs Bett fallen und starrte an die Decke. So viele Fragen, keine einzige Antwort. Verdammt nochmal, langsam verlor er ernsthaft die Lust dazu. Wieso ließ er es nicht einfach darauf beruhen? Wer auch immer dieser Kerl aus Leons Vergangenheit war, er war Vergangenheit, er hatte für das Hier und Jetzt keine Bedeutung mehr. Er war nicht mehr wichtig. Vergessen, begraben, fertig, aus. Oder vielleicht doch nicht? Spukte er immer noch in Leons Hinterkopf herum? Natürlich, sonst würde er nicht so stark auf seine Erwähnung reagieren. Wie wichtig war er ihm aber? Welche Bedeutung hatte er? Wieso wurde Leon wütend, wenn man ihn erwähnte? Wieso sprach er nicht über ihn? Wieso, weshalb, warum, wozu? Gott verdammte Scheiße auch. Adam drehte sich zur Seite, einen Arm unter dem Kopf angewinkelt, und starrte auf einen leeren Punkt auf dem Boden. Einfach nicht dran denken. Einfach nur nicht dran denken. Warten, bis Leon wieder da war. Und bis er ihn wieder in den Arm nahm. Er hätte es nie für möglich gehalten wie sehr ein Herz vor Unsicherheit und Sehnsucht schmerzen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)