New Horizon von dattelpalme94 ================================================================================ Kapitel 11: Psychoanalyse ------------------------- Seit ihrem Treffen mit Matt war bereits eine Woche vergangen und die langersehnten Sommerferien waren in greifbarer Nähe. Sie musste nur noch diesen Schultag rumbekommen. Ein letztes Mal saß Mimi mit ihren Freunden während ihrer Mittagspause unter dem Baum, wo sie sich immer trafen. Seit zwei Tagen saß auch Matt wieder bei ihnen. Nachdem er mit Mimi gesprochen hatte, hatte er sich tatsächlich dazu durchringen können, mit Sora und Tai zu reden. Er hatte Mimi jedoch nur erzählt, dass das Gespräch mit Tai anscheinend gut verlaufen sei und sie versuchen wollten, sich wieder anzunähern. Mit Sora war es wohl nicht so gut gelaufen. So gerne er ihr die Wahrheit hinter seiner Entscheidung für die Trennung sagen wollte, er hatte es nicht übers Herz gebracht. Und genau dies zeigte sich, als sie gemeinsam da saßen und aßen. „Kannst du dir vorstellen, dass der uns wirklich so einen Haufen Aufgaben für die Ferien gegeben hat? Habt ihr nicht so viel bekommen?“, empört zeigte Tai Matt die Arbeitsblätter, die er von seinem Mathelehrer bekommen hatte. „Haha, nein. Wir sind halt die bessere Klasse und haben es nicht nötig, noch so viel zusätzlich lernen zu müssen“, lachte Matt. Man konnte deutlich merken, dass sich die angespannte Situation zwischen den beiden gelöst hatte und sich die beiden immer mehr ihrer Freundschaft annäherten, die sie vor ihrem Streit hatten. Mimi, die neben Sora saß, merkte allerdings, dass wohl nur das Gespräch zwischen Matt und Tai etwas geändert hatte. Sora saß kerzengerade da und vermied es tunlichst, auch nur in Matts Richtung zu schauen. Die Brünette war ein bisschen überfordert und wusste nicht, wie sie Sora helfen konnte, ohne dass alle etwas mitbekamen. Sie warf Sora einen mitleidigen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrer Essensbox zuwendete. Seit ihrem Gespräch mit Izzy hatte sie sich tatsächlich immer mehr zu essen eingepackt. Frustriert nahm sie einen Bissen ihres Brotes und versuchte, sich wieder mehr auf das Gespräch zu konzentrieren. Mit Sora wollte sie später auf jeden Fall noch reden. Doch wenn man ihr in dieser Situation das Gefühl gab, dass sie bemitleidet wird, dann würde ihr das sicher nicht helfen. Vielleicht war das Gefühl von Normalität besser für sie. „Die Ferien werden sicher super“, freute sich Takeru enthusiastisch und legte einen Arm um Kari. Die beiden waren wirklich ein süßes Paar, wie Mimi fand. Man konnte die Vertrautheit zwischen den beiden nicht nur sehen, sondern auch spüren. Jedes Mal, wenn Mimi die beiden so sah, wurde sie ein wenig eifersüchtig. Sie hätte auch gerne so jemanden an ihrer Seite, doch sie musste sich auch eingestehen, dass sie momentan keine Zeit für einen Freund hatte. Leider. „Genau, du musst ja nicht gefühlt hundert Matheaufgaben lösen“, motzte Tai und alle lachten. Auch über Soras Lippen huschte ein kleines Lächeln, was Mimi freudig bemerkte. „Stell dich nicht so an“, ermahnte Matt ihn trocken. „Wenn du dich am Anfang der Ferien mal auf den Arsch setzt und die Sachen gleich am Anfang erledigst, dann hast du auch was von den Ferien.“ „Jaja, das sagt sich so leicht. Aber wenn man einmal im Ferienmodus drin ist und erst um elf oder so aufsteht, dann vergisst man Schule halt komplett“, verteidigte sich Tai. „Ich kann dich ja morgens wecken“, zwinkerte Kari ihm zu und erntete einen empörten Blick von Tai. „Als ob das was bringen würde“, lachte Matt und stieß seinem besten Freund leicht in die Rippen. „Um sieben Uhr wecken ist ja auch gemein“, mischte sich Mimi nun in das Gespräch ein. „Warum stehst du so früh auf, Kari?“, fragte Tai verdattert. „Mensch Tai, das hab ich dir doch schon erzählt. Wir haben drei Wochen Intensivtraining vom Ballett aus“, erklärte Kari leicht genervt. „Achso, stimmt. Da war was“, verlegen kratzte sich Tai am Hinterkopf. „Machst du da auch mit?“, richtete sich Tai an Mimi. Diese nickte lediglich als Antwort, da sie gerade am Kauen war. „Hab ja irgendwie nichts anderes erwartet“, murmelte er. „Was soll das denn heißen?“, hakte Mimi leicht säuerlich nach. Immer dasselbe mit Tai. „Dass du nur fürs Ballett lebst und wahrscheinlich doch eh keine Zeit hättest, was mit uns zu unternehmen.“ „Hast du nicht zugehört? Das Intensivtraining geht nur drei Wochen. Danach haben wir nur noch zweimal die Woche Training während der Ferien. Also habe ich sehr wohl Zeit, etwas mit euch zu unternehmen.“ „Genau, weil dir auch so wenig Training reicht.“ Könnten die Blicke Funken sprühen, dann würde sich langsam ein Gewitter anbahnen. „Wenn du dich daran erinnerst, in den letzten Sommerferien habe ich auch nicht viel trainiert. Ich habe auch ein Leben außerhalb des Balletts.“ „Ganz genau. Und..“ „Es reicht“, Matts erhobene Stimme unterbrach die beiden Streithähne, die beleidigt in unterschiedliche Richtungen schauten. Was bildete sich Tai eigentlich ein? Dieser dämliche Fußballidiot! Er lebte schließlich doch auch nur für seinen Sport! „Mimi, was machst du noch in den Ferien?“, erkundigte sich Takeru. Er wollte wohl auch verhindern, dass es zwischen den beiden noch weiter eskalierte. „Ich weiß noch nicht“, gestand sie ehrlich, denn sie hatte tatsächlich noch nichts geplant. Ihre Mutter wollte ursprünglich mit ihr nach New York fliegen, um dort ein paar Bekannte zu besuchen. Doch Mimi hatte ihrer Mutter zu verstehen gegeben, dass sie darauf keine Lust hatte. Vor allem weil sich Mimi bewusst war, dass es sicher wieder Bekannte ihrer Mutter sein würden, mit denen sie nie viel am Hut hatte. Es würden Tage purer Langeweile bei stundenlangen Gesprächen über Klatsch und Tratsch werden. Etwas, auf das Mimi wirklich keine Lust hatte. Glücklicherweise hatte sie auch ihren Vater auf ihrer Seite, der nochmal mit Satoe gesprochen hatte und sich dafür eingesetzt hatte, dass Mimi in Tokio bleiben konnte, während ihre Mutter zwei Wochen nach New York reisen würde. Ihr Vater hatte leider für diesen Zeitraum keinen Urlaub bekommen, weswegen er auch in Tokio bleiben würde. „Naja, umso mehr Zeit, die du mit uns verbringen kannst“, lachte Takeru und auch Mimi musste kichern. Sie hatte diesen verrückten Haufen wirklich lieb gewonnen, auch wenn sie bisher leider nicht viel mit ihnen außerhalb der Schule unternehmen konnte. Sie war zu sehr eingespannt. Aber das würde sich in den Ferien ändern! „Genau!“, stimmte sie optimistisch zu. „Und da wir nicht so viele Aufgaben wie manch andere aufbekommen haben, kann ich die Zeit auch gerne mit euch verbringen.“ „Blöde Ziege“, brummelte Tai leise. Und auch wenn es ein gemeiner Kommentar von Tai war, so konnte sie gerade darüber grinsen. Ihre Stimmung war nach der kurzen Auseinandersetzung einige Augenblicke vorher wieder gut und sie wollte sich das jetzt nicht wieder kaputtmachen lassen. „Also, womit läuten wir nach der Schule die Ferien ein?“, fragte Izzy, der sich auch auf eine kleine Pause von der Lernerei freute. „Wir könnten Eis essen gehen.“ „Oder wir treffen uns am See.“ „Wir können auch im Park Fußballspielen gehen.“ „Mensch Davis, nicht jeder will Fußball spielen.“ Hin und her gingen die Vorschläge und es war eine Freude, der kleinen Gruppe bei ihrer Diskussion zuzuhören. Mimi merkte aber, dass sich Sora neben ihr immer mehr verkrampfte. Ihr fiel auch auf, dass sie sich bisher noch gar nicht geäußert hatte, was sie gerne machen würde. „Sora“, sorgenvoll schaute Mimi ihre beste Freundin an, die sich mit ihren am Saum ihres Schulrockes festkrallte. „Entschuldigt mich, ich muss auf Toilette“, schnell sprang Sora von ihrem Platz auf und ging in Richtung des Schulgebäudes. „Ich muss auch“, fügte Mimi schnell hinzu und sprang ebenso schnell auf, um Sora noch einzuholen.   Mimi schaute sich im Flur des Schulgebäudes um, doch es waren nur einige Schüler an ihren Spinden zugegeben. Von Sora fehlte jede Spur. So viel Vorsprung, dass sie sie so schnell aus den Augen verlieren konnte, hatte Sora nicht. Eilig ging Mimi wieder nach draußen und lief ein paar Schritte hinter das Schulgebäude, wo sich eine weitere Wiese, auf der man sich ausruhen konnte, befand. Auf dieser wimmelte es jedoch nicht so sehr von Schülern, wie auf der, die die Gruppe von Mimi und ihren Freunden bevorzugte. Tatsächlich! Da war Sora. Sie hatte sich rücklings auf das grüne Gras gelegt, ihre Hände auf dem Bauch zusammengefaltet und ihren Blick gen Himmel gerichtet. Zögerlich ging Mimi auf sie zu und legte sich dann neben sie. „Sora..“ „Nicht. Ich brauch noch einen Moment.“ Stumm nickte Mimi, ohne zu wissen, ob Sora diese Reaktion überhaupt bemerkt hatte. „Ist es nicht seltsam, wie unterschiedlich der Himmel sein kann?“, fragte Sora nach nur einem kurzen Moment des Schweigens. „Hm..“, murmelte Mimi, die nicht genau wusste, worauf Sora hinaus wollte. „Ich meine, manchmal ist der Himmel so hell und friedlich, dass er einem Energie gibt, um den Tag zu überstehen. Wenn der Himmel blau ist und nur ein paar Wolken zu sehen sind, dann hatte ich früher immer das Gefühl, das nichts Schlimmes passieren kann. Die schlimmen Dinge passieren in der Nacht. Wenn alles dunkel ist. Dann kommt bei mir die Einsamkeit hervor“, erzählte Sora, ohne ihren Blick vom Himmel abzuwenden. Heute war der Himmel babyblau, kaum eine Wolke war zu sehen und die Sonne schien kräftig auf die Stadt. „Aber heute fühlst du dich nicht voller Energie, obwohl der Himmel wolkenfrei ist?“, hakte Mimi nach. „Ja. Ich weiß nicht, wie ich mit Matt umgehen soll. Als er bei seinen Bandkollegen gesessen hat, dann musste ich ihn nicht sehen und er spukte wenigstens ein paar Momente nicht in meinem Kopf umher. Aber jetzt..“ „Jetzt ist es anders“, beendete Mimi den Satz. „Jetzt musst du dich mit ihm auseinandersetzen, ob du möchtest oder nicht.“ „Genau. Er war vor ein paar Tagen bei mir und wollte reden.“ Keine neue Information für Mimi. Nur der Inhalt und der genaue Verlauf waren Mimi unbekannt, da Matt ihr nur wenig davon berichtet hatte. Aber das würde Mimi ihr besser nicht sagen. Das wäre nicht gut im Moment. Sie würde nun einfach zuhören. „Was wollte er?“, fragte Mimi gespielt unwissend nach. „Er meinte, er wolle nicht, dass wir so auseinandergehen und den Rest unseres Lebens so tun als wären wir Fremde“, Sora pausierte kurz und nahm einen tiefen Atemzug. „Aber ich meinte, dass ich das nicht könnte. Von sich Liebenden einfach wieder den Schritt zurückgehen und wieder Freunde sein.“ Mimi merkte, wie sehr es Sora mitnahm, darüber zu sprechen. Stumm legte sie ihre Hand auf Soras. Zum ersten Mal seit sie da lagen drehte Sora ihren Kopf zu ihr und Mimi tat es ihr gleich. Sie schauten sich in die Augen und lächelten leicht. Zwei Freundinnen, die jeweils mit guten Freunden von ihnen diesen einen Schritt weiter gegangen waren und die daran gescheitert waren. Auch wenn Mimi und Tai nie ein Paar waren, so hatte es sich vergangenen Sommer nach mehr als nur Freundschaft, nach mehr als nur einer Romanze angefühlt. Aber sowohl Sora und Matt wie auch Mimi und Tai mussten diesen Schritt büßen und verloren dadurch einen Freund. „Matt meinte, wie leid es ihm täte, aber er hätte nicht anders gekonnt. Er sei auf der Suche nach sich selbst und die Suche könnte er nur alleine bestreiten. Den Plattenvertrag sah er als eine Chance dazu“, stammelte Sora, die gegen die Tränen ankämpfte. Matt hatte ihr es also in reduzierter Form erzählt. Mimi richtete sich auf und schaute Sora mitfühlend an. „Bitte nicht diesen Blick. Davon hab ich in letzter Zeit genug gehabt“, murmelte Sora und schlug sich die Hände vor die Augen. „Entschuldigung. Möchtest du meine Meinung hören?“, fragte Mimi sanft nach. „Ja, aber bitte deine ehrliche Meinung.“ „Ich glaube, dass Matt dich liebt. Dass er nie damit aufgehört hat. Aber er liebt auch die Musik. Und er möchte austesten, ob die Musik und er zusammengehören. Wenn er die Musik weiter verfolgt, dann weiß er, wohin das führen kann. Entweder sie werden erfolgreich und sind glücklich. Oder aber er scheitert mit der Musik. Dann kann er einfach anfangen zu studieren oder sich eine Ausbildung suchen und, auch wenn die Frustration über das Scheitern groß ist, wäre es irgendwie okay. Er hat es ja zumindest versucht.“ „Und bei uns wusste er, dass wir scheitern werden, oder was?“, bemerkte Sora sarkastisch. „Nein, so mein ich das nicht. Bei euch wusste er, dass ihr zusammengehört. Aber ich denke, er hatte Angst, dass ihr trotzdem scheitern könntet. Dass eure Vorstellungen vom Leben sich irgendwann so sehr unterscheiden, dass ihr nicht mehr weitermachen könnt. Er hat Angst, dass er dir irgendwann vorwerfen könnte, dass er nie die Chance hatte, herauszufinden, wer er wirklich ist, weil es immer nur diese eine Richtung gab. In der Musik kann er experimentieren bis er seinen Stil hat. Sie nimmt es ihm nicht übel. Aber er weiß nicht, ob er, in welche Richtung er sich auch immer entwickeln mag, dann noch der ist, den du lieben kannst. Und deshalb hat er, denke ich, den Schlussstrich gezogen bevor es dazu kommen konnte.“ Matt hatte ihr von seinen Gründen erzählt und Mimi fügte in ihrer Erläuterung noch ihre Interpretation des Ganzen hinzu. Vielleicht fiel es ihr leichter, Matts Gedankengang nachvollziehen. Immerhin war das Ballett das, was für Matt die Musik ist. Nur dass sich Mimi nicht entscheiden musste, welchen Weg sie gehen wollte. Es wurde für sie entschieden. Von ihrer Mutter und von Tai, der sie hatte sitzen lassen. Mimi verstand aber auch, dass Sora gerade  jemanden brauchte, der ihr eine Strickleiter zuwarf, um sich aus dem Strudel der Trauer, Unsicherheit, Verzweiflung und Unwissenheit zu befreien. Und wenn Matt es nicht schaffte, die richtigen Worte dafür zu finden, dann musste sie das jetzt tun! „Danke Mimi“, lächelte Sora, die sich nun auch aufgerichtet hatte. „Aber wenn er und die Musik scheitern, wer sagt dann, dass ich noch da bin?“, fragte sie leise nach. „Ich glaube fest daran, dass zusammenkommt, was zusammengehört!“, auf Mimis Gesicht zeigte sich ein optimistisches Schmunzeln. Die Schulklingel, die das Ende der Pause und die letzten Stunden vor den Ferien ankündigte, verhinderte, dass die beiden noch weiter reden konnten. Mimi und Sora standen auf und gingen zurück zu den anderen, weil dort noch ihre Sachen lagen. Matt warf Mimi heimlich einen fragenden Blick zu, doch Mimi signalisierte ihr mit dem gleichen optimistischen Schmunzeln, dass alles okay sei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)