Auf der anderen Seite des Lichts von Labrynna ================================================================================ Kapitel 3: Die Geheimnisse des Schattens ---------------------------------------- Dass Dark die ersten Monate seines neuen Lebens überstand, war einzig und allein seiner Cleverness zu verdanken. Er reiste nur am Tage und suchte sich jeden Abend noch vor Sonnenuntergang ein Versteck, in dem er sich vor den Steppenreitern und den unzähligen anderen Dämonen verschanzen konnte. Dennoch erlaubte der Knabe sich nie, in erholsamen Tiefschlaf abzudriften. Stattdessen hielt er sich stets in einem halbwachen Dämmerzustand und lauschte dösend in die Dunkelheit, um mögliche Gefahren rechtzeitig ausmachen zu können. Die größte Schwierigkeit stellte jedoch die Wasserversorgung dar. Da die Flüsse nur noch vergammeltes Brachwasser führten, war die einzige Möglichkeit an Trinkwasser zu kommen das Sammeln von Tau oder Regen. Daher stand Dark jeden Morgen auf, sobald der erste Sonnenstrahl über das Gebirge im Osten hinweg ins Tal fiel und die in der Steppe marodierenden Monster vertrieb. Doch obwohl der Junge gierig jeden Tautropfen aufleckte, den er finden konnte, reichte es nicht. Schon nach wenigen Tagen bemerkte Dark mit anhaltendem Schwindel und flirrender Sicht erste Anzeichen einer ernsthaften Dehydrierung. Dennoch trieb er sich unbarmherzig weiter in Richtung Wüste. Nach etwa einer Woche war Dark sich sicher, dass er verdursten würde, wenn es nicht bald regnen und ihm eine Möglichkeit einfallen würde, den Regen aufzufangen. Doch als er eines Abends eine Ratte fing, die sich an seinen Vorräten zu schaffen machte, entdeckte der Knabe eine weitere Möglichkeit, seinem Körper zumindest ein wenig Flüssigkeit zuzuführen. Da er Angst hatte, ein Feuer könnte ihn an die Dämonen verraten und er seine Essensvorräte so lange strecken wollte wie möglich, zog er dem kleinen Nagetier umständlich mit seinem Schwert das Fell ab und biss angewidert die Nase rümpfend in das rohe Fleisch. Zunächst hätte er die glibberige Masse am liebsten wieder ausgespuckt, mahnte sich dann jedoch selbst, dass er nicht zimperlich sein durfte, wenn er in der Wildnis überleben wollte. Während er mit seinem Würgereiz kämpfend kaute, bemerkte er, dass das in den Zellen eingeschlossene Wasser und Blut dem in seiner Kehle brennenden Durst ein wenig entgegen wirkten. An diesem Abend beschloss Dark, seine haltbaren Vorräte für Notfälle aufzubewahren und sich stattdessen so gut wie möglich von dem rohen Fleisch kleiner Tiere zu ernähren. Auf diese Weise sicherte sich der Knabe knapp, aber erfolgreich das Leben. Bis er endlich an der Todeswüste angelangte, waren bereits viele Monde ins Land gegangen und Dark war aus seiner inzwischen zerlumpten Kleidung beinah herausgewachsen. Sein überschulterlanggewachsenes Haar war dreckig und verfilzt und der einstmals wohlgenährte Körper, auf den Medila so stolz gewesen war, war auf Grund der entbehrungsreichen Reise deutlich abgemagert. Dennoch empfand der Junge nichts außer Triumph, dass er sein Ziel ohne fremde Hilfe erreicht hatte. Nun musste er nur noch einen geeigneten Unterschlupf suchen, bevor er sich dem ultimativen Überlebenstest unterziehen konnte: jahrelanges Hausen in der unwirtlichsten und tödlichsten Gegend der Welt! Eine ganze Weile irrte Dark ziellos durch die schier endlose Gerölllandschaft, bis er in einem Felsausläufer des nahen Gebirges eine Höhle entdeckte, die er für geeignet hielt. Seine neue Unterkunft war in etwa so groß wie der Bau eines großen Bären und durch den Eingangswinkel von außen nur schwer einsehbar. Voller Enthusiasmus suchte der Knabe sich Gesteinsplatten und Felsbrocken, aus denen er sich ein improvisiertes Bett sowie einen Tisch mit Hocker baute. Nun fehlten nur noch die Felle irgendwelcher Beutetiere, um die Schlafstätte etwas gemütlicher und wärmender zu machen. Dark hatte jedoch keinerlei Zweifel daran, dass er das Fehlende schon bald auftreiben würde. Er hatte es bereits bis hierher geschafft – was sollte ihn jetzt noch aufhalten? Doch nach über einer Woche musste der Junge sich noch immer ohne jegliche Polsterungsmöglichkeit auf der kalten, harten Steinplatte seines Bettes ausstrecken. Generell ging es ihm schlechter als jemals zuvor. Zwar war es auf Grund des desolaten Zustands der toten Sonne in der Wüste nicht viel heißer als in den anderen Teilen des Landes, doch während in der Steppe zumindest vereinzelte, ohne viel Wasser auskommende Pflanzen standen, die Tiere anlockten, schien es in der Todeswüste gar kein Leben zu geben. Nur selten gelang es Dark eine kleine Eidechse zu fangen und sie noch an Ort und Stelle zu verschlingen. Seine mitgebrachten Vorräte waren inzwischen aufgebraucht und jede seiner Zellen schrie nach Wasser. Dementsprechend glaubte Dark zunächst zu halluzinieren, als er ein Geräusch in der Nähe des Höhleneingangs hörte. Sich auf die Seite rollend dachte der Junge zurück an die Zeit, in der er noch Link geheißen und mit seinen Eltern zusammen gelebt hatte. Warum nur hatten die Göttinnen ihnen solch ein Schicksal aufbürden müssen? Was gab ihnen das Recht dazu, derartig leichtfertig mit den Seelen Unschuldiger umzugehen?! Gerade als er glaubte, die angestaute Wut in seinem Innern herausschreien zu müssen, hörte er wieder ein Geräusch – ganz nah dieses Mal. Reflexartig griff Dark nach seinem Schwert und wirbelte herum, nur um einem hochgewachsenen, breitschultrigen Mann in die Augen zu sehen. Obwohl die braunen Iriden des Fremden amüsiert funkelten, anstatt bedrohlich begehrlich zu glitzern, fiel Dark schlagartig eine Geschichte ein, die Medila ihm einst erzählt hatte. Angeblich streiften wilde Vagabunden durchs Land, die Kindern unaussprechliche Dinge antaten und sich zunächst auf andere Weise an ihrem Fleisch vergingen, bevor sie sie schließlich töteten und verspeisten. Sofort riss Dark sein Schwert aus der Scheide und richtete die Spitze auf die Kehle des noch immer unbewegt dastehenden Mannes. Vor Angst zitterten seine Hände jedoch so sehr, dass er die Klinge nicht ruhig halten konnte. Als der Fremde sich schließlich doch bewegte, wich Dark mit rasendem Herzen an die Wand zurück. Was immer dieser Verrückte mit ihm vorhatte – er würde sich nicht kampflos ergeben! Doch zu seiner Überraschung griff der Mann gar nicht nach ihm, sondern hob die Arme betont langsam zu einem Zeichen des Friedens in die Luft. Verunsichert packte Dark das Schwertheft noch fester. War das eine Falle? Wollte der Fremde ihn in Sicherheit wiegen und dann zuschlagen, sobald er die Waffe senkte? „Hab keine Angst. Ich will dir nichts tun, Kleiner.“ Die Stimme des Mannes war dunkel und ein wenig rau, so als hätte ihr Besitzer sie schon lange nicht mehr gebraucht. Dark versuchte, den Kloß, der ihm die Kehle verstopfte, herunterzuschlucken und rief: „Was willst du von mir?!“ Der Fremde zuckte seine muskulös wirkenden Schultern. „Eigentlich gar nichts. Ich war nur neugierig.“ „Auf was?“ So langsam fand Dark die Festigkeit seiner Stimme wieder. Sein Gegenüber warf ihm ein verschmitztes Grinsen zu, das einen halb abgeschlagenen Schneidezahn entblößte. „Naja, es kommt nicht oft vor, dass man ein Kind völlig auf sich allein gestellt durch die Wüste irren sieht.“ Überrascht blinzelte Dark den Fremden an: „W-Woher weißt du…?“ Dieser lachte angesichts des verwirrten Gesichtsausdrucks des Jungen laut auf. Sein tief aus der Brust kommendes Lachen klang melodisch und ehrlich. Dann gab er mit einem Zwinkern zu: „Ich beobachte dich schon eine Weile.“ Dark war so überrumpelt, dass er beinah sein Schwert fallen ließ. Er war beobachtet worden?! Dabei hatte er sich doch solche Mühe gegeben, immer aufmerksam zu sein! „Wie lange schon?“ Dark hörte selbst, wie flach und tonlos seine Stimme war. Der Fremde wiegte den Kopf hin und her als überlegte er. „Seit ungefähr zwei Wochen spüre ich dich immer mal wieder auf.“ „Aber warum?!“ Vor Entgeisterung verließ sämtliche Kraft den Körper des Jungen und er senkte sein schweres Schwert, bis seine Hände auf seinem Schoß lagen. Glücklicherweise schien der Eindringling keinen Profit aus seiner Nachlässigkeit ziehen zu wollen. Stattdessen ließ der Fremde sich auf Darks Hocker nieder, was auf Grund seiner Körpergröße ein wenig lächerlich aussah. Als würde ein Bär versuchen, es sich auf einem Zaunpfosten bequem zu machen. „Wie gesagt: Man sieht nicht oft Kinder, die alleine durch die Wüste ziehen. Anfangs dachte ich, du hättest dich womöglich verlaufen. Doch dann fiel mir auf, dass du nach etwas zu suchen schienst. Das hat meine Neugierde geweckt. Und nun scheinst du dich hier sesshaft gemacht zu haben…“ Der Mann ließ seinen Blick durch Darks Höhle schweifen, bevor er den Jungen fixierte und mit erstaunlich sanfter Stimme fragte: „Hast du aufgegeben, den Weg nach Hause zu finden? Soll ich dich heimbringen?“ Die Worte «nach Hause» brannten wie Peitschenhiebe auf Darks Herzen. Trotzig schob der Knabe das Kinn vor und schnappte: „Das hier ist mein Zuhause!“ Zunächst riss der Fremde überrascht die Augen auf, doch dann schien das Baumrindenbraun seiner Iriden zu schmelzen und ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Verstehe. Du hast deine Heimat verloren, hm?“ Mit den Tränen kämpfend blaffte der Junge: „Was geht dich das an?!“ Der Fremde kratzte sich nachdenklich im Nacken und murmelte: „Ich sehe schon, du willst meine Hilfe nicht. Nun gut. Da kann man nichts machen. Ich wünsche dir trotzdem viel Glück für dein weiteres Überleben – du wirst es brauchen.“ Mit diesen Worten zog er seinen Mundschutz, der zuvor lose um seinen Hals gebaumelt war, hoch, bis nur noch seine Augen zu sehen waren. Dieser Anblick stieß eine Erinnerung Darks an und der Junge rief aufgeregt: „Warte! Du bist ein Assassine, nicht wahr?“ Der Fremde, der sich bereits abgewandt hatte, entgegnete über die Schulter hinweg: „Und wenn es so wäre? Würdest du dich dann von mir nach Hause bringen lassen?“ „Nein.“ Dark stieg von seinem Bett herunter und lief auf den Mann vor sich zu. Arn hatte ihm einst erzählt, dass Assassinen nicht nur gefürchtete, skrupellose Mörder waren, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten, zielsicher töteten und ungesehen wieder verschwanden, sondern auch geschickte Überlebenskünstler. Dark trat vor den Fremden und sah ihm mit festem Blick in die Augen. „Wenn du wirklich ein Assassine bist, will ich, dass du mich ausbildest.“ Einige Herzschläge lang starrte der Mann den vollkommen ernst wirkenden Jungen vor sich an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Weshalb sollte ich so etwas tun? Weißt du, wie viel Arbeit es ist, jemanden auszubilden? Du wärst mir für viele Jahre ein Klotz am Bein!“ Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Dark dagegen: „Eines Tages wirst du alt werden. Dann wirst du froh sein, wenn du einen jungen Mann wie mich an deiner Seite hast, der dich unterstützt und durchfüttert.“ Hinter seinem Mundschutz schien der Assassine zu grinsen, als er sich wieder zu dem Jungen umdrehte und sagte: „Eines muss man dir lassen, Kleiner. Du kannst gut argumentieren.“ Die Schultern straffend entgegnete Dark selbstgefällig: „Das ist nicht mein einziges Talent.“ Zaghaft nickend räumte der Mann ein: „Ich muss zugeben, ich war überrascht, dass du mich kommen gehört hast. Und im Umgang mit dem Schwert scheinst du ebenfalls nicht völlig unfähig zu sein – wenn du nicht gerade vor Angst schlotterst.“ An seine Panik von zuvor erinnert, presste Dark verstimmt die Lippen aufeinander und fragte in regelrecht herrischem Tonfall: „Bildest du mich nun aus oder nicht?“ Der Assassine musterte ihn daraufhin so intensiv, dass Dark sich schon beinah unsittlich berührt fühlte und sich unwohl fühlend mit den Schultern kreiste, um das Gewicht der fremden Blicke abzuschütteln. Die Augen auf die trockenen, rissigen Lippen des Knaben geheftet, murmelte der Meuchelmörder: „Ich werde dir wohl als allererstes beibringen müssen, Fährten zu lesen und dir das Wissen der Tiere zu eigen zu machen. Du musst dich selbstständig verpflegen können, wenn du mein Schüler sein willst.“ Darks Augen begannen zu leuchten als würden sie von hinten mit einer Kerze beschienen. „Ist das ein Ja?“ Der Assassine nickte bedächtig und hielt dem Jungen anschließend eine behandschuhte Hand entgegen: „Man nennt mich Shadow, der todbringende Schatten.“ Von einem Ohr zum anderen grinsend schlug der Knabe ein und stellte sich ebenfalls vor: „Ich bin Dark.“ Shadow lachte leise in sich hinein. „Na, wenn das mal kein passender Name für einen angehenden Assassinen ist.“ Dann löste er einen Trinkschlauch und ein kleines Ledersäckchen von seinem Gürtel und legte beides auf den Steintisch, bevor er sich wieder an Dark wandte: „Das sollte reichen, bis ich morgen Früh zurückkomme. Dann werde ich dir beibringen wie man Wasser aufspürt. Aber denk dran: Trink in kleinen Schlucken, sonst wird dir übel.“ Mit diesen Worten wirbelte Shadow um die eigene Achse und verließ mit langen Schritten die Höhle, während Dark sich mit Tränen in den Augen über die Gaben des Assassinen hermachte. „Siehst du das da oben?“ Shadow deutete auf einen dunklen Schatten, der sich weit oben in einem Felsspalt niederließ. Dark blinzelte angestrengt gegen die Sonne und unterdrückte ein Gähnen. Er hatte noch selig geschlummert, als sein Ausbilder noch vor der Morgendämmerung in seine Höhle gekommen und ihn unsanft geweckt hatte. Zunächst hatte Dark ihn wütend anknurren wollen, hatte sich dann jedoch eines Besseren besonnen. Der Assassine war nicht nur seine einzige Chance, langfristig zu überleben, er konnte ihm auch kämpfen beibringen, was für Darks geplanten Rachefeldzug gegen die Göttinnen nur von Vorteil sein konnte. Also hatte sich der Junge ohne zu murren auf die Beine gehievt und war zu Shadow herüber geschlurft, der ihn mit zweifelnden Blicken gemessen hatte. „Was denn?“ Dark hatte sich gähnend über die Brust gekratzt und zu dem Mann vor sich hoch geschaut. Dieser hatte ihn plötzlich grob an den Haaren gepackt und noch näher zu sich gezogen. Sofort war Panik in Dark explodiert. War er womöglich doch einem Kinderschänder in die Hände gefallen?! Anstatt die Hände des Mannes an seinen intimsten Stellen zu fühlen, hatte der Junge jedoch nur ein schmerzhaftes Reißen an seiner Kopfhaut gespürt, bevor die verfilzte Matte seines Schopfes neben ihm zu Boden gefallen war. Shadow hatte ihn daraufhin wieder losgelassen und ein langes Messer zurück in seinen Gürtel gesteckt, bevor er Dark gemahnt hatte: „Sorg in Zukunft dafür, dass deine Haare in einem guten Zustand sind. Sonst bleibst du noch an einem Dornenbusch hängen und wirst von wilden Wölfen gefressen.“ Dark hatte zaghaft seine nicht einmal mehr kinnlangen Strähnen befühlt und genickt. Daraufhin hatte Shadow nachgesetzt: „Außerdem darf ein Assassine niemals aussehen wie ein Wilder. Wir dürfen nicht auffallen, wenn wir uns unters Volk mischen. Merk dir das.“ Mit diesen Worten hatte er Dark ein Leinenbündel in die Hand gedrückt und hinzugefügt: „Deswegen habe ich dir neue Kleider mitgebracht. Diese Lumpen fallen dir ja beinah vom Leib!“ Zu seiner Überraschung passten die grobe Lederhose und das langärmelige Hemd wie angegossen, sodass Dark nun nicht den rauen Stein direkt an der Haut spüren musste, als er an den Rand des als Aussichtsplattform fungierenden Felsen robbte und auszumachen versuchte, um was es sich bei dem ominösen Schatten handelte. „Ist… Ist das ein Adler?“, stieß der Junge verblüfft aus, als er den großen Vogel endlich erkannte. Shadow nickte und fragte: „Weißt du, was das zu bedeuten hat?“ „Dass es Geflügel zum Abendessen gibt?“ Dark lief das Wasser im Mund zusammen, als er an marinierte Hähnchenkeulen dachte und sich fragte, ob Adler wohl wie Huhn schmeckte. Doch Shadow verpasste ihm einen leichten Schlag in den Nacken und tadelte: „Nur ein Dummkopf würde in der Todeswüste einen Adler jagen.“ Dann tippte er dem Knaben gegen die Stirn und sagte in eindringlichem Ton: „Du musst deinen Verstand mehr benutzen. Also los, streng dich an und denk nach. Und dann versuch noch mal, meine Frage richtig zu beantworten.“ Dark starrte in das wettergegerbte Gesicht seines Ausbilders und fragte sich, wieso es falsch wäre, den Adler zu jagen. Während sein Blick langsam wieder zu dem imposanten Vogel zurückwanderte, erinnerte sich der Junge daran, dass er heute eigentlich lernen sollte, wie man in der Wüste Wasser finden konnte. Was hatte der Adler damit zu tun? Der Knabe zog grübelnd die Unterlippe zwischen die Zähne und versuchte zu ignorieren, dass sein Begleiter ihn unentwegt kritisch ansah. „Aber natürlich!“ Als ihm die Erleuchtung kam, hätte Dark beinah laut aufgelacht. Es war so simpel! Shadow blickte ihn abwartend an und gab ihm mit einer knappen Handbewegung zu verstehen, dass er auf die Antwort wartete. Stolz auf sich selbst verkündete Dark in getragenem Ton: „Adler ernähren sich von Fischen, die im Wasser leben. Wenn wir dem Adler zu seinen Jagdgründen folgen, finden wir nicht nur Wasser, das sauber genug ist, dass Fische darin leben können. Wir können uns auch ein paar Fische zum Abendessen fangen!“ Dark strahlte seinen Ausbilder lobheischend an, doch dieser nickte nur und stellte ihm gleich die nächste Aufgabe: „Und woher weißt du, dass dieser Adler schon bald wieder auf Futtersuche gehen und kein Nickerchen halten wird?“ „Ääääh…“ Dark starrte Shadow ratlos an, der daraufhin aufseufzte und murrte: „Du musst lernen, genauer hinzusehen!“ Er deutete mit gespreizten Fingern auf seine graubraunen Augen. „Diese hier sind deine schärfste Waffe und deine beste Verteidigung, merk dir das. Und lerne vor allem, sie zu nutzen.“ Verunsichert nickend wandte Dark seine Aufmerksamkeit wieder dem Adler zu. Was konnte Shadow bloß meinen? Der Junge blinzelte angestrengt gegen die Sonne und versuchte, mehr Details in der schwarzen Schattenmasse auszumachen. Irgendetwas an der Form des Vogels sah komisch aus. Vor Konzentration brach Dark der Schweiß aus, doch das bemerkte der Knabe kaum. Bückte der Vogel sich etwa immer wieder? Ein Lächeln schwang in Shadows Stimme mit, als er seinem Schüler gut zuredete: „Ich glaube, du hast es. Was glaubst du zu sehen?“ „Der Adler hat Küken. Er wird den ganzen Tag zwischen seinem Horst und der Wasserquelle hin und her fliegen, um seine Nachkommen zu versorgen.“ „Sehr gut.“ Shadow zerzauste Dark in einer väterlichen Geste das kurzgeschnittene Haar, was diesen ruckartig zurückweichen ließ. So sehr er darauf brannte, von dem Assassinen ausgebildet zu werden, so wenig wollte er eine emotionale Bindung zu ihm aufbauen. Früher oder später, das hatte Dark an seinem letzten Tag als Link gelernt, wurde man selbst von den Menschen verraten, die man liebte. Es war besser, allein zu bleiben und Abstand zu wahren. Shadow hob angesichts der eigentümlichen Reaktion seines Schülers die Augenbrauen, kommentierte sie jedoch nicht. Stattdessen hievte er sich auf die Beine und deutete auf den Adler. „Er wird gleich wieder losfliegen. Mach dich auf einen harten Fußmarsch gefasst. Es wird nicht leicht werden, mit ihm mitzuhalten.“ Dark stand schwungvoll auf und brummte so leise, dass der neben ihm stehende Mann ihn nicht verstand: „Was im Leben ist schon einfach?“ Dann ließ er sich vorsichtig von dem erhöhten Felsen herabrutschen und folgte dem Vogel bis zu seinen Jagdgründen. Shadow lief die ganze Zeit ein wenig hinter ihm und überlegte, was seinem Schüler wohl zugestoßen sein mochte, dass er sich derartig verschlossen hatte. Etwa eine Stunde später waren jedoch sämtliche Grübeleien vergessen, als sie eine kleine Oase erreichten und Dark sich mit einem verzückten „Wasser! Wir haben wirklich Wasser gefunden!“ kopfüber ins kühle Nass stürzte. Shadow hockte sich ans Ufer und beobachtete den Jungen wie er mit kindlicher Freude herumplanschte. Vielleicht war ja doch noch nicht alles für ihn verloren… Die nächsten Lektionen verliefen ähnlich erfolgreich und Dark erwies sich als talentierter Fährtenleser. Doch als Shadow ihn das Bogenschießen lehren wollte, um die Jagdaussichten des Jungen zu verbessern, gerieten die Beiden schon bei der Waffenherstellung das erste Mal an einander… Shadow hatte Dark auf die Suche nach einem langen, etwa zwei bis drei Finger breiten, elastischen Zweig geschickt, aber jedes Holzstück, das der Knabe fand, war ausgetrocknet und brüchig. Vom fruchtlosen Suchen entnervt, brachte Dark seinem Ausbilder schließlich irgendeinen Zweig, der in etwa die richtigen Maße zu haben schien. Shadow drehte das Mitbringsel zwischen den Fingern und seufzte nach einer kurzen Weile tief auf. Dann holte er aus und zerschlug den Stab auf Darks Schulter. Der Junge ging in die Knie und starrte mit zornbrennenden Augen zu seinem Meister hinauf. „Aua! Spinnst du?! Was sollte das?“ Der Assassine zuckte gelangweilt wirkend mit den Schultern und strich heraus: „Du hast mir nicht zugehört. Du solltest mir einen elastischen, aber dennoch festen Zweig bringen. Stattdessen hast du mir Brennholz angeschleppt.“ Noch immer erzürnt darüber, geschlagen worden zu sein, fauchte Dark: „Und wo soll ich so etwas finden? Wir sind hier immerhin in einer verdammten Wüste! Hier ist alles trocken!“ Von der Wut, die sein Schüler ausstrahlte, unbeeindruckt, klopfte Shadow Dark mit dem Fingerknöchel auf den Scheitel und forderte: „Streng deinen Kopf an. Du wirst nie lernen, auf dich allein gestellt zu überleben, wenn du nicht endlich anfängst, mitzudenken.“ „Ich hab auch ohne dich überlebt und mich ganz allein von Hyrule-Stadt bis hierher durchgeschlagen! Also tu nicht so als wäre ich ein zurückgebliebener Schwachsinniger!“ Wieder zuckte Shadow nur mit den Schultern, was Dark vor Wut beinah platzen ließ, und sagte: „Dann beweis mir, dass du’s drauf hast. Bring mir ein Stück Holz, aus dem wir einen Bogen für dich bauen können.“ „Und wie ich’s dir beweisen werde!“ Dark wirbelte zornentbrannt herum und marschierte mit stampfenden Schritten davon, während Shadow ihm seufzend hinterher sah. Der Junge musste dringend lernen, sein Temperament zu zügeln, wenn er ein guter Assassine werden wollte… Erst als er wutschnaubend den Gipfel des nächsten Berges erklommen hatte, hielt Dark inne und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass sein Ausbilder ihn nicht mehr sehen konnte. Dann ließ er sich auf einem Stück Geröll nieder und dachte angestrengt nach. Er nahm seinem Meister den Schlag zwar noch immer übel, doch Shadow hatte leider Recht, was die Sache mit dem Überleben anging. Widerwillig gestand der Junge sich ein, dass er auch die ersten Monate nur mit Mühe und vor allem dank des ergaunerten Essens überlebt hatte. Er brauchte Shadow! Also würde er ihm diesen dämlichen, geforderten Zweig bringen! Die Frage war nur, wo sollte er Holz von dieser speziellen Beschaffenheit auftun? Als er in der Nähe die Welpen eines Wüstenfuchses entdeckte, die aus ihrem Bau gekrochen waren und sich spielerisch balgten, kam Dark schließlich eine Idee. Vielleicht konnte er in der Nähe der Oase Holz finden, das noch nicht völlig ausgetrocknet war. Mit neuem Mut schwang der Knabe sich wieder auf die Füße und eilte zu dem Wasserloch, das er zusammen mit Shadow vor einigen Tagen entdeckt hatte. Inzwischen war er so oft hier gewesen, um seinen Trinkschlauch aufzufüllen, dass er glaubte, es selbst im Halbschlaf wiederfinden zu können. Nach einigem Suchen entdeckte Dark tatsächlich einen Zweig, der den Anforderungen seines Meisters zu entsprechen schien. Offenbar war er schon vor einiger Zeit von einem der hier wachsenden Eukalyptusbäume abgebrochen, jedoch noch nicht vollständig durchgetrocknet. Während Dark zu seiner Höhle, wo Shadow auf ihn wartete, zurückkehrte, stritten verschiedene Gefühle in seinem Inneren. Einerseits war er stolz, die schwierige Aufgabe allem Anschein nach doch noch gelöst zu haben. Andererseits hatte er ein wenig Angst davor, wieder geschlagen zu werden, sollte der Zweig nicht so gut sein wie er glaubte. Bei der Erinnerung an den ersten Hieb brodelte der Zorn wieder in ihm hoch und er biss mit mahlenden Kiefern die Zähne zusammen. Als Dark schließlich zurückkehrte, saß Shadow im Schneidersitz neben einem kleinen Lagerfeuer und briet mehrere kleine Vögel und eine Ratte. Der Junge warf in einer trotzigen Geste den Zweig vor ihm auf den Boden und blaffte: „Da. Soll ich schon mal die Schulter freimachen, damit du seine Elastizität an mir testen kannst?“ Shadow sah ihn ein wenig verblüfft an. Er hatte noch nie einen Knaben mit so viel Stolz und Kampfeswillen getroffen. Der Assassine wusste nicht recht, ob er von Dark beeindruckt sein oder sich wegen der harten, beinah undurchdringlich wirkenden Schale seines Schülers Sorgen machen sollte. Womöglich zog er gerade seinen eigenen Tod groß… Doch dann musste Shadow wieder an Darks ausgelassene, typisch kindliche Freude, als sie die Oase entdeckt hatten, denken und schob die düsteren Vorahnungen schnell beiseite. Unter den brennenden Blicken des Jungen hob der Mann das mitgebrachte Stück Holz auf und prüfte es auf seine Beschaffenheit, bevor er schließlich nickte. „Das ist gut. Du hast deine Aufgabe erfüllt. Jetzt setz dich zu mir und iss.“ Bei dem Lob bröckelte Darks Fassade aus Zorn und Selbstbeherrschung in Sekundenschnelle von ihm ab und er schlug klatschend die Hände zusammen. „Dann können wir jetzt einen Bogen bauen?“ Shadow zog einen Vogelspieß aus dem Feuer und schüttelte den Kopf. „Nein. Dieser Zweig soll dir nur dafür dienen, ein ungefähres Gefühl fürs Schießen zu bekommen, bevor du lernst, mit einem Bogen umzugehen. Dafür bringe ich dir in einigen Tagen eine Übungswaffe mit.“ Dem Jungen klappte vor Überraschung der Mund auf und er stammelte: „A-Aber… Ich dachte, wir wollten einen Bogen für mich bauen!“ Shadow lächelte zu ihm hoch, bevor er in seinen Bratvogel biss und kauend erklärte: „Das werden wir auch noch. Aber erst, wenn du älter und so gut wie ausgewachsen bist. Der Bau eines Bogens dauert geraume Zeit, aber es lohnt sich. Wenn man es gut macht, bekommt man eine Waffe, die ein Leben lang hält. Deswegen sollten wir warten, bis du deine maximale Körpergröße erreicht hast. Es wäre Verschwendung, so viel Arbeit in einen Bogen zu stecken, den du dann nur ein paar Jahre verwenden kannst.“ Von der Argumentation seines Meisters überzeugt, ließ Dark sich neben seinem Ausbilder auf den Boden sinken und schnappte sich ebenfalls einen gebratenen Vogel. Die Beiden aßen für eine Weile schweigend, bis Dark schließlich wieder das Wort ergriff: „Shadow?“ „Hm-mh?“ Der Assassine kratzte sich mit einem dünnen Knöchelchen Fleischreste aus den Zahnzwischenräumen. „Warum hast du mich geschlagen?“ Seine Zahnpflege einstellend lächelte Shadow seinen Schüler warm an und erklärte: „Damit du in Zukunft nie wieder vergisst, dass du dir Mühe geben sollst. Du hast viele Talente, aber wenn du dich nicht anstrengst, wirst du für immer mittelklassig bleiben.“ Dark öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann jedoch wieder, ohne einen Ton gesagt zu haben. Shadow hatte Recht. Bei seinem ersten Versuch, die Aufgabe zu erfüllen, hatte Dark zu schnell aufgegeben. Er war nicht bereit gewesen, ernsthaft zu arbeiten und hatte dafür bestraft werden müssen, weil er gelogen und behauptet hatte, alles versucht zu haben. Das letzte bisschen Fleisch von seiner gebratenen Ratte nagend, gab Dark sich selbst das Versprechen, in Zukunft stets sein Bestes zu geben – wie anstrengend es auch sein mochte. In den nächsten Wochen lernte Dark neben dem Bogenschießen allerlei Tricks, die fürs Überleben in der Wildnis nützlich waren. So zeigte Shadow ihm wie man Fallen stellte und mit Hilfe von Tierhäuten Regenwasser auffangen konnte. Zusätzlich unterrichtete der Assassine seinen Schüler im Schwertkampf. Während Dark sich vor allem im Kampf als sehr geschickt erwies, hatte er mit anderen Lektionen ernsthafte Schwierigkeiten. Sich unbemerkt an ein Opfer heranzuschleichen fiel ihm genauso schwer wie mit der Umgebung zu verschmelzen. „In der Natur kommen alle Farben überall vor. Du musst in der Lage sein, das Terrain mit einem Blick zu erfassen und ein geeignetes Versteck auszumachen, wo deine Kleidung mit der Landschaft verblendet“, erklärte Shadow zum wiederholten Male. Dark nickte latent gereizt und ergänzte: „Die Augen sind die schärfste Waffe und beste Verteidigung eines Assassinen… Ich weiß!“ Der Junge stieß schnaubend Luft aus der Nase aus, sodass sich seine Nüstern blähten. „Was, wenn meine Augen einfach nicht gut genug sind?“ Shadow schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Natürlich sind sie das. Das hast du schon oft genug bewiesen. Du musst nur lernen, sie richtig einzusetzen. Aber das kommt mit der Übung. Also los, versuchen wir es noch einmal.“ Sobald sein Meister ihm den Rücken zukehrt hatte, rannte Dark so geräuschlos wie möglich davon und suchte sich ein möglichst gutes Versteck. Doch nur wenige Augenblicke nachdem Shadow sich wieder umgedreht hatte, bohrte sich ein Wurfmesser neben Darks Kopf in den Fels. „Zu schlecht!“, rief sein Ausbilder zu ihm herüber und wandte sich erneut um. Alle anderen Versuche des Tages verliefen ähnlich erfolglos und Dark ließ beim Abendmahl frustriert die Schultern hängen. „Ich werde das nie lernen!“ Der Junge stützte mit einem missmutigen Gesichtsausdruck die Ellbogen auf die Knie und legte sich das Kinn auf die Hände. Shadow zog einen Spieß aus dem Feuer und betrachtete nachdenklich die aufgespießte Schlange. Als er antwortete, hörte man seiner Stimme deutlich an, dass er in Gedanken mehr mit der Frage beschäftigt war, ob sein Essen gar war, als mit dem Gespräch: „Natürlich wirst du das. Es fällt mir bereits jetzt schwerer, dich ausfindig zu machen als am Anfang. Sowas braucht Zeit. Erwarte nicht zu viel von dir.“ „Wirklich?!“ Dark strahlte seinen Ausbilder aufgeregt an. Dieser hob endlich den Blick von seinem Essen und nickte. „Eines Tages wirst du das Unsichtbarmachen meistern, daran habe ich gar keinen Zweifel. Und wenn es so weit ist, bist du bereit für die nächste Lektion. Allerdings werden wir für diesen Teil deiner Ausbildung die Wüste verlassen müssen.“ Es dauerte allerdings noch fast ein Jahr, bis Shadow endlich das Zeichen zum Aufbruch gab und Dark mit zu einem kleinen Dorf in der Hylia-Steppe nahm. Der Junge wunderte sich zunächst darüber, warum er nicht in der Wüste weiterlernen konnte, doch als Shadow die nächste Lektion ernsthaft beginnen ließ, wurde es dem Knaben schnell klar. „Was fällt dir an diesem Mann besonderes auf?“ Die Beiden hatten auf einem Hügel in der Nähe der Ortschaft Stellung bezogen und beobachteten Passanten. Shadow deutete nun auf einen Mann mittleren Alters, der auf Nahrungssuche umherstreifte. Dark konzentrierte sich auf das Bewegungsmuster des Fremden und mutmaßte: „Er zieht den linken Fuß leicht nach.“ „Korrekt“, lobte sein Meister und hakte nach: „Was bedeutet das?“ Der Junge zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht ist es ein Geburtsfehler oder das Resultat einer Verletzung.“ Shadow schüttelte den Kopf und erinnerte seinen Schüler: „Wir sind keine Ärzte, Dark. Das Warum ist uns egal. Für uns zählt nur, dass wir solche kleinen Schwächen zu unserem Vorteil nutzen können.“ Der Knabe nickte und verbesserte sich: „Richtig. Also, ähm… Er wird Schwierigkeiten haben, Attacken abzuwehren, die von links kommen. Deswegen sollte man ihn am besten über die Flanke angreifen.“ „Sehr gut!“ Shadow lächelte den Jungen neben sich an. Es war erstaunlich, wie schnell der Kleine lernte. „Und was ist mit dieser Frau dort drüben?“ Dark musste sich ein wenig den Hals verdrehen, um die gezeigte Person betrachten zu können. Nach nur einem schnellen Blick stellte er fest: „So steif wie sie geht, hat sie’s im Rücken. Angriff von hinten, am besten von einer erhöhten Stelle aus, um ihr ins Kreuz springen zu können.“ Shadow versuchte, das stolze Funkeln in seinen Augen zu verbergen, als er seinen Schüler lobte: „Wenn du so weitermachst, gibt es bald nichts mehr, das ich dir noch beibringen könnte.“ „Oh doch, da gibt es sicher noch eine Menge. Ich will der beste Kämpfer werden, den das Schattenreich je gesehen hat!“ Das Feuer in Darks Augen ließ Shadows Magen krampfen und erinnerte ihn wieder daran, dass sein Schüler manchmal etwas Unheimliches hatte. Wenn der Zorn in Dark aufflackerte, war Shadow sich sicher, dass sein Schüler in einem Wutanfall die gesamte Welt in Schutt und Asche legen und lachend zwischen Leichen und Trümmern stehen konnte, während um ihn herum züngelnde Flammen jeden Rest Leben verschlangen… Um sich selbst von den düsteren Phantasien abzulenken, entschied Shadow: „Es ist schon spät. Komm, lass uns runter ins Dorf gehen und eine Schänke suchen.“ Für einen Moment zögerte Dark. Abgesehen von seinem Meister hatte er seit der letzten Nacht in seiner Heimatstadt keinerlei Kontakt mehr zu irgendwelchen Menschen gehabt – und auch nicht vermisst. Wann immer er eine Person sah, drängte sich ihm unwillkürlich die Frage auf, welche Abgründe sich hinter ihrer Fassade auftaten. Doch dann nickte der Knabe schließlich. Shadow predigte ihm schon seit geraumer Zeit, dass er Selbstbeherrschung üben müsse. Ein Besuch in einem Wirtshaus erschien ihm hierfür als eine passende Gelegenheit. Die Schänke war kaum mehr als ein einsturzgefährdet aussehender Schuppen, in den jemand mehrere Tische und Stühle gequetscht hatte. Die abgestandene Luft stank nach Rauch, Schweiß und Alkohol. Dark rümpfte angewidert die Nase und folgte seinem Ausbilder, der am Tresen zwei Bier bestellte und sich in eine dunkle Nische verzog. Kaum dass die beiden Platz genommen hatten, knallte die üppige Wirtin zwei Bierhumpen auf das fleckenübersäte Holz des Tisches und hielt gierig die Hand auf. Dark blinzelte überrascht, als Shadow ein paar Rubine aus der Hosentasche zog und bezahlte. Der Junge hatte nicht erwartet, dass es in diesem heruntergekommenen Land tatsächlich noch eine Währung gab. Eine Weile saßen Schüler und Meister schweigend zusammen und beobachteten die anderen Gäste. Immer wieder an seinem dünnen Bier nippend, versuchte Dark die vorangegangene Lektion fortzusetzen und die Anwesenden auf Schwachstellen zu durchleuchten, bis Shadow in seine Gedanken platzte: „Warum willst du eigentlich Assassine werden?“ Der Junge zog eine Augenbraue in die Höhe und warf seinem Ausbilder einen Seitenblick zu. „Wieso willst du das plötzlich wissen?“ „Einfach nur so. Ich möchte dich besser kennen lernen. Nachdem wir schon so viel Zeit miteinander verbracht haben, dachte ich, dies wäre ein guter Zeitpunkt.“ An Darks Gesicht war deutlich abzulesen wie er sich immer mehr verschloss und in sich selbst zurückzog. „Meine Beweggründe gehen dich nichts an.“ Doch Shadow ließ nicht locker: „Du sagst, du wollest der allerbeste Kämpfer werden. Das klingt nach einer ziemlich starken Motivation.“ „Lass mich damit in Ruhe, alter Mann!“ Dark funkelte seinen Meister über den Tisch hinweg erbost an und umklammerte seinen Bierkrug so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Zu seiner Überraschung verfiel sein Lehrer tatsächlich in Schweigen. Erst nach einigen Minuten ergriff Shadow wieder das Wort: „Hast du dich nie gefragt, warum ich Assassine geworden bin?“ Erfreut über die Möglichkeit, nicht mehr über sich sprechen zu müssen, entgegnete Dark: „Eigentlich nicht. Aber sag’s mir. Warum?“ Shadows Blick schweifte zu dem dreckigen Fenster herüber, schienen jedoch nichts zu sehen. „Um meine Tochter zu ernähren“, erklärte er mit tonloser Stimme. „Nachdem ein Dämon meine Frau getötet hatte, habe ich es alleine nicht mehr geschafft. Ich brauchte jemanden, der ihr ein Dach über dem Kopf gibt und sie versorgt, wenn ich auf Nahrungssuche bin. Aber niemand nimmt in diesen schweren Zeiten ohne Gegenleistung das Kind eines anderen auf…“ Shadow hatte mit allem von Mitgefühl bis Indifferenz gerechnet, doch als Dark leise lachte, schnellte sein Kopf überrascht herum. „Was ist daran bitte komisch?!“ Der Junge verzog die Lippen zu einem überheblich wirkenden Grinsen. Offenbar stieg ihm das Bier allmählich zu Kopf. Doch als er sprach, klang er vollkommen nüchtern: „Dass du jetzt offenbar Mitleid erwartest. Dabei bist du selbst schuld an deiner Misere.“ Die Augenbrauen fragend in die Höhe gezogen entgegnete Shadow: „Ach ja?“ Dark nickte und machte ein düsteres Gesicht: „Ein Kind in diese von den Göttinnen verdammte Welt zu setzen, ist ein Frevel. Wir wären alle besser dran, wenn wir alleine blieben und aufhörten, uns fortzupflanzen.“ Nun war es Shadow, der lachen musste. Seinen Bierhumpen an die Lippen gehoben schmunzelte er: „So denkst du nur, bis es dich erwischt und du dich das erste Mal verliebst. Dann willst du das Mädchen deiner Träume plötzlich permanent um dich haben, ihm nah sein und die innigste Vereinigung von allen mit ihm eingehen. Glaub mir, Dark, das geht schneller als du denkst.“ Der Knabe runzelte die Stirn, entgegnete jedoch nichts. Sollte Shadow ruhig glauben, dass er wie alle anderen war. Doch er wusste es besser… Sein Herz war in dem Moment, in dem er seinen Vater erstochen hatte, erkaltet und zu Stein geworden. Er würde niemals lieben können. Hosted by Animexx e.V. 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