Seelen des Schicksals von Arcturus (Ein glorreiches Abenteuer des gar finsteren Odin!) ================================================================================ Der Ruf des Abenteuers ---------------------- Es ging nichts darüber, den Tag mit einem freudigen „Eureka!“ zu beginnen. Wirklich, gar nichts. Die Untoten verschwammen vor seinen Augen und mit ihnen das Falchion in seiner Hand. Grau und violett wurden zu Dunkelheit. Nur der kalte Windzug blies weiter über seine Haut. Langsam dämmerte ihm, dass es nicht sein freudiger Ausruf gewesen war. Íñigo blinzelte. Es blieb finster. Ein Schwall Wörter prasselte auf ihn ein, wie das permanente Hintergrundrauschen des letzten Herbststurms. Es blieben nur Fetzen davon hängen. Desaströse Ruinen. Machtumwobene Schattenkräuter. Buch der Schrecken. Zephiels Was-auch-immer. Er stöhnte, doch das wurde überhört. „Owain. Geh ins Bett“, versuchte Íñigo es noch einmal, dieses Mal verbal. Noch im Sprechen – Murmeln, Fauchen, Gähnen, irgendwas dazwischen – griff er nach seiner Decke, um sie sich über den Kopf zu ziehen. Seine Finger tasteten über sein Lager, über Fell und über die billige Strohmatratze, dann in gähnende Leere. „Owain … wo ist meine Decke?“ „Decke? Von welcher gräulichen Überwurf sprichst du? Mir dünkt, die nächtlichen Schatten greifen noch immer nach dir!“ Der dumpfe Aufschlag von schwerem Stoff auf Stein, irgendwo am anderen Ende des Raumes, strafte Owains Worte Lügen. „Entsage dich des nächtlichen Schlummers, mein treuer Gesell!“, fuhr Owain fort und flüsterte dabei so laut, dass man vermutlich noch drei Räume weiter jedes Wort verstand. „Hörst du nicht den Ruf deines Schicksals?!“ Einen Moment lang wägte er ab, ob er nicht einfach nach Owain treten sollte. Doch der stand, das hörte Íñigo, irgendwo beim linken Pfosten seines Bettes. Und der war besonders hart. „Ich höre nur den alten Hagen aus seinem Bett fallen“, murrte er stattdessen. Auch die Suche nach seinem Kissen blieb erfolglos. Das war zwar auch nur ein Sack voll schäbiger Wolle, aber es half. Meistens. Zumindest, wenn sein Stahlschwert keine Alternative war. Und es war keine Alternative. Allein bei dem Gedanken an Hagen zog sich alles in ihm zusammen. Mit dem betagten Haudegen, der König Garons Rittern vorstand, war nicht gut Kirschenessen. In den letzten zwei Monaten hatte Íñigo sich mit vielen Dingen arrangiert – mit seinem neuen Leben als Getreuer, den kalten Nächten, dem Tomatengulasch und selbst mit Prinz Xanders missbilligendem Starren – doch der Marschall von Schloss Krakenburg gehörte nicht dazu. Seine morgendlichen Strafläufe über die Wehrgänge waren so unerbittlich wie der Nachtfrost, der durch jede Ritze des alten Gemäuers kroch – und er bedachte Íñigo eindeutig zu oft mit ihnen. Owain schien unbeeindruckt. „Was fürchtest du eines alten Greises Zorn?“, tönte er. „Es ist ein Abenteuer, das dich erwartet!“ Ein Abenteuer? Wohl kaum. Also außer, Íñigo zählte die Überraschungen dazu, die ihn auf den Läufen erwarteten, seit Niles ihre Uhrzeiten kannte. „Wenn du weiter so brüllst, werden meine Nachbarn dich hören.“ Er vermisste seine Decke mit jedem Augenblick mehr. „Oder schlimmer noch – Lady Camilla.“ „Die königlichen Prinzessinnen ruhen im Südflügel. Es ist unmöglich, ihren sanften Schlummer zu stören.“ So selbstsicher er auch klingen wollte, Íñigo hörte den Zweifel in Owains Stimme. Er wusste, wenn er dieses Theater beenden wollte, musste er es jetzt tun. Entschlossen kniff er die Augenbrauen zusammen und starrte in die Dunkelheit. „Was, wenn nicht? Was, denkst du, wird Camilla mit dir machen, wenn ihre geliebte, kleine Elise mit Augenringen beim königlichen Frühstück erscheint? Weil sie von desaströsen Ruinen und Zephiels Irgendwas geträumt hat?“ „Eckesachs, Íñigo. Zephiels allmächtiges Eckesachs!“ Íñigo rollte mit den Augen. „Und was genau ändert das an meiner Frage?“ Einen Moment lang, da war er sich sicher, starrten sie einander an. So gut, zumindest, wie sie einander in absoluter Dunkelheit anstarren konnten. Über das Pfeifen des Windes konnte er Owain atmen hören. Es war ein schwerer Atem, wie er für einen hoch gelegenen, klammen Ort wie Windmire typisch war. Vermutlich fror er auch. Wäre zumindest kein Wunder, wenn man bedachte, dass irgendein Idiot beim Hineinschleichen die Tür offen gelassen hatte. Zähne schlugen aufeinander, nicht Íñigos. Ob vor Kälte oder Sprachlosigkeit, vermochte er nicht zu sagen. Auffordernd starrte Íñigo noch etwas finsterer. Keine Antwort. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Owain konnte sich wenigstens eingestehen, dass er recht hatte, verdammt. Doch nichts. Nur Schweigen und Atmen und das leise Rascheln einer Maus, die über den Strohboden seines Zimmers huschte. Íñigo seufzte. „Was willst du, Ow-“, er stockte. Die Tür stand immer noch offen. Er räusperte sich. „Was willst du, Odin?“ Das war die falsche Frage und Íñigo wusste es. Owain holte Luft– „Kurzfassung oder Camilla! … Bitte.“ Der erwartete Wortschwall blieb aus. Aus dem nächsten Atemzug wurde ein Schnauben. Für den Moment war Íñigo froh, Owains – Odins – Blick nicht sehen zu müssen. Er konnte sich auch so vorstellen, wie sein Freund in der dramatischen Geste erstarrte, die Hand nur Zentimeter von dem Bettpfosten entfernt, ein unheilverkündendes Funkeln in den Augen, der Stern von Rigel bedeutungsschwanger an seinem Gürtel– Der Anflug war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Das Holz ächzte, als Odin sich zu ihm aufs Bett warf und Odin ächzte mit. Stoff glitt über Íñigo Knie. Etwas, das vermutlich Owains Hintern war, fiel wie ein nasser Sack neben seine Oberschenkel. Einer seiner Ellbogen bohrte sich neben Íñigos Rippen in die Matratze. Vermutlich war es nur Glück, das verhinderte, dass er dabei irgendwas wichtiges traf. „Die ist ja noch härter, als meine!“ Íñigo schüttelte den Kopf. Kurz überlegte er, seinem Freund Platz zu machen, doch letztendlich gewann die Wärme, die der Körperkontakt bedeutete, über die Vernunft. „Auf einem harten Lager schläft ein harter Geist“, murrte er schließlich. „Hagens Worte, nicht meine.“ „Wenn er schläft, meinst du.“ Íñigo schnaubte, halb belustigt, halb verärgert. „Ich habe geschlafen. Bis du mich geweckt hast, heißt das. Also, was war so wichtig, das es nicht bis nach dem Frühstück warten kann?“ „Du erinnerst dich an die Mission, von überaus wichtiger Dringlichkeit, die Prinz Leo mich zu erfüllen bat?“ Íñigo unterdrückte ein Stöhnen. „Natürlich“, murrte er. Die Wahrheit war – er hatte keine Ahnung. In den vergangenen Monaten hatte Odin mehr Missionen aufgetragen bekommen, als Severa und er zusammen. Zu viele und zu sinnlose, um darüber den Überblick zu behalten. Nur vage erinnerte er sich an mit Dunkelheit erfüllte Magnete und Geister in irgendwelchen Wäldern, an Schwärme goldener Krähen und uralte Äxte, deren Namen Íñigo sich nie hatte merken wollen. „Ich habe die letzten Nächte die königlichen Bibliothek durchforscht. Heute endlich fiel mir die Lösung in die Hände.“ „Und warum weckst du dann mich und nicht deinen Herren?“, fragte Íñigo. Ihm schwante nichts Gutes. Tatsächlich seufzte Owain einen Augenblick später theatralisch. „Mein Herr ruht gegenwärtig in der Nördlichen Festung. Zudem offenbarten die düsteren Schriften mir lediglich den Weg. Sie selbst sind nicht das Ziel.“ Íñigo ließ seinen Kopf zurück auf die Matratze fallen. „Du willst meine Hilfe.“ „Ja.“ Die Aussicht, in eine von Odins haarsträubenden Sonderaufgaben hineingezogen zu werden, war so reizvoll wie die – und hier sprach Íñigo aus Erfahrung – auf Hagens faltigen Hintern. Odin mochte behaupten, was er wollte: Entweder der junge Prinz hatte eine allzu blühende Phantasie oder er wollte seinen Getreuen loswerden. Und Íñigo hatte nicht vor, sich loswerden zu lassen. Das war ihm zu endgültig. Und es lief ihrer eigentlichen Mission zuwider. Leider – und das versprach ihm nicht nur Odins Gewicht, dass mollig warm gegen seinen Oberschenkel drückte – hatte er kaum eine Wahl. Nicht, wenn sein Freund ihn mitten in der Nacht aus dem Bett holte. Er seufzte geschlagen. „Was soll ich tun?“ „Nicht viel, mein bester Freund, sei unbesorgt. Es sind nur ein paar Stängel des Raskovnikkrautes vonnöten, um das Ritual zu beschwören, das mein Herr sich ersehnt. Jedoch …“ Odin verlagerte sein Gewicht. Der Druck gegen Íñigo Oberschenkel ließ nach – dafür bohrte sich sein Ellbogen jetzt in seine Rippen. „Jedoch was?“, fragte er, während er nach Owains Odins Arm tastete. Auffordernd zog er an der dünnen Stoffschicht, die er zu greifen bekam – kein Erfolg. Nur die Gewissheit einer Gänsehaut unter seinen Fingern. „Nun“, noch mehr Herumgerutsche, noch mehr Ellbogen, „es bedarf einer Jungfrau in Nöten, um es zu find-“ „Bitte was?!“ Vergessen war der Ellbogen. Vergessen war auch der alte Hagen drei Zimmer weiter. Íñigo schreckte hoch, knallte gegen etwas, das Owains Kinn sein musste und ignorierte selbst das. „Owain! Ich bin keine– Nur, weil ich manchmal einen Korb bekomme, heißt das nicht, dass ich– Es gibt Mädchen, die mich nicht komplett schrecklich und unnütz und– Argh!“ Jede neue Formulierung machte es nur noch schlimmer! „Warum fragst du nicht Sev- Warum fragst du nicht Selena, verdammt?!“ „Au! Ich, nun …“, immerhin hatte Owain den Anstand, zu stottern. „Sie schläft in Prinzessin Camillas Gemächern?“ Das war ein plausibler Grund, das wusste Íñigo, irgendwo zwischen den Kopfschmerzen, die nicht ausschließlich von Owains Granitschädel stammen konnten, aber über plausible Gründe war er längst hinweg. „Ich werde nicht durch die nohrische Pampa robben und irgendwelche Gänseblümchen für dich pflücken! Hörst du, Ow- Odin? Und ich bin keine Jungfrau!“ „Also …“ „Owain!“ „Was? Teekränzchen zählen nicht.“ In den Straßen von Windmire --------------------------- Es musste noch früher sein, als Íñigo – Laslow – zunächst angenommen hatte. Keine Dämmerung zeichnete sich hinter den Mauern der Festung ab und auch die Feuer in den Küchen brannten noch nicht. Nur die magischen Fackeln tauchten den Innenhof in ein fahles, rotes Licht. Niemand behelligte sie auf ihrem Weg zum Osttor. Da waren weder Diener, die die morgendliche Routine ihrer Herren begannen, noch irgendwelche Küchenjungen, die Mehl aus den Mühlen in die Bäckerei schleppten. Nicht einmal ein einziges hübsches Dienstmädchen ließ sich blicken. Das Einzige, auf das sein Blick fiel, waren Odins nackte, zitternde Hacken. Laslow schüttelte den Kopf. „Noch ist es nicht zu spät, um deine Winterstiefel zu holen, das weißt du.“ Zur Antwort erntete er einen empörten Blick. „Bitte was? Zweifelst du etwa an meiner Resilienz? Pah! Der Finstere Odin scheut weder Frost noch gefroren Schlamm!“ „Seufz“, erwiderte Laslow missmutig, „Ich hoffe, er scheut auch keine Grippe.“ „Bei den Drachen! Kannst du nicht wenigstens seufzen, wie jeder andere auch?“ Er warf seinem Freund einen knappen – und besonders missmutigen – Blick zu, dann wandte er sich wieder dem Bündel zu, das Odin ihn gnädigerweise hatte packen lassen. Wechselkleidung. Zwei Feuersteine. Einen zusätzlichen Winterumhang, für den man ihm noch dankbar sein würde. „Das funktioniert erst ab Sonnenaufgang“, murrte er, während er das Päckchen mit dem bei der letzten Aufklärungsmission übrig gebliebenen Dörrfleisch zur Seite schob. „Ha Ha. Du bist wirklich sauer, oder?“ Laslow sah nicht auf. Er konnte den kleinen Tiegel mit Annas Wundersamen Permanent-Lidschatten, den er nach dem gestrigen Bummel durch die Unterstadt in seiner Tasche vergessen hatte, kaum sehen, doch alles war besser, als jetzt Augenkontakt zu schließen. Ihm war auch so die Schamesröte bewusst, die ihm ins Gesicht gestiegen war. „Ich bin keine Jungfrau“, sagte er dem Tiegel. Warum nochmal hatte er das Zeug eigentlich gekauft? Odin lachte. Es war kein boshaftes Lachen, das hörte Laslow, doch es fühlte sich so an. „Ich habe mich schon entschuldigt, oder nicht? Und ich hätte Severa gefragt-“ „Aber sie hätte dir den Kopf abgerissen. Sie oder Lady Camilla.“ Laslow hatte das Make-Up irgendeinem Mädchen schenken wollen, daran erinnerte er sich noch. Nur welchem? Seve- Selena sicher nicht. Das Indigo biss sich schrecklich mit ihren roten Augen. Lady Camilla? Nein. Lady Elise war für derlei noch viel zu jung … In seinem Augenwinkel sah er Odin gewichtig nicken. „Ihr fehlt zuweilen der Feingeist, um ein gutes Abenteuer zu schätzen zu wissen.“ Laslow warf den Tiegel zurück in sein Gepäck. „Vor allem, wenn du ihren Schönheitsschlaf störst.“ Sie lachten, dieses Mal gemeinsam. Es tat gut, genauso wie das Schweigen, das folgte. Einen langen Moment begnügten sie sich beide damit, den Weg zum Osttor entlang zu flanieren, der Gleichklang ihrer Schritte die einzige Unterhaltung zwischen ihnen. Versonnen musterte Laslow den Hof und die Mauern, die ihn zu allen Seiten umschlossen. Ihre Wehrgänge verloren sich in der pechschwarzen Nacht, ihre Fackeln glichen stummen Zeugen. Wie drohende Augen glommen sie in der Dunkelheit. Früher hätte er einen Hof wie diesen sicher gemieden. Doch früher auch, in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, hatte er zu viel erlebt, um sich von dergleichen immer noch einschüchtern zu lassen. Er senkte den Blick, gerade genug, um Odins Silhouette im Augenwinkel beobachten zu können. Die Soldaten auf den Wehrgängen und das erste Klappern der Küchen waren so weit entfernt, dass es einfach war, sich vorzustellen, mit Odin allein zu sein. Nicht hier. Nicht in Windmire, nicht in Nohr. An einem Ort, an dem Owain so viel schreiben durfte, wie er wollte, und an dem Íñigo nicht lächeln musste …   Ein paar dutzend Schritte hinter dem Osttor blieb Laslow stehen. Er wusste, seine Frage würde die Stimmung ruinieren. Er stellte sie trotzdem. „Warum besorgen wir dein Rasokraut nicht auf dem Schwarzmarkt?“ Beinahe hoffte er darauf, dass Odin sich in einer dramatischen Geste an die Stirn greifen und verkünden würde, sich im Weg geirrt zu haben, doch nichts dergleichen geschah. Laslow blieb der einzige, der sich zu der schmalen Pforte hinter ihnen umdrehte, die sie in die Kanalisation und damit in Windmires Unterstadt führen würde. Odin jedoch warf ihm nur einen knappen Blick unter hochgezogenen Brauen zu. „Das Raskovnikkraut entfaltet nur frisch seine volle Potenz. Überdies verlangt es nach umfassenden Vorkehrungen, um es überhaupt zu finden-“ „Die Jungfer in Nöten. Ich erinnere mich.“ Leider. „Dennoch. Wenn es eine Wirkung hat, die über Bewusstseinserweiterung hinaus geht, neigen Menschen dazu, sich die Mühe zu machen. Ich meine, selbst, wenn es nur die Bewusstseinserweiterung wäre, würden sie es tun.“ „Daran besteht kein Zweifel. Nur bieten sie dann sicher andere Dinge feil.“ Laslow wandte den Blick von der schäbigen Seitengasse ab, um Odin seinerseits skeptisch zu mustern. „So?“ „Richtig verwendet, öffnet es jedes Schloss.“ Diverse Türen, ein gutes Dutzend Truhen und mindestens ein geprellter Zeh krochen aus den dunkleren Ecken seiner Erinnerung hervor. Er öffnete den Mund. Die Erkenntnis, dass die Anderen ihn bis zum Ende seiner Tage damit aufziehen würden, hätte Odin die Jungfrauen-Frage im Armeelager seines Vaters verkündet, folgte ungefragt. Allein der Gedanke trieb ihm die Röte ins Gesicht, noch bevor er das Offensichtliche erwidern konnte. Laslow verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn dein Prinz erwartet, dass wir ihm die Tür zu dem Bibliotheksräumen mit den nicht jugendfreien Büchern aufschließen, lautet die Antwort Nein.“ Odin beeindruckte sein Widerspruch nicht, aber dafür schien er auch seine gesunde Gesichtsfarbe nicht zu bemerken. Immerhin. „Dafür hat er Niles.“ Sein Tonfall war neutral genug, um keinen Verdacht zu wecken. Es war lediglich die fehlende Inszenierung, die verriet, dass Odin mit seinem neuen Partner noch keinen Konsens gefunden hatte, der über Du schießt, ich Stern-von-Rigele hinaus ging. Vermutlich hatte er nicht einmal mit Prinz Leo mehr als diesen Konsens erreicht. Wenn man bedachte, auf welche Missionen der Prinz ihn schickte … und dass das Kräuterpflücken um Mitternacht nur einer der jüngeren Gipfel war … nein. Nein, vermutlich nicht. Laslow öffnete den Mund, schüttelte dann aber nur den Kopf. Bevor er Prinz Leo würde erklären können, dass seine Missionen … zwielichtig … waren, müsste er das erst einmal Odin klar machen – und Laslow kannte das irre Funkeln in dessen Augen, auch wenn er es im roten Dämmerlicht nicht sah. Er seufzte. „Ich bin dennoch dafür, den Weg durch die Unterstadt zu nehmen.“ „Wegen der Verkäuferinnen oder dem Make-Up?“ Verdammt, wann hatte Odin- Laslow spürte, wie ihm der skeptische Blick entglitt. „Keines von beiden“, grollte er. Er wollte gar nicht wissen, wie rot er gerade war. „Mir behagt nur der Gedanke an deine Reiseroute nicht.“ Wenn Laslow in den vergangenen Monaten etwas über Windmire gelernt hatte, dann, dass es seine Gründe hatte, warum die Mitte der Gesellschaft in einer Stadt unter der Stadt lebte. Und sie hatten nur bedingt etwas mit dem harschen Klima zu tun. Ob man sich in die Slums im Süden, die Villenviertel im Norden oder die Kasernen dazwischen wagte – die meisten Bewohner unterschieden sich lediglich in der Begründung, mit der sie einem die Kehle durchzuschneiden gedachten. Und in Schärfe und Korrosionsgrad ihrer Klingen. „Du fürchtest dich vor ein paar reichen Narren?“, Odin stockte. „Nein, warte. Nochmal. Sei unbesorgt, mein treuer Adlatus! Deine Feinde werden unter der Macht des Finsteren Odin erzittern! Höre ihr Flehen! Nein, Finsterer Odin! Habt Erbar- Schweigt! Ich werde die zwölf Tore der Finsternis entfesseln! KABOOM! Gyaaahhh! Gnade, oh Finsterer Odin! Gnade!“ Vermutlich hätte das Brennen in seinen Wangen nachlassen sollen. Vielleicht hätte es das sogar getan – wäre das Theater nicht laut genug gewesen, um es auch noch oben auf den Wehrgängen zu hören. So aber fasste Laslow sich nur an den Kopf. „Ich sehe sie zittern, ja“, murrte er, „vor Lachen. Ich hoffe wirklich, deine magischen Talente sind so explosiv, wie deine Zunge.“ „Zweifelst du etwa an dem Finsteren Odin?“ „So vier, fünf Mal am Tag“, erwiderte Laslow schnippisch. „Kommt drauf an, wie häufig wir uns sehen.“ Einen Augenblick lang genoss er es, Odin empört nach Luft schnappen zu sehen, doch letztendlich schüttelte er den Kopf. Es war immer noch mitten in der Nacht und langsam kroch die Kälte selbst durch seinen Gambeson. Entsprechend stand ihm der Sinn nicht ernsthaft nach einem Streit – auch, wenn er die daraus resultierende Entscheidung sicher noch bereuen würde. Bedächtig legte er eine Hand auf dem Schwertknauf an seiner Hüfte, dann setzte Laslow sich in Bewegung.   ~ ♦ ~   Die Villenviertel Windmires waren das Zentrum all jener, die zu viel Gold besaßen, um es nicht zu verschwenden. In Ylisse waren es aufwändige Fassaden und ausladende Höfe, die vom Reichtum der Bewohner zeugten. In Nohr waren es Feuer. Holz brannte in den Kaminen, Kohle in den Öfen und Magie auf den Plätzen. Dort, wo das harsche Winterklima die Bewohner dazu zwang, zusammenzurücken und Ressourcen zu sparen, zeigte sich der Reichtum in einem hellem Schein, der über der Stadt glitzerte, wie Sterne am Firmament. Bei den Häusern des Adels und der Diplomaten, die sich im Schatten der Stadtmauer die Hänge hinauf zogen, leuchteten nur vereinzelt Lichter in den Fenstern und Fackeln vor den Türen. Die Straßen weiter südlich, dort, wo sich die mehrstöckigen Speicherhäuser der Händler aneinander reihten, wie Perlen auf einer Schnur, glommen hingegen in einem weithin sichtbaren Orange. Wenn sie etwas auf ihrem Weg nach Osten nicht brauchten, so war es zusätzliches Licht. Trotzdem blieb die Sicht bescheiden. Durch die Öffnungen zur Unterstadt – und damit zur Kanalisation – drang Nebel in die Gassen und mischte sich dort mit Rauch und Ruß. Die Schwaden verdichteten sich schon nach ein paar hundert Schritten so sehr, dass Laslow kaum von einer Kreuzung zur nächsten blicken konnte. Und noch etwas brachte der Nebel mit sich: Gestank. Der Geruch von schwelendem Holz mischte sich mit dem Unrat aus den Kanälen und den Misthäufen der Hinterhöfe. Damit und mit der Erkenntnis, dass Laslows Befürchtungen sie ausgerechnet hier einholten. Nur die Bekanntschaft mit Noire sorgte dafür, dass Laslow seinen Armschutz rechtzeitig nach oben riss. Der Aufschlag war hart und vielleicht hätte er die Pfeilspitze sehen können, doch jahrelang verinnerlichte Reflexe wussten es besser. Er glitt mit dem Aufprall, fiel, rollte über die Schulter ab, hörte den hölzernen Schaft unter seinem Gewicht bersten – dann war er in der nächsten Hofeinfahrt. „Bei den Göttern!“, hörte er Odin rufen, doch im Augenwinkel sah er, wie auch in seinen Freund Bewegung kam. Einen Wimpernschlag lang war er wieder Myrmidone. Dem ersten Pfeil ausweichen, den zweiten vorhersehen … Die Bewegungen, mit denen Odin sich duckte, waren so fließend, wie die eines Schwertkämpfers – doch es war kein Schwert, das er zog. „Ha! Ihr könnt euch nicht vor mir verstecken!“ Laslows Nackenhaare stellten sich auf. In den letzten fünf Monaten hatte er gelernt, den Zauber nicht abzuwarten. Ohne auf Eleganz zu achten, warf er sich sich in den Durchgang und kniff die Augen zusammen. Den Blitz sah er trotzdem. Donner, dann Schreie. Ein Treffer. Mindestens drei Angreifer. Hufschlag. Er drückte sich tiefer in den Mauerschatten. Ein Rappe preschte an ihm vorbei. Gepanzert, Reiter und Ross. Beide verschwanden im Nebel, doch Laslow erkannte das Wappen. Marodierende Mitglieder der Armee – und zwar keine kleinen Fische aus der Nationalgarde. Das war nohrischer Adel. Allein bei diesem Gedanken wurde ihm übel. Langsam, den Blick dorthin gerichtet, wo der Kavalier im Nebel verschwunden war, ließ er sein Reisebündel fallen. Ein sachter Tritt beförderte sie tiefer in die Einfahrt. Laslow prüfte es nicht nach – er zog das Schwert. Ein letzter Blick, ein letztes Lauschen, versicherten ihm, den Reiter zumindest nicht direkt im Nacken zu haben. Er atmete tief durch – dann stürzte er aus seinem Versteck. Ein Pfeil segelte an ihm vorbei, aber viel zu hoch, um Schaden anzurichten. Den Schützen zuerst. Laslow konnte ihn sehen, ein paar dutzend Schritte vor ihm, halb verborgen im Nebel. Gerade spannte er den Bogen, doch dieses Mal war die miese Sicht auf seiner Seite. Mühelos tänzelte er zwischen den Angriffen hindurch, sein Sprint leicht versetzt nach links, Zwiesprung zur anderen Seite – der Pfeil passierte ihn in harmloser Distanz – und zurück, wieder in Bewegung, Drehung – dann war er vor ihm. Laslow sprang. Der Bogen war Massenware, wie sie sie an Rekruten ausgaben. Holz. Die Beschläge aus Bronze, vielleicht auch Eisen. Ein schlechteres Schwert hätte er damit vielleicht blocken können, so aber war es beinahe ein glatter Schnitt. Erst brach der Bogen, dann Knochen. Laslow hielt nicht inne, um zu prüfen, welcher. Er schwang mit dem Drehmoment, nutzte die Bewegung, sein Schwert zu wenden, und schlug erneut zu. Der Knauf seines Schwertes krachte in den Kiefer des Schützen. Dessen Schreie erstarben. Erst, als er seinen Gegner am Boden sah, setzte sein Verstand wieder ein. Die zwei Enden des Bogens lagen ein paar Meter weiter, die Sehne wie ein achtlos festgebundener Faden zwischen ihnen. Billigware. Auch seine Uniform war die eines Rekruten. Kein Waffenrock, kein Siegelring. Nur Blut. Der linke Arm in einem unnatürlichen Winkel. Knochenstücke, die kurz vor dem Ohr durch die Haut ragten. Bedächtig trat er einen Schritt zurück und ließ die Klinge sinken. Aus seiner Position konnte Laslow nicht sagen, ob sein Gegner noch lebte. Er atmete durch. Vermutlich war es besser. Hinter sich hörte er Hufschlag. Hufschlag und etwas, das verdächtig nach „Unstillbare Blutflammen!“ klang. Er war versucht, sich umzudrehen, zu schauen, ob Odin Hilfe benötigte, doch eine Bewegung in seinem Augenwinkel erregte seine Aufmerksamkeit. Es war nur ein Schatten- Im letzten Moment riss er sein Schwert hoch. Stahl klirrte. Die Wucht des Hiebs bebte in seinen Armen. Kein Rekrut. Laslow drehte seine Waffe, spürte jeden Millimeter, die die Klingen aneinander abglitten, parierte die nächsten Schläge, zurück, zurück – Den Ausfallschritt sah Laslow kommen, bevor er geschah. Im letzten Moment ein Zwiesprung – ohne den obligatorischen Satz zurück. Dafür ein Tritt. Er verfehlte die Kniekehle knapp, doch er spürte, wie sein Hacken gegen Metall schlug. In seinem Augenwinkel taumelte sein Gegner, zwei Schritte lang. Beinahe synchron wirbelten sie herum. Die Schwerter vor sich, starrten sie einander an. Sein Gegner war so schwer gepanzert, wie Laslow befürchtet hatte. Ein schwarzer Plattenpanzer verdeckte seinen Brustkorb, ebenso schwarze Beinplatten schützten Knie und Unterschenkel. Den dazugehörigen Waffenrock hatte er augenscheinlich in den Quartieren zurückgelassen. Nur ein einfacher, grauer Überwurf wand sich um seine Schultern. Den sozialen Status seines Besitzers verbarg er nur mäßig. Selbst im Nebel erschien der Stoff neu und schwer und damit zu teuer für die meisten einfachen Soldaten. Selbst sein blondes Haar wirkte zu glatt, zu gepflegt, für jemanden, der andere Sorgen hatte. Ein Kavalier der Königsgarde, daran hegte er keinen Zweifel. Der dazugehörige Gaul mochte fehlen, vermutlich hatte einer von Odins Zaubern ihn von selbigem geholt, allein die O-Beine verrieten ihn. „Reicht Euer Sold nicht“, fragte Laslow spitz, „oder ist es Euer Erbe?“ Sein Gegenüber zog die Brauen hoch. Vermutlich hatte er jahrelang dafür geübt, damit diese kleine Geste so arrogant wirkte, wie sie es tat. Und nicht nur das. Mit jedem finsteren Blick, den sie tauschten, kam Laslow sein Gesicht bekannter vor. „Sieh an. Prinz Xanders Schoßhund und er bellt. Was macht Ihr mitten in der Nacht auf offener Straße? Noch sind keine Dienstmädchen wach.“ Seine Stimme war ein tiefer Bariton. Sie hätte wohlklingend sein können, doch sie troff vor Gift. Jetzt, wo Laslow sie hörte, fiel das Puzzlestück wie von selbst ins Bild, fand sich ein Name zum Gesicht. Anthone von Galen. Dem Namen folgten die übrigen Informationen, die sein Verstand bereitzustellen vermochte. Eine der Palastwachen und ein großes Mundwerk auf dem Trainingsplatz. Seine Freunde eine Gruppe von jungen Adeligen, die alles dafür gaben, in der Nahrungskette der Macht weiter nach oben zu gelangen und die dabei mit Wonne nach unten traten. Glücklicherweise hatten sie am Hof nur wenig miteinander zu schaffen. Und wenn man bedachte, wo sie hier waren, würde sich daran kaum etwas ändern. Ein Schoßhund, und das wusste sie beide, kehrte immer an die Seite seines Herren zurück, so man ihn ließ. „Ich befinde mich auf einer Mission im Auftrag der Prinzen.“ Laslow umfasste das Heft seines Schwertes fester. Routiniert richtete er sich gerader auf und trat einen Schritt zurück. Probeweise ließ er sein Schwert in seiner Hand rotieren. „Etwas, das man von Euch nicht behaupten kann, Anthone. Oder seit wann gehört das Ausrauben reisender Händler dazu?“ „Länger, als du glaubst!“ Noch während er sprach, stürzte Anthone vor – doch Laslow war bereit. Behände wich er dem Stich aus und setzte selbst mit einem Konter nach. Ihre Klingen trafen sich, kurz dieses Mal, aber heftig. Laslow verzichtete auf das Kräftemessen, das der Kavalier ihm anbot, setzte zurück, hieb zu, diagonal von unten zur Brust – Block. Wieder diagonal, dieses Mal von oben – Block. Er tänzelte um Anthones nächsten Schlag, stieß selbst zu, traf nur Luft. Den Schlag gegen seine Seite sah er kommen, Routine setzte ein. Parieren, Schritt, Konter, Hieb, Blickkontakt. Atmen. Schritt, ducken, Schritt. Schlag. Das Klirren von Metall erfüllte seine Ohren. Anthones Kraft bebte bis in seine Schultern. Laslow ahnte, dass er sich nicht auf ein Duell der Ausdauer einlassen durfte. Doch er wusste auch, dass er das nicht musste. Der Kavalier war routiniert mit dem Schwert, besser vielleicht, als mit der Lanze, doch er war den Kampf vom Pferd gewöhnt. Seine Kraft machte Laslow mit Beinarbeit wett. Sprung zurück. Atmen. Schlag, links nach unten. Klirren. Drehung. Schritt zurück. Finte von von rechts- Der Oberschenkel war ungeschützt. Gleitsprung, Ausfallschritt – Sein Stich glitt ins Leere. Er ahnte die Bewegung mehr, als das er sie sah. In diesem Moment wusste Laslow, was geschehen würde, bevor es geschah. Er konnte nichts tun. Anthone war längst in Bewegung, wirbelte mit dem Schwung seines Ausweichmanövers- Der Tritt saß. Als sein Verstand wieder einsetzte, lag er bereits auf dem Rücken. Verzweifelt überlegte er, wie man atmete. Alles tat weh. Ein Brennen zog sich durch seine Schultern und seine Lungen, ein dumpfer Schmerz durch seinen Hinterkopf. Orangefarbener Nebel drehte sich über ihm. Er schmeckte Blut und Galle. Schritte kratzten über Stein, ohne, dass er sie hätte orten können. Anthones Schatten trat in sein Blickfeld. Nur im Augenwinkel sah Íñigo, wie er ausholte. Stechender Schmerz durchfuhr seine Hand, als er nach ihm trat. Dieses Mal hörte er sich schreien. Er wollte sich aufbäumen, sich wehren, zurücktreten, doch da war keine Energie – Ein dritter Tritt beförderte ihn wieder flach auf den Rücken. Anthones Gewicht auf seiner Brust blieb. „Netter Versuch, Köter.“ Er hörte den Kavalier hochziehen. Mehr, als die Augen zusammenkneifen, konnte Íñigo nicht. Die Rotze traf besser, als mancher Schütze. Langsam und kalt floss sie seine Gesichtszüge hinab, über Nase und Wange, bis sie in seinen Haaren versickerte. „Aber nicht gut genug.“ Einen Moment lang war Íñigo nicht mehr, als ein zitterndes Bündel. Ein zitterndes Bündel, dessen Puls in seinen Ohren dröhnte, und das sich auf die Zunge beißen musste, um nicht zu winseln. Wo war Owain? Íñigo öffnete ein Auge – das, in dem keine Spucke klebte – und spähte in den Nebel. Er blickte nicht auf, nicht gewillt, seinem Gegner diese Aufmerksamkeit, diesen Sieg, auch noch zu geben. Owain sah er nicht. Er hörte ihn auch nicht. Sein Blick glitt in die Richtung, in die sein Schwert geschlittert war. Keine Chance. Er spürte Verzweiflung in sich aufkeimen. Wie bittere Galle stieg sie seine Kehle hinauf und in seine Augenwinkel. Er wollte nicht – er durfte nicht – Wieder kniff er die Augen zusammen, schluckte. Und plötzlich spürte er etwas anderes. Etwas, das kaum mehr war, als ein Kribbeln unter seinen Fingerkuppen. Etwas, das er dennoch überall wiedererkannt hätte. Das er seit Monaten zu ignorieren versuchte. Das er in Nohr, in Windmire, offiziell gar nicht spüren durfte. Unter normalen Umständen hätte er es nie auch nur in Betracht gezogen. Selbst jetzt riet sein Verstand ihm davon ab. Doch sein Verstand war nur eine leise Stimme in seinem Hinterkopf … „Irgendwelche letzten Worte?“ Er hörte die Bewegung über ihm. Stoffrascheln. Auch ohne es zu sehen, konnte er sich vorstellen, wie Anthone das Schwert hob. Die Stimme in seinem Kopf erstarb. Íñigo streckte die Hand aus, tastete, blind, fühlte – Ein warmes Ziehen antwortete seiner Aufforderung. Es kribbelte in seinen Fingern, stärker jetzt, und wanderte seine Haut hinauf. „Wenn Ihr mich so fragt …“ Íñigo öffnete die Augen und starrte nach oben. Er ballte die Hand zur Faust. Die Macht unter ihm antwortete. Grollen, tief unter der Straße. Beben. Die Klinge schwankte über ihm. Weit aufgerissene Augen erwiderten seinen Blick, plötzlich nicht mehr so arrogant. „Hat es Euch noch niemand gesagt? Ich bin bissig!“ Dann explodierte die Welt. Nacht und Nebel --------------- Íñigo wusste nicht, was geschah. Verstand nicht, was geschah. Der Boden bebte. Das Pflaster riss auf. Granitsteine von der Größe seines Kopfes schossen an ihm vorbei. Wasser folgte, Schutt, Steine und Unrat. Der Lärm war Ohrenbetäubend. Irgendwo dazwischen hörte er Anthone schreien oder einen seiner Komplizen oder Owain – bitte nicht Owain! – oder sich selbst. Er hätte es nicht genauer sagen können. Selbst, wenn er gewollt hätte, er hätte nicht rennen können. Mühsam wuchtete er seinen Oberkörper hoch. Selbst das kostete zu viel Energie. Tock! Ein Kiesel landete neben seinen Beinen, sprang auf dem unebenen Pflaster noch einmal in die Luft und kullerte von dannen. Tock! Langsam hob Íñigo den Blick. Tock! Tock! Tock! Nur wenige Meter vor ihm stieg eine Säule aus Wasser und Schlamm in den Himmel. Er konnte Dinge durch die Fluten wirbeln sehen, halb verborgen in der Dunkelheit, nur ein Aufleuchten, wenn sich das Licht einer Fackel darin brach. Nur die Götter wussten, was die Säule alles mit sich riss – und wie hoch. Sein Blick glitt weiter, nach oben, wo sich die Säule im Nebel verlor- Dieses Mal sah er den Stein, bevor er aufschlug. Ein schwarzer Schatten, der durch den Nebel drang – Klonk! Er konnte hier nicht bleiben. Er durfte hier nicht bleiben. Und doch gehorchten seine Gliedmaßen ihm nicht – Wie gelähmt starrte er weiter in den Himmel, sah weitere Schatten neben ihm nieder gehen, manche größer, als seine Faust. Langsam, ganz langsam, schob er seine rechte Hand nach hinten, ignorierte den Schmerz, tastete- Er sah den Schatten noch, sah das Zappeln, dunkel, über sich, zu spät- Quiiieeeeeeek! Der Aufschlag war hart. Schmerz explodierte in seinem Gesicht, seinem Arm, als er aufs Pflaster krachte. Blind griff er nach dem Stein, spürte stattdessen Fell, warm, weich, nass, quiekend- „Gyaaah!!“ Pfoten kratzen über seine Lippen. Ein dünner Schwanz glitt durch seine Finger. Er schlug zu, erwischte nur seine eigene Nase, schrie. Das Gewicht landete auf seiner Brust. Er holte mit der anderen Hand aus – Scheiß auf den Schmerz! – packte zu. Einem Moment lang waren sie ein einziges, zappelndes Bündel, schreiend, quiekend, beißend, dann war die Ratte fort, glaubte Íñigo, hoffte Íñigo – Er ließ es nicht drauf ankommen. Panisch drehte er sich um, streckte die Hand vor, robbte, kroch. Einen Meter. Noch einen. Immer noch prasselten Steine zu allen Seiten hernieder. Er ignorierte sie. Noch einen Meter, noch einen. Nur weg. BATSCH! Der Stein schlug kaum zwei Hand vor ihm auf das Pflaster. Schlamm spritze in sein Gesicht. Íñigo erstarrte. Das war kein Kiesel. Der Granitklumpen war fast so groß, wie sein Kopf. Schwer und schwarz und drohend lag er vor ihm. „Oh ihr Götter!“ Es war kaum mehr als ein Winseln. Irgendwo ging ein weiterer Brocken nieder. Das Ding klang riesig. Er schluchzte. Der Pflasterstein vor ihm zeigte sich ungerührt. Wimmernd vergrub er den Kopf in seinen Armen und ergab sich seinem Schicksal.   ~ ♦ ~   Irgendwann war es vorbei. Íñigo konnte nicht sagen, wann das Rauschen des Wassers hinter ihm nachgelassen hatte oder wann das Fallen der Steine. Das Einzige, das blieb, war ein feiner Sprühregen. Als er den Kopf schließlich hob, war alles still. Kein Geröll. Keine Ratten. Keine größenwahnsinnigen Ritter, die ihm den Schädel spalten wollten. Auch die Feuer fehlten. Vermutlich hatte der Niesel die Flammen erstickt, doch sein Verstand arbeitete zu träge, um sich damit zu beschäftigen. Vorsichtig nahm er einen zittrigen Atemzug. Das Brennen in seinen Lungen, das er beinahe erwartet hätte, blieb aus. Noch einmal atmete Íñigo ein, dann wieder aus. Probeweise bewegte er seine Finger. Links war alles in Ordnung. Rechts - Er biss die Zähne zusammen. Der Tritt, erinnerte er sich. Verdammt. Sehen konnte er im Dämmerlicht der wenigen magischen Fackeln, denen das Wasser nichts hatte anhaben können, nichts. Keine Knochen waren zu sehen, kein Blut. Vorsichtig wiederholte die Bewegung. Wieder antwortete sein Handgelenk mit Schmerz, erträglicher, dieses Mal. Seine Hand folgte der Bewegung, seine Finger auch. Wenn er Glück hatte, war es nur eine Prellung. Nichts, was ein Heilmittel nicht zu kurieren vermochte. Gut. Als er sich sicher war, keinen weiteren Schaden anzurichten, drückte er sich auf die Ellenbogen. Einen Augenblick lang drehte sich alles, selbst der verdammte Granitklumpen vor seinem Gesicht- Íñigo schluckte. Er zwang sich dazu, durchzuatmen. Ein. Aus. Es war, wie beim Tanzen. Ein. Augen schließen. Aus. Ruhe. Ein … Aus … Der Schwindel ließ nach. Was blieb, war ein dumpfes Pochen in seinem Hinterkopf und ein dazu passendes Ziehen in seinen Schultern. Egal. Vorsichtig setzte Íñigo sich auf. Behutsam drehte er den Kopf, sah sich um. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, oder zumindest kam es ihm so vor. Dafür war es wirklich dunkel geworden. Er konnte kaum die nächste Gasse erkennen. Dafür sah er Schlamm. Die komplette Straße war mit einer glibbrigen Pampe überzogen, von der er nicht sagen konnte, ob sie nur aus Wasser und Erde bestand. Sie roch nicht so. Es half nicht, dass das Zeug auch an ihm klebte. Seine Wangen, seine Haare, seine Hände- „Igitt.“ Íñigo schluckte. Das war nicht der richtige Moment, um in Selbstmitleid zu versinken, das wusste er. Seine Spielerei von mochte Anthone vertrieben – und ihn beinahe umgebracht – haben, doch das hieß nicht, dass er sicher war. Er nicht und- Oh verdammt. „Owain?“, fragte er, erstickt. Keine Antwort. Übelkeit stieg in ihm auf. Íñigo drehte sich herum, musterte die Gasse links von ihm, dann rechts, doch bei dem Nebel war es schwer, etwas zu sehen. „Owain?“, rief er, lauter, „Owain!“ Still- „Laslow?“ Íñigo öffnete den Mund, schloss ihn wieder, spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. „Wo bist du?“ „Hier.“ Hier war irgendwo im Nebel links von ihm. Dann endlich sah er den Schatten. Er wirkte durchgeweicht und zitterte, doch Íñigo erkannte die Silhouette eines Dunkelmagiers, wenn er ihn sah. Seines Dunkelmagiers. Erleichterung wusch über ihn hinweg. „Den Göttern sei dank. Ich dachte-“ „Hey, ich war‘s nicht“, antwortete sein Freund ihm. Jeder seiner Schritte folgte ein schmatzendes Geräusch. „Das war krass, aber ich war‘s nicht. Ich schwöre!“ „Pfft.“ Íñigo – nein, Laslow, erinnerte er sich. Laslow – schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß.“ Wie von selbst glitt sein Blick auf seine Hand. Noch immer spürte er das warme Kribbeln unter seinen Fingerkuppen, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Er schnaubte. „Das war ich. Tsk.“ Wortlos hielt Odin ihm die Hand entgegen. In seiner Miene spiegelte sich nicht einmal der Hauch des üblichen Wagemuts. Da war nur Anspannung, in seinem Unterkiefer, in seinen Augenbrauen, in der Art, wie seine Lippen bebten. Laslow konnte in seinen Augen sehen, dass er eine genauere Erklärung verlangte, aber auch, dass er bereit war, auf sie zu warten. Und zumindest hatte ihn offenbar niemand verprügelt. Ebenso wortlos streckte Laslow seine eigene Hand aus. Die Linke, denn in der rechten pochte noch immer sein Puls. Mühelos zog Odin in den Stand. Keiner von ihnen ließ los. „Das nächste Mal sollte ich die Beschreibung der Drachenader lesen, bevor ich sie verwende, oder?“ Odin schnaubte. „Drachenader?“, fragte er, klang aber nicht halb so ungläubig, wie er vielleicht klingen wollte. „Und ich dachte, ich habe einen Hang zum Spektakel.“ Zur Antwort kicherte Laslow. Es klang selbst in seinen Ohren erbärmlich. Odin fiel trotzdem in das Lachen ein. Es war das Einzige, das Laslow davon abhielt, wieder loszuheulen. So aber lachte er und kicherte und klammerte sich dabei vielleicht ein bisschen zu sehr an Odins Hand. Irgendwann ebbte das Kichern ab. Zurück blieben das Bedürfnis, sich irgendwo zu verkriechen, und Stille. In seinem Augenwinkel hob Odin die freie Hand. Laslow beäugte sie kritisch, schwieg aber weiter. Erst, als er Odins Finger vor seinen Augen sah, blickte er auf. Sachte strichen sie über seinen Nasenrücken. Ein leichtes Brennen antwortete der Berührung, doch Laslow sagte nichts. Auch nicht, als sie erneut über seine Nase tasteten, über seine Wange, seine Lippen. An seinem Kinn stoppten sie schließlich, verharrten kurz, rubbelte dann an etwas, das Schlamm sein mochte. Oder Blut. „Nichts gebrochen“, stellte Odin fest, den Daumen immer noch auf Laslows Kinn. „Aber du hast ganz schön geblutet. Hat dich einer dieser Ritter erwischt?“ „So ungefähr“, gab Laslow zu. Er öffnete den Mund, doch die nächsten Worte kamen nicht über seine Lippen. Nein. Ganz sicher würde er Odin jetzt nicht von der Ratte erzählen. Oder von dem unmännlichen Gewimmer vor dem Granitklumpen. Oder von- Er atmete tief durch. Betont langsam hob Laslow den rechten Arm und schob Odins Finger fort, darauf bedacht, ihn nicht ausgerechnet mit dem Handgelenk zu berühren. „Ich habe den Schützen erwischt“, fuhr nahm Laslow den Faden an anderer Stelle wieder auf. „Ich nehme an, es war einer der Rekruten der Königsgarde. Ich weiß nicht, ob er noch …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm den Kiefer gebrochen. Den Arm auch. Aber … Sie haben ihren Schützen in die erste Reihe gestellt, Odin. Statt ihm Deckung zu geben, hat sein Komplize darauf gewartet, dass ich mit ihm fertig werde. Und dann habe ich Idiot ihn unterschätzt. Er hat mich so leicht entwaffnet, wie es kaum ein Krieger in Vaters Armee geschafft hätte. Dann habe ich die Drachenader bemerkt und was genau die ausgelöst hat, verstehst du vermutlich besser, als ich. Hast du Heilmittel dabei?“ Sein Freund schnaubte amüsiert. „Natürlich!“, verkündete er. Prompt ließ er Laslow los, um mit beiden Händen in dem Taschensammelsurium wühlen zu können, das an seiner Hüfte hing. Irgendwas klirrte. „Wann war der Finstere Odin je nicht auf alles vorbereitet?“ Schaubend zog Laslow die Augenbrauen hoch. Auch das zog in der Nase. „Du erinnerst dich an dieses eine Mal, bei dem ich mit diesem wirklich süßen Mädchen geflirtet habe und du daneben gestanden hast und Nowi sich plötzlich in diese furchtbare Drachengestalt verwandelt hat, um mit uns Kindern Fangen zu spielen? Der halbe Markt hat gebrannt!“ Odins Gesichtszüge entgleisten. Er lachte. Es klang verdächtig, als würde er an etwas ersticken. „He he he, abgesehen von diesem einem Mal?“, fragte er. „Nun, vielleicht- Ha! Tadaa!“ Etwas schepperte. Odin fluchte. Dann hielt er ihm ein Fläschchen vor die Nase, als sei es die Lösung aller Probleme. „Der Finstere Odin hält jedes Versprechen! Und du wagst, an mir zu zweifeln!“ Gegen seinen Willen musste Laslow lachen. Mindestens ebenso theatralisch, wie Odin zu sein pflegte, verdrehte er die Augen. „Tue ich das nicht immer?“, fragte er schnippisch. Er hätte es nicht zugegeben, doch wie von selbst ließ die Anspannung in seinen Schultern ein wenig nach. „Weh mir! Ich bin mit Ungläubigen gestraft!“ Mit einer Bewegung, die geübter war, als sie für einen einfachen Getreuen sein sollte, öffnete er die Flasche. Genauso routiniert goss er einen Teil der Tinktur über ein Stück gelben Stoff, von dem Laslow nicht fragen würde, woher es stammte. „Ich kann das selbst“, warf er ein. Sein Protest wurde ignoriert. Genauso vorsichtig, wie Odin zuvor sein Gesicht untersucht hatte, wischte er nun mit dem Tuch über seine Haut. Eine Weile beobachte Laslow das Tuch dabei, wie es über seinen Nasenrücken rieb. Argwöhnisch, zunächst. Irgendwann schloss er die Augen und ließ Odin machen. Er spürte, wie sich der Dreck löste, der längst zu einer dicken Kruste geworden war, spürte, wie das Tuch auch über seine Wangen und Lippen fuhr. Der brennende Schmerz ließ nach. Nicht nur in seiner Nase, sondern auch dort, wo die Ratte in erwischt hatte. Die Kratzer hatte er bislang ebenso wenig bemerkt, wie die aufgeplatzte Lippe. Irgendwann senkte Odin das Tuch. Ohne, dass Laslow etwas hätte sagen müssen, griff er nach seiner Hand. Einen Augenblick später spürte Laslow, wie kühle Flüssigkeit über sein Gelenk floss. Dem Heiltrank folgte ein Kribbeln. Es war nicht unangenehm. Genauso wenig, wie die sachten Bewegungen, mit denen Odin nun auch dort über seine Haut strich. „Willst du die Mission abbrechen?“ Laslow öffnete die Augen. Sie tauschten einen langen Blick. Schließlich schüttelte Laslow den Kopf. „Nein.“ Probeweise beugte er sein Handgelenk. Der Schmerz blieb aus. Er seufzte zufrieden. „Du hast eine Aufgabe erhalten. Wir werden uns nicht von ein paar dahergelaufenen Raubrittern aufhalten lassen.“ Laslow brach den Blickkontakt ab, um sich umzusehen. Neben ihm lag noch immer der Granitklumpen. Von oben sah er weniger bedrohlich aus. Ein paar Meter weiter konnte er, halb im Schlamm verborgen, den Griff eines Schwertes ausfindig machen. Irgendwo hier musste auch die Toreinfahrt mit seinem Gepäck sein. „Es sind Raubritter der nohrischen Königsgarde“, gab Odin zu bedenken. Laslow überbrückte die Distanz bis zu der Waffe. Umsichtig wischte er den Dreck vom Heft, dann hob er sie auf. Es war eine gute Klinge. Stahl. Fein gearbeitet und scharf. Nahe dem Griff hatte jemand einen Namen eingearbeitet. Olivia. Er schnaubte, ließ seinen Blick erneut über den Boden huschen. Da waren Steine, Dreck, aber kein weiteres Schwert. „Dafür bin ich der Kronprinz von Ylisse“, antwortete er. Hinter ihm lachte Odin. Es klang unsicher. „Du hast deinem Prinzen versprochen, ihm eine Tür aufzuschließen, richtig? Also, tun wir das.“ In diesem Moment gab auch Laslow ein Versprechen. Wenn er ihm noch einmal begegnen sollte, würde es Anthone von Galen sein, der ihre Begegnung bereute. Entschlossen ließ er das Schwert in seine Scheide gleiten. Es passte nicht perfekt – doch für den Moment würde es gehen. Sein Mut hielt genau bis zu diesem Moment. Hufschlag. „Ieeks!“ Später würde er nicht mehr sagen können, wer von ihn beiden geschrien hatte. Fakt war – im nächsten Moment verschwanden sie beide im Schatten der nächsten Mauer. In den Schatten des Gemäuers gekauert warteten sie, Laslow das Schwert gezogen, Odin den Stern von Rigel. Nichts geschah. Laslow spähte die Straße hinab, doch mehr als die reich dekorierten Fassaden der Speicherhäuser und geschlossene Fensterläden konnte er nicht erkennen. In ein paar Metern Entfernung flackerte das Licht einer magischen Fackel. Sonst nichts. Keine Schatten. Keine Stimmen. Nur der Trott eines Pferdes, wie es über das Kopfsteinpflaster tänzelte. Skeptisch sah er nach hinten. Odin erwiderte seinen Blick und nickte. Geschmeidig schälte er sich aus den Schatten. Das Buch erhoben und die Finger der freien Hand auf den Seiten, schritt er voran. Laslow folgte. Der Hufschlag wurde lauter. Trotzdem brauchten sie zwei weitere Kreuzungen, bis sie es sahen. Erst war es nur ein Schatten im Nebel. Ein großgewachsenes Tier und massig. Als sie näher traten, glänzte die schwarze Rüstung im Licht der Fackeln. Und der Reiter glänzte auch – durch Abwesenheit. Träge trottete das Pferd zu einem nahen Hauseingang, um dort an den Büschen zu knabbern, die die Bewohner davor aufgestellt hatten. Niemand hielt es auf. Sein Reiter nicht, sein Geschirr nicht und auch die Panzerplatten nicht, die bei jedem Schritt, den das Tier tat, klirrten. Im Licht der nächsten Fackeln schimmerte sein Fell in einem verwaschenen rotbraun. Über seine Schulter hinweg spähte Odin zurück. In seinen Augen funkelte es verdächtig. Sie ahnten beide, wem dieser Gaul gehörte. „Laslow des azurblauen Himmels!“, verkündete sein Freund in dem leisesten Flüsterton, den er zustande brachte. Seine Stimme hallte zwischen den Fassaden der Gasse wieder. „Gestatte dem Finsteren Odin, diese einfache Frage! Kam es dir je in den Sinn, wieder zum Bogenritter aufzusteigen?“ „Laslow des azurblauen Himmels?“, echote er und klang vielleicht ein bisschen entgeistert. „Azurblau? Warum azurblau? … Nein. Schon gut, vergiss es. Warum fragst du?“ „Nun, wie du bereits selbst erkanntest, ist unsere Mission von wahrhaft drastischer Dringlichkeit! Es obliegt uns, ein Tor von unermesslicher Bedeutung für unseren Herren zu öffnen! Ein edles Ross wie dieses vor uns, wird uns sicher dienlich sein!“ Immer noch fassungslos starrte Laslow Odin an. Das Gelb seines Capes – bei dem Licht eher ein matschiges Orange-Braun – brannte sich in seine Netzhaut. „Du willst dieses Pferd klauen.“ Erneut warf Odin ihm einen Blick zu. Diesen Blick. „Du nicht?“ Laslow äugte vom Pferd zu Odin und zurück. In Gedanken überschlug er die Chancen, Diebesgut in den Satteltaschen zu finden. „Anthone wird der Garde seine eigene Version der Geschichte erzählen“, gab er zu bedenken. „Vermutlich ist er bereits auf dem Weg.“ Die Satteltaschen wirkten ziemlich … voll. „Nicht einmal die Magie des Finsteren Odins vermag es, einen Straßenzug aufzureißen. Leider, möchte ich anmerken.“ Am hinteren Ende beulte die ihnen zugewandte Tasche ziemlich aus. „Wir stehlen sein Pferd, Odin.“ „Nein, nein, mein Freund. Wir sichern Beweismittel.“ „Er wird vor uns beim Schloss sein.“ „Gewiss. Deshalb reiten wir nicht zum Schloss.“ „Nicht?“ „Wenn er der Garde berichtet erstattet, suchen wir uns einfach jemand anderen.“ Laslow öffnete den Mund, doch die Frage erstarb, noch bevor er sie formulieren konnte. Ein dünnes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Er wusste, auf welchen jemand Odin anspielte. Und der besuchte gerade seinen kleinen Bruder in der Nördlichen Festung. „Gut, ich bin dabei. Klauen wir diesen Gaul.“ Hinter dem Wegesrand -------------------- Weder in Ylisse noch in Nohr war Odin je zu einem großen Pferdefreund geworden. Wahrscheinlich hatte er nie versucht, anders zu kämpfen, als mit beiden Beinen auf dem Boden und dem Schwert in der Hand. Selbst jetzt, da er magische Folianten schwang, wie andere Leute Äxte, hatte sich daran wenig geändert. Entsprechend oblag es Laslow, den Lichtfuchs in einem gelassenen Schritt aus der Stadt zu führen. Am Osttor hatte man nur ein knappes Gähnen für sie übrig. Keiner der Soldaten hielt sich damit auf, ihre Identitäten zu prüfen. Vermutlich hätte Laslow es ihnen zum Vorwurf machen sollen, doch in den ersten Monaten in Nohr hatten er und seine Freunde selbst in der Nationalgarde gedient. Er kannte die Nachtschichten und er kannte den Sold. Laslow schenkte den Wachen ein mitleidiges Lächeln, das niemand erwiderte, dann ließen sie Windmire hinter sich. Ihr Weg zog sich nach Osten, vorbei an abgeernteten Feldern und den befestigten Bauernhöfen des niederen Adels. Auf den ersten Kilometern hinter der Stadt bot die Straße weder die Gelegenheit für einen Hinterhalt, noch eine, um Odins Schlüsselkräuter zu pflücken. Und auch ansonsten gab es nicht viel zu sehen. Das Spannendste waren bei Weitem Anthones Satteltaschen. Sie öffneten sie, kaum, dass die Dämmerung weit genug über den Horizont gekrochen war, um mehr als Odins Silhouette erkennen zu können. Das hieß – Laslow öffnete sie. Nach wie vor auf dem Rücken der Stute überließ er Odin die Zügel und griff nach der ersten Tasche. Unter Odins wachem Blick ließ er seine Finger über die Verschlüsse gleiten. Das Leder lag schwer und stabil unter seinen Fingern. Er spürte deutlich die Erhebungen von den Dingen in der Tasche, hätte aber nicht sagen können, was sich darin befand. Er schlug das Leder zurück und spähte hinein. Stoff quoll ihm entgegen, dicht gewebt und weich. Jedes Tuch hatte seine eigene Farbe, doch im Dämmerlicht hätte Laslow sie kaum genau bestimmen können. Vorsichtig tastete er über die Wolle. Ohne die Lederschicht dazwischen, spürte er die darin eingewickelten Gegenstände deutlicher. Auf der rechten Seite befanden sich eine Reihe von Zylindern und Kugeln, alle mit konischen Verjüngungen an der Oberseite. Wenn er genauer tastete, konnte er Korkverschlüsse fühlen. Die Flaschen waren zu klein, um eine nennenswerte Menge Alkohol zu transportieren, aber ausreichend für Heiltränke – oder ähnliche Flüssigkeiten. Laslow ignorierte sie vorerst. Stattdessen wandte er sich dem einzigen, anderen Paket in der Tasche zu. Auf den ersten Blick hätte man es für einen zusammengeschlagenen Umhang halten können, doch auch hier spürte er, dass sich etwas darin befand. Vorsichtig zog er an dem Paket und schlug die obersten Stoffschichten zurück. Zahlreiche dünne Metallplatten kamen zum Vorschein. So groß wie seine Handfläche und quadratisch, die Seiten konkav und scharf geschliffen. Er hätte sie für eine seltsame, nohrische Währung halten können, doch er erkannte Stahl, wenn er ihn sah. „Reiche Beute?“, fragte Odin in die Stille. Laslow runzelte die Stirn. „Nein.“ Er griff nach einer der Metallscheiben, zögerte aber im letzten Moment. Mittlerweile war das Tageslicht hell genug, um ihn die Schlieren sehen zu lassen, die sich in Violett und Orange über die geschliffenen Klingen zogen. Öl von der letzten Politur, vielleicht. Oder – Laslows Blick glitt zurück zu den in Wolle gehüllten Phiolen … Umständlich zog er sich seinen Handschuh wieder an. Erst danach fasste er nach einer der Scheiben und hob sie hoch. Das Metall glänzte im Morgenlicht. „Vorschläge?“ Natürlich hatte Odin die. Die und genug Elan für sie beide. Mit einer raumgreifenden Geste packte er sich ans Herz, taumelte zurück und riss beinahe an den Zügeln der Stute. In seinem Sattel schwankte Laslow bedrohlich. Er ächzte. „Bei den Göttern!“, intonierte derweil sein Freund, „dieser infernale Widersacher, den du wähltest! Er nimmt die Klingen des Ostens in seine Dienste! Berühre sie nicht, mein Kumpan!“ Einen Moment lang starrte Laslow seinen Begleiter an. Sein Blick flackerte zu der Metallscheibe in seiner Hand. Er hob die Augenbrauen. „Übersetzung. Du hast drei Sätze. Und keine Kommas.“ Odin schnaubte. „Pfft. Dein kleiner Geist weiß die Relevanz dieser Enthüllung wahrhaft nicht zu schätzen!“ „Noch zwei Sätze.“ Sein Gegenüber öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Sicher hätte er die Arme vor der Brust verschränkt, hätte er nicht immer noch die Zügel der Fuchsstute gehalten. „Das sind Shuriken. Ninja tauchen sie in Gift oder Pegasidung und werfen sie auf ihre Feinde.“ Laslow blickte zurück zu der Waffe und ihren Schlieren. Im Licht der Dämmerung zeichneten sie sich noch deutlicher auf den geschliffenen Kanten ab. „Pegasidung?“ Laslow überlegte, ob er selbigen in diesem Fall verwerfen konnte oder ob Pegasi hier tatsächlich Regenbogen schissen. Die Antwort seines Magens war eindeutig – er drehte sich allein beim Gedanken daran um. „Ewwwww!“ „Wyvernmist funktioniert sicher auch“, antwortete Odin, vielleicht eine Spur zu begeistert. „Shuriken schlagen nur selten tiefe Wunden. Sie dienen vornehmlich der Ablenkung des Feindes. Zugleich hofft der Anwender, seine Widersacher mögen nach dem Austausch der Feindseligkeiten elendig an einer Infektion oder am Gift zugrunde gehen. Milord Leo hat dazu ein paar herausragend illustrierte Bildbände in seiner Bibliothek. Die meisten davon sind farbig und sehr detailgetreu. Aber natürlich sind sie nichts im Vergleich zu den entsetzlichen Mächten des Finsteren Odin!“ Laslow warf ihm einen leeren Blick zu. Er wollte lächeln, aber der Ekel war größer. In Momenten wie diesen fragte er sich, ob es sich bei sein Kumpel wirklich Robins Sohn handelte und ob ihr Taktiker wirklich so verzweifelt hatte sein können, um ausgerechnet Henry auf seine Kinder aufpassen zu lassen. „Zu viele Informationen, Odin“, würgte er schließlich hervor. Zu viele Informationen, zu viele Adjektive, zu viele Dinge, die er niemals hatte wissen wollen. Er brauchte einen Themenwechsel und er brauchte ihn jetzt. Laslow räusperte sich. „Du hast gesagt, Ninja verwenden sie? Was will ein nohrischer Ritter mit Waffen aus Hoshido?“ „Das, Laslow des azurblauen Himmels, ist die Frage.“   ~ ♦ ~   Ein paar Stunden später, als es hell genug war, um enge, nohrische Handschriften entziffern zu können, kannten sie die Antwort. Bereits vor einer Weile hatten sie einen Hain aus dürren Fichten und Birken erreicht, der ihrer Straße über mehrere hundert Meter hinweg folgte. Das Wetter war nicht ideal für eine Pause. Zu sehr drückten die Böen, die beständig aus östlicher Richtung über sie hinweg wehten und dabei dicke, stahlblaue Wolken mit sich brachten, die Temperaturen in den Keller. Letztendlich hatten sie das Wäldchen nicht wegen des Komforts gewählt, den es ohnehin kaum versprach, sondern vor allem wegen des Schutzes vor neugierigen Blicken. Wenn man ein paar dutzend Schritte in das Dickicht aus Birken und Heidebüschen trat, erreichte man eine Lichtung, die ausreichend Platz für zwei Getreue und ihr geklautes Pferd bot. Außerdem war sie von der Straße nicht mehr einsehbar. Nach einer kurzen Diskussion über das Für, Wider und die Geschwindigkeit eines Reiters ohne Pferd hatten sie Priscilla (Ja. Mittlerweile hatte Odin die Fuchsstute benannt und nach ihr noch mindestens die Hälfte der Shuriken.) an eine der Birken gebunden. Während ihre Geisel seitdem an ein paar halb vertrockneten Grasbüscheln knabberte, hockten sie auf einem umgestürzten Baumstamm und kramten sich durch den Inhalt der Satteltaschen. Die zweite Tasche war ergiebiger gewesen, als die Erste. Bereits unterwegs hatte Laslow nicht nur Proviant und Anthones Sold darin gefunden, sondern auch eine Mappe mit Umschlägen. Das Siegel des ersten Briefes, adressiert an eine Riona von Galen, hatten sie sich zu brechen nicht getraut. Die übrigen Umschläge waren längst geöffnet, das Wachs, das sie einst verschloss, aufgerissen und brüchig, einige von ihnen so abgenutzt, dass sich ihr Wappen kaum noch erkennen ließ. Sie enthielten ein Sammelsurium von Briefbögen und halb zerrissenen Zetteln, so durcheinander, dass sie aus unterschiedlichen Schreiben stammen mussten. Eine enge, geschwungene Handschrift hatte jede der Seiten bis in den letzten Winkel beschrieben. Sie erzählte von Abenden bei Tee und Kerzen, von diskreten Treffen, geheimen Gängen und einer Frau namens Katerina und deren dummen, kleinen Jungen. Die ersten Bögen enthielten kaum mehr als das – belangloses Geplapper einer Frau, die vor Jahren am Königshof gelebt hatte. Tatsächlich hatte Laslow die Briefe schon zur Seite legen wollen, wäre da nicht der Siegelring gewesen. Offenbar hatte eine gewisse Olivia selbigen bereits vor Jahren in einem der Palastgärten verborgen – nachdem sie ihn in den königlichen Gemächern hatte verschwinden lassen. Zur Krönung des Ganzen enthielt der Briefbogen nicht nur die Anekdote selbst, sondern auch eine detaillierte Beschreibung, wo der Ring zu finden war. Weitere Informationen folgten. Ausführung über Nohr, das Schloss und seine Bewohner. Alles Dinge, die für einen Ritter wie Anthone nur relevant hätten sein sollen, um sie bei seinen Vorgesetzten anzuzeigen. Informationen über Tunnel, die aus der Festung in die Kanäle unter der Stadt führten, über zu versendende Wurfsterne und über Mächte tief im Inneren des Schlossen, bei denen es sich nur um Drachenadern handeln konnte. Im Nachhinein betrachtet, wirkten selbst die dahergeplapperten Informationen über Tanzbälle und die Adeligen, die daran teilgenommen hatten, seltsam. Und hatte er nicht sogar den Namen Katerina irgendwo schon einmal gehört? Laslow ließ die Papiere sinken. „Ich fürchte, deine Mission muss warten“, sagte er schließlich. „Wir müssen Prinz Xander davon unterrichten. Umgehend.“ Sie tauschten einen Blick. Odin wirkte nicht glücklich. Natürlich nicht. Vermutlich war er auf die Erfüllung seiner Aufgabe erpichter, als es sein Herr – oder Laslow – je hätten sein können. Trotzdem nickte er. Es war eine träge Bewegung, die selbst seinen Oberkörper erreichte. Schließlich ließ er nicht nur seinen Kopf hängen, sondern auch die Schultern. Laslows Blick wich er aus. „Ja“, antworte er, genauso schwerfällig, wie er zuvor genickt hatte, „ja, wahrscheinlich hast du recht.“ „Komm schon.“ Laslow lächelte. „Der Finstere Odin wird jene obskuren Kräuter, nach denen es seinen Gebieter dürstet, schon noch in seinen Besitz überführen.“ Odin sah auf. Er zog die Augenbrauen hoch. „Natürlich wird der Finstere Odin das! Doch die Zeit drängt. Nur die Samen des seltene Raskovnikkrauts überdauern den harschen, nohrischen Winter. Die Mutterpflanze verliert ihre Kräfte bald nach dem ersten Frost.“ Frost hatten sie, natürlich, schon seit ein paar Nächten, doch Laslow biss sich auf die Zunge. Er lächelte noch etwas breiter. „Dann sollten wir uns beeilen. Desto schneller wir Bericht erstatten, desto schneller können wir nach deinen Kräutern suchen.“ Odin nickte. Selbst ihm musste einleuchten, dass sie keinen Tagesritt mehr von der Nördlichen Festung entfernt waren. „Wir befinden uns sicher ohnehin zu weit im Norden“, gab Odin zu. „Die Schriften sprechen von Fundorten entlang einer Linie zwischen Windmire und den Dämonenfällen.“ Dämonenfälle? Das klang, selbst für jemanden, der bereits zwei Zeitreisen und einen überdimensionalen Drachen hinter sich hatte, ungesund. Sein Lächeln bröckelte. „Siehst du?“, fragte Laslow. „Also, lass uns diese Pause beenden und weiterreiten.“ Umsichtig tat er die Briefe zurück in die Ledermappe. Die Metallverschlüsse klickten, als er die Satteltasche schloss. Schließlich erhob er sich. „Auch wenn das Raskovnikkraut natürlich in Lichtungen wie diesen wächst …“ Vermutlich hätte er ein guter Zuhörer sein und Odins Gemurmel beachten sollen, doch seine Gedanken kreisten noch immer um die Dämonenfälle. Ob dort wohl besonders tückische Stromschnellen auf unvorsichtige Kräuterpflücker warteten? Oder stürzten sich vielleicht sogar echte Dämonen die Fälle hinunter? Nein, wahrscheinlich hatten Nohren einfach einen Hang zu eindrucksvollen Ortsnamen. Ganz sicher … Er legte die Satteltaschen zu seinem Gepäck. Neben ihm nahm Priscilla den dumpfen Aufschlag zum Anlass, ihren Kopf zu heben. Er warf ihr einen knappen Blick zu, dann streckte er die Hand nach ihrer Stirn aus. „Das war zu laut, hm?“, fragte er, während er sie tätschelte. „Tut mir leid, Süße.“ Hinter sich hörte er Odin irgendetwas von Heidekraut und morschen Birken faseln, doch er nahm sich die Zeit, die Stute zu kraulen, bis sie ihre Nase in seine Richtung streckte. „Ich habe noch Dörrfleisch. Möchtest du welches?“, bot Laslow in Odins nächster Atempause an. Er hörte seinen Freund einatmen, doch der nächste Wortschwall blieb aus. „Denkst du, es gibt hier Igel?“ Laslow hielt inne. Einen Moment lang starrten die Stute und er einander an. Priscillas Motivation dafür war sicher eine andere. Vermutlich fragte sie sich nur, warum seine Finger nicht mehr durch ihr Fell strichen. Er fühlte sich trotzdem verstanden. Skeptisch blickte Laslow über seine Schulter. „Odin? Ich bin ein Söldner, kein Tierforscher.“ „Papperlapapp! Wir benötigen keine alles umwälzende Erkenntnisse! Lediglich eine simple Schätzung, mein Freund! Also?“ Laslow tauschte einen weiteren Blick mit der Stute. Sie stupste ihn mit ihrer Nase an, fast wie um zu sagen „Kraul endlich weiter!“ Er kam der Aufforderung nach. „Nun selbst wenn“, antwortete er kraulend, „sie sind nachtaktiv, oder?“ „Argh! Bei Armads Fluch!“ „Warum willst du das überhaupt wissen?“ Hinter ihm seufzte Odin, laut, gedehnt und offensichtlich frustriert. „Weil, Laslow der tauben Ohren,“ – Ups – „unsere stacheligen Freunde die Fähigkeit besitzen, die Stengel des Raskovnikkrautes zu erkennen. Einzig einen Anreiz muss man ihnen zuvor bieten.“ Abermals hielt Laslow inne. Dieses Mal drehte er sich – sehr zu Priscillas Bedauern – um und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich dachte, du brauchst eine Jungfrau dafür?“ Leider wirkte Odin nicht, als würde es ihm leid tun – höchstens, als gäre da schon die nächste, dumme Idee hinter seinen Schläfen. Laslow sah es, in der Art, wie er die Stirn runzelte. „Für bestimmte Schlösser eignen sich auch hier selbstredend die einen Schlüssel besser, als die Anderen. Die Art, wie man das Raskovnikkraut aufspürt, beeinflusst daher die Magie des Krautes selbst. Die Suche des Igels wäre gewiss nur ein Testlauf, aber natürlich hast du recht!“, erklärte sein Freund. Noch während er sprach, stürzte er sich auf ihr Gepäck und begann damit, seinen Reisesack auseinanderzunehmen. Bücher, die bedenklich nach diversen aneinander geklebten Folianten aussahen, landeten im Gras. Amulette und etwas, das aussah wie eine Wyvernklaue, flogen hinterher. Schließlich zerrte er einen letzten Gegenstand aus dem Bündel. Triumphierend hielt er ihn Laslow entgegen. „Hier, leg das an.“ Laslow öffnete den Mund – kein Ton kam heraus. Er hörte nur, wie der Wald hinter ihm knackte und wie Priscilla mit den Hufen scharrte. Irgendwo in der Entfernung grollte es, vermutlich der Wind. Es war, als sei sämtliche Feuchtigkeit aus ihm gewichen. Sein Rachen kratzte, seine Zunge fühlte sich an, wie Pelz. Er wollte schlucken, doch da war nur dieser fette Kloß in seinem Hals. Letztendlich entschied er sich dazu, die Lippen aufeinanderzupressen. Das … Ding – die Dinger – in Odins Händen schwangen im Wind, so, als hätten sie unschuldig sein können. Eine grob zusammengeschlagene Kette, Ringe an beiden Enden. Priscilla stupste seine Schulter. Das machte es nicht besser. „Das“, würgte er schließlich hervor, „sind Fußeisen, Odin.“ „Das ist der Anreiz“, erwiderte sein Freund mit einem Strahlen in den Augen. „Die Jungfrau legt sie an und streift mit ihnen über die Lichtung. Das Raskovnikkraut wird die Schellen öffnen.“ „Ich bin keine Jungfrau, Odin.“ „Du bist das Näheste an einer Jungfrau, das ich habe!“ „Ich werde keine Fußfesseln anlegen! Und ich bin keine Jungfrau, hörst du? Keine. Jungfrau.“ Laslow schlang die Arme fester zum seine Brust. Er starrte, die Augenbrauen zusammengezogen, die Lippen ein dünner Strich. Leider starrte Odin zurück – und der hatte seinen Bettelblick schon an ganz anderen Leuten perfektioniert.   ~ ♦ ~   Da war kein Raskovnikkraut auf dieser verdammten Lichtung. Natürlich nicht. Mit jedem Schritt verfinsterte sich seine Miene weiter. Laslow fühlte sich erbärmlich. Bislang hatte er nur ab und zu Schmuckreifen getragen. Goldene oder silberne Ringe, die beim Tanzen glänzten und ihm dabei halfen, sein Gleichgewicht zu halten. Die Fußschellen halfen bei gar nichts. Bereits seit dem ersten Schritt drückten die Eisen durch seine Stiefel. Leder scheuerte an Stellen, von denen er nicht einmal wusste, dass es dort scheuern konnte. Und obwohl er von Glück reden konnte, überhaupt eine schützende Schicht Leder zwischen dem rauen Metall und seiner Haut zu haben – nach den ersten Runden über Baumstümpfe und durch Gestrüpp war Laslow wund. Sich auf etwas anderes zu konzentrieren, half nicht. Die Heidesträucher und Grasbüschel, durch die er stapfte? Mittlerweile nur noch eine einzige, verschwommene Masse aus gelb, grün und rosa. Die Geräusche des Hains? Das hatte er versucht. Nur für den Fall, natürlich. Er hätte es besser gelassen. Mittlerweile hörte Laslow jedes Geräusch überdeutlich. Jedes Knarzen der Fichten, jedes Knacken im Unterholz. Der Wind heulte zwischen den Bäumen und rauschte zwischen den Kronen. Jedes Mal, wenn Priscilla mit den Hufen scharrte, zuckte er zusammen, jedes Mal, wenn sie schnaubte, wirbelte er herum. Odins dämliche Ratschläge? Mit denen fing er besser gar nicht erst an. Ständig drückten abgebrochene Äste und im Heidegrün verborgene Steine durch die Sohlen seiner Stiefel. Mehr als einmal wäre er beinahe gestürzt. „Siehst du irgendwo Klee wachsen?“, rief Odin gerade vom anderen Ende der Lichtung. „Versuch es mal dort!“ Statt nach Klee Ausschau zu halten – das hatte er bereits drei Mal getan und mittlerweile kam er sich vor, wie ein Schaf – blieb Laslow stehen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in den Wald vor ihm. Fichten ragten vor ihm auf, krumm und mit struppigen Ästen. Der Wind brummte zwischen ihnen. „Das hat keinen Sinn“, verkündete er. Irgendwo vor ihm knackte ein Ast und übertönte jedes Seufzen, dass Odin vielleicht für ihn übrig hatte. „Ein paar Schritte links von dir existiert ein weiterer Pfad, den du noch nicht beschritten hast“, drang Odins Stimme zu ihm. „Das hast du bei den letzten drei Runden auch schon gesagt.“ Dieses Mal seufzte Laslow, doch sicher übertönte der Wald auch das. „Diese drei Runden hattest du zuvor auch noch nicht beschritten.“ „Ich bin bereits im Zickzack für dich gelaufen, Odin“, erwiderte er. Die Fichten vor ihm wogen im Wind. „Sieh es ein. Wir sind zu weit nördlich.“ „Nur noch ein Versuch, Laslow.“ Das Gefühl, der Wald starre zurück, kroch seinen Nacken hinauf, doch er ließ sich nicht erweichen. „Außerdem bin ich keine Jungfrau.“ Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Eine Gänsehaut kroch über seine Arme. „Íñigo. Diese Mission-“ „Diese Mission ist Humbug. Das weißt du genauso gut, wie ich. Vermutlich hat Prinz Leo dich nur losgeschickt, weil er-“ Die Rest des Satzes erstickte in einem Keuchen. Es war nicht der Wald, der starrte. Es war ein ausgewachsener Bär. Das Tier verharrte reglos zwischen den Fichten, nur wenige Baumreihen vor ihm. Zwischen den Stämmen verschwamm er beinahe mit dem Wald. Er grollte. Laslow trat einen Schritt zurück. Die Kette zwischen seinen Beinen klirrte. Odin sagte irgendwas, doch er war viel zu weit weg- Der Bär tat einen Schritt vor. Er tastete nach dem Schwert an seiner Hand. Das Vieh war riesig. Braun und struppig und mit Krallen- Noch einen Schritt zurück. Noch einen Schritt vor. „B-braver B-b-bär …“ Zurück. Vor. Äste knackten. „F-f-fri-friss m-mich n-n-nicht?“ Zurück. Vor. „I-ich b-b-bin z-zäh! W-wirklich!“ Odin rief, irgendwas, zu weit weg- Der Bär grollte. Laslow sah die Anspannung in seinen Vorderbeinen, als er sich duckte. Er fragte nicht nach – er wirbelte herum und rannte. Versuchte zu rennen. Schreiend. Die Kette stoppte seinen Schritt. Laslow stolperte, fing sein Gleichgewicht nur mit Mühe, verkürzte seine Schritte, tippelte über Gras, Heidekraut, Äste. Hinter ihm brach das Vieh durchs Unterholz. Endlich schien Odin zu verstehen- Er kam bis zum nächsten Birkenstumpf. Laslow hörte es Knacken. Der nächste Schritt stoppte abrupt. Sein Gleichgewicht verabschiedete sich strauchelnd. Er sah sich fallen. Einen Moment war alles schwarz und grün und rosa, dann Schmerz in seinen Knien, Brennen in seinen Handgelenken- Er hob den Kopf, alles drehte sich. Die Vorahnung von Magie brach über ihn herein. Er duckte sich, hoffent in die richtige Richtung, Knistern, Donnern, Brüllen- Wieder sah er auf. Der Bär schüttelte sich. Verdammt. Er drückte sich hoch, schwankte, kniete, riss an der Kette, doch die Birke hielt stand. Zur Seite. Zur Seite- Eine Bärenpranke neben seinem Gesicht. Waldboden. Er spuckte. Dreck. Blut. Die Lippe schon wieder im Eimer. Odins Stimme. Seine Finger fanden sein Schwert. Ein Klirren füllte seine Ohren. Reflexe übernahmen. Auf. Schritt. Sprung. Abrollen. Ausfallschritt. Stich. Als sein Verstand wieder einsetzte, brannte alles. Seine Lippe, seine Arme, seine Lungen. Sterne tanzten vor seinen Augen. Blut rauschte in seinen Ohren. Schwerfällig atmete er ein, genauso schwerfällig wieder aus. Langsam verfolgte sein Blick seinen Schwertarm, sein Schwert, Fleisch, Fell. Der Bär verdrehte die Augen. Klauen vergruben sich in seinem Gambeson. Er zappelte, doch der Griff war stärker, zerrte- Er machte einen Schritt, zwei- Der Aufschlag war genauso hart, wie der letzte. Es presste ihm die Luft aus den Lungen. Hinter ihm dröhnte es, doch in seinen Ohren dröhnte es auch. „Íñigo?“ Er blinzelte. „Íñigo?“ Diese Stimme … „O-“ „Es tut mir leid! Es tut mir so leid! Ich bin ein verdammter Narr! Íñigo!“ Irgendwo zwischen dem Bedürfnis, Odin zuzustimmen und dem Drang, Odin zu erwürgen, hörte die Welt auf, sich zu drehen. Er blinzelte erneut. Blondes Haar drängte sich in sein Blickfeld. Graue Augen folgten. „Die Eisen haben sich gelöst.“ Odin hielt inne. „Du hast Prioritäten! Alles in Ordnung mit dir?“ Nichts war in Ordnung, aber das wussten sie beide. Laslow leckte sich über die Lippen. „Was ist mit dem Bären?“ „Den hast du abgestochen.“ Hatte er? … Oh, ja. Richtig. Hatte er. „Gut.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Geh deine Kräuter pflücken.“ „Íñigo.“ „Laslow.“ Seine Lippe brannte immer noch. Langsam kehrte auch das Gefühl in den Rest seines Körpers zurück. Seine Hand krampfte um den Schwertgriff. Zweige stachen in seinen Rücken. Sein Magen verkündete, jetzt sicher kein Dörrfleisch zu wollen. „Laslow. Gut. Laslow. Tut dir was weh?“ Er warf Odin einen Blick zu und zog dabei eine Augenbraue hoch. „Außer alles?“, fragte er, lächelnd. „Ja?“ „Nein.“ Er seufzte. Langsam löste er die Finger von seinem Schwertgriff. „Deine Kräuter verschwinden, wenn du sie nicht bald erntest, oder?“ „Ich sagte doch schon-“ „Odin.“ Laslow setzte sich auf und ließ seinen Blick gleiten. Odin starrte ihn immer noch an, die Augen weit aufgerissen, aber immerhin entschuldigte er sich nicht mehr. Grüne Schrammen hatten sich neben die Schlammspritzer auf seinen Umhang geschlichen. Hinter ihm erhob sich ein Berg aus Zottelfell und Blut. Irgendwann blieb sein Blick an seinen Beinen hängen. Seine Stiefel hatte es durchgescheuert. Er konnte die Risse sehen und bei einem der Löcher sogar die Haut darunter. Die Fußeisen lagen einen halben Meter weiter zwischen Heidekraut und Gras. Und dazwischen kleine Stängel mit kleinen, grünen Blättern an ihren Enden. Beinahe, wie Klee. Er runzelte die Stirn. Als Odin sich weiterhin nicht rührte, streckte er sich. Einen Augenblick später schlossen sich seine Finger um ein paar der Halme. Er spürte die Magie auf seiner Haut, angenehm, dieses Mal. Kein Vergleich zum Stern von Rigel – oder einer der übrigen Spielereien aus dem Hause des Finsteren Odin. „Du musst das nicht tun-“ Noch während Odin sprach, zog er an den Pflanzen. Widerstandslos gaben die Pflanzen nach. „Hier.“ Auffordernd hielt er seinem Freund die Kräuter hin. Zusammen mit ein paar Stängeln Heidekraut, das er mit erwischt hatte, sahen sie fast aus, wie ein Miniatur-Blumenstrauß. Odin sah immer noch aus, als wolle er protestieren. Trotzdem hob er die Hand. Beinahe ehrfürchtig nahm er das Sträußchen entgegen. „Es tut mir leid“, wiederholte er. „Ich bin ein Volltrottel.“ In Laslows Mundwinkeln zuckte es. „Wenigstens siehst du es ein“, entgegnete er. Dieses Mal war sein Lächeln echt. „Ich hoffe, du weißt, dass du dafür mit mir ausgehen musst.“ Odin öffnete den Mund. Kein Ton kam heraus. Stattdessen zog er die Stirn kraus. Erst jetzt verstand Laslow, was er da gesagt hatte. Augenblicklich vergrub er den Kopf zwischen seinen Knien. „Bei den Göttern“, sagte er zu den Grashalmen unter seinem Hintern. Leider tat sich der Boden darunter nicht auf, um ihn zu verschlucken. „Ich glaube, ich brauche ne Pause. Dringend.“ Das Schloss zur Seele --------------------- Odin erledigte den Löwenanteil der Arbeit. Er war es, der den Stern von Rigel hervor zog und eine alte, abgestorbene Fichte damit in ein knisterndes Feuer, ähm, detonierte. Und er war es auch, der einer der Bärenkeulen das Fell bis hoch zur Hüfte abzog, um ein paar dicke Steakscheiben aus dem Muskelfleisch zu schneiden. Zu zaubern. Zu – nein, er fragte nicht nach. Laslows Anteil an der Arbeit beschränkte sich darauf, den zweiten Winterumhang aus seinem Gepäck zu klauben und ihn zwischen ein paar Birken zu spannen. Und auch das tat er nur, weil erste, dicke Tropfen einen der typischen, eisigen Regenschauer Nohrs ankündigten. Danach ließ er sich neben das Feuer fallen und leckte seine Wunden. Dieses Mal hatte er keine Heiltränke. Oder vielleicht hatten sie welche, irgendwo zwischen Anthones Satteltaschen, doch die würde er nicht anrühren. Sie waren Beweismittel. Und mit Pech waren sie falsch etikettiert. Nein, es war keine gute Idee, sich an dem Zeug zu bedienen. Und so strich er statt mit einem getränkten Tuch nur mit seinen Fingern über seine Lippen. Die Haut brannte, wo sie aufgeplatzt war, doch immerhin blutete es nicht mehr. Und auch seine Hände hatte es nicht so schlimm erwischt, wie er zunächst befürchtet hatte. Seine Handschuhe hätten ihm sicher einen guten Dienst erwiesen, hätte er sie getragen, aber auch ohne ihren Schutz hatte er sich die Handflächen nur mäßig aufgeschürft. Die meisten Flecken waren Dreck. Bloß seine Stiefel, die waren unrettbar. Laslow hatte diese Stiefel gemocht. Ihr Leder war warm und weich, ideal für einen leichtfüßigen Kampfstil, der viel Wert auf Beinarbeit legte. Doch die Eisen hatten sich durch das Material gescheuert, als sei es kaum mehr als einfacher, dicht gewebter Stoff. Fasern waren gerissen und standen ab. An einigen Stellen klafften Risse. Wie Perlen auf einer Schnur zogen sie sich um seine Knöchel, die kleinsten von ihnen kaum größer als sein Ohrloch. Durch die größeren trat das Innenfutter nach außen. Probeweise steckte er einen Finger durch einen der Risse. Er tastete über Stoff, dann über Haut. Brennen antwortete. Laslow biss die Zähne zusammen. Zumindest war da kein Blut. Trotzdem zog er die Stiefel schließlich aus. Seine Vermutungen bestätigten sich. Seine Haut war gerötet, dort, wo die Eisen gesessen hatten. Die oberste Hautschicht über seinen Schienbeinen war aufgescheuert und ein paar Daumenbreit über seinem Hacken zeichneten sich Blasen ab. Der Rest des Weges würde unangenehm werden, aber nicht unmöglich. Das Knacken von Schritten im Unterholz kündete davon, dass Odin den Kampf mit der Bärenkeule entweder gewonnen oder aufgegeben hatte. Einen Augenblick später ließ sein Freund sich neben ihn fallen und war dabei so elegant wie ein Weizensack. „Wie schlimm ist es?“ Laslow zuckte mit den Achseln, während er ein paar Fusseln von seinem linken Schienbein pflückte. Vermutlich sollte er die Stellen verbinden, bevor sie sich wieder auf den Weg machten. Lässig schnipste er die letzte Fluse in die Flammen vor ihm. „Ich werd‘s überleben.“ In seinem Augenwinkel sah er seinen Begleiter nicken. Wortlos reichte Odin ihm einen der Stöcke, die er mitgebracht hatte. Immerhin. Er hatte den Zweig von seiner Rinde befreit, bevor er das Fleisch mit ihm aufgespießt hatte. Und auch beim Bärensteak selbst hatte er sich offenbar mehr Mühe gegeben, als unbedingt notwendig gewesen wäre. Die Scheibe war jedenfalls so gleichmäßig, wie er es sonst nur von Frederick gewöhnt war. Frederick. „Tsk“, sagte er. Neben ihm hob Odin die Augenbrauen. „Was bedrückt deine Seele, mein treuer Adlatus?“ „Können wir bei Laslow des azurblauen Himmels bleiben?“, erwiderte er, wartete allerdings nicht auf eine ernst gemeinte Antwort. „Ich habe nur an zuhause gedacht.“ „Oh.“ Bedächtig hielt Laslow sein Steak ans Feuer. Rauch kroch die Unterseite hinauf, bevor er sich über ihren Köpfen verlor. „Immer, wenn Vater Frederick jagen geschickt hat, hat der irgendwas angeschleppt. Nie Reh, nie Schwein, sondern immer irgendwas. Riesenschlangen. Ausgewachsene Greifen. Hey, erinnerst du dich an diesen abartig großen Grizzly?“ Ein Lächeln schlich sich wie von selbst auf seine Lippen. „Deine Mutter hat gequiekt, als sie das Vieh gesehen hat!“ Odin lachte leise. „Jeder, der noch alle Klingen beisammen hat, hat gequiekt, als er das Vieh gesehen hat, Kumpel. Der hat noch gezuckt, als er ihn abgelegt hat. Hätte Chrom fast den Schädel eingeschlagen, als er es anfassen wollte.“ „Hehe, ja. Dafür hat er am Ende drei Mal Nachschlag bekommen.“ „Pfft. Den hat er bekommen, weil sonst niemand Bär im Lager wollte.“ „Ist deine Scheibe deswegen nur halb so groß, wie meine?“ „Was?“, erwiderte Odin empört. „Du wagst, so schändlich von mir zu denken? Der Finstere Odin denkt nur an seine treuen Freunde! Du hast dir deine Portion heute für wahr verdient!“ Laslow zog eine Augenbraue hoch. „Wir haben mehr Bär, als wir werden essen können, Odin.“ „Aber nur halb so viel von diesem saftigen Hüftfleisch!“ „Es ist ein Bär, Odin, kein Kaninchen.“ Odin öffnete den Mund, doch Laslow winkte ab. Sein Blick glitt zurück zum Feuer und damit zu den Schlüsselkräutern, die Odin in sicherer Entfernung zum Trocknen ausgelegt hatte. Noch immer hingen ein paar Heideblüten zwischen dem Grün. „Sag mal“, begann er. Skeptisch sah er auf, gerade so weit, um das Gesicht seines Freundes im Augenwinkel sehen zu können. „Welches Tor sollen wir für deinen Herren überhaupt öffnen?“ Odin erwiderte seinen Blick, als habe er ihn gefragt, ob Wyvern sich in erster Linie von Karotten ernährten. „Das zu seiner Seele, natürlich!“ Laslow verschluckte sich an seiner eigenen Spucke. Statt seinem Gegenüber zu antworten, hustete er. Zwar spürte er Odins Hand auf seinem Rücken, doch das half nicht viel. Tränen traten in seine Augen. „Ich weiß, es ist eine gloriose Aufgabe, und dabei so nervenaufreibend und doch so ehrenvoll! Doch sei unbesorgt! Der Finstere Odin wird sie in Windeseile lösen!“ Ihm wären einige Worte für diese Aufgabe eingefallen, doch glorios gehörte genauso wenig dazu, wie ehrenvoll. Das war alles, aber ganz sicher nicht ehrenvoll. Ihre Väter hätten sie dafür … Wobei – nein. Chrom hätte sie dafür erschlagen. Bei Robin hingegen käme es darauf an, wie viel Zeit er zuvor mit Miriel verbracht hatte. Er röchelte noch einmal. „Was willst du mit seiner Seele?“, fragte er erstickt. Er versuchte, die Tränen aus seinen Augenwinkeln zu blinzeln. „Nicht ich! Milord selbst!“ Irritiert blickte Laslow auf. Die Tränen brannten immer noch in seinen Augenwinkeln, aber vielleicht war das mittlerweile auch nur noch der Rauch. Ja. Es auf den Rauch zu schieben war sicher besser, als zuzugeben, schon wieder zu heulen. Er hustete noch einmal. „Hat er die nicht schon? Ich meine, er ist schon er selbst, oder?“ „Oh, ja. Ja, natürlich ist er das! Und so hervorragend wie immer!“ „Wenn er sie hat, warum suchen wir einen Zugang zu ihr?“ „Weil es ihm nach sagenumwobenen Wissen dürstet, das ein uneingeweihter wie du kaum kennt.“ Langsam ließ das Kratzen in seiner Kehle nach – aber leider nur das. Das Bedürfnis, Odin zu schütteln, wuchs hingegen exponentiell an. „Übersetzung, Odin. Keine Kommas.“ Odin öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Es dauerte offenbar einen Moment, um all die Nebensätze und die überflüssigen Adverbien zu streichen. „Er wünscht den Namen seines Seelengefährten zu erfahren. Das Ritual, das ich in der Bibliothek fand, lässt ihn auf dem rechten Unterarm erscheinen.“ Spätestens jetzt war Laslow davor, Odin beim Umhang zu packen und den Blödsinn aus ihm heraus zu schütteln. Allein nur, er war zu baff. „Bitte was?“ „Bei Seelengefährten handelt es sich um zwei Menschen, deren Seelen das Schicksal durch einen mystischen Bund miteinander verwoben hat. Er befähigt die beiden Partner, eine Verbindung einzugehen, die jede alltägliche Liebschaft überstrahlt und die Raum und Zeit zu überdauern vermag!“ Laslow starrte, immer noch. Nur mühsam fand er seine Fähigkeit, seine Verzweiflung in Worte zu fassen, wieder. „Seelengefährten sind ein Ammenmädchen, das man kleinen Mädchen erzählt. Odin.“ „Prinz Leo ist überzeugt von ihrer Existenz.“ „Und kleinen Jungen“, fügte Laslow hinzu. Wobei – er glaubte nicht wirklich daran. Der Prinz hatte in vielerlei Hinsicht seine ganz eigene Ausstrahlung. Nur die eines naiven Kindes gehörte eher nicht dazu. Wahrscheinlicher war, dass diese Mission genauso motiviert war, wie die anderen zuvor. Mit Dunkelheit erfüllte Magnete. Goldene Krähen. Pah. „Über derlei Vorwürfe ist ein forschender Geist wie er erhaben“, behauptete Odin. „Er glaubt an die Existenz von Seelengefährten und vertraut auf mich, den seinen zu finden!“ „Vermutlich vertraut er vor allem darauf, dass du dich bloß stellst, Odin.“ Ihm war klar, dass er sich damit auf dünnes Eis begab, doch diese Worte zu sprechen, tat gut. „Ich meine, selbst wenn es so etwas wie Seelengefährten gäbe – was würde er damit wollen? Er wird sich seine Ehefrau kaum selbst suchen. Die wird sein Vater, der König, für ihn bestimmen. Vielleicht auch sein Bruder. Wenn er Glück hat, darf er sich aus einer Handvoll adeliger Damen aus Nohr oder Nestria diejenige mit den wenigsten Pickeln aussuchen, aber sonst? Denkst du nicht, es würde ihn frustrieren, seine Seelengefährtin zu kennen und gleichzeitig zu wissen, das er sie nie wird heiraten können? Das muss doch unheimlich deprimieren, oder nicht? Mich würde es deprimieren.“ Odin warf ihm einen skeptischen Blick zu. Laslow sah, wie es in seinen Augen funkelte. „Also willst du es nicht ausprobieren?“ „Was, warum ich?“ „Nun, dann wüsstest du wenigstens, auf welches Mädchen du dich mit deinen Einladungen zum Tee konzentrieren kannst.“ Laslow öffnete den Mund. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht kroch. Als wenn er sich auf irgendeines der Mädchen hätte konzentrieren wollen! Er sprach sie doch gar nicht dafür an, verdammt! Also nicht nur, zumindest. Und wenn er schon einen Namen auf seinem Unterarm tragen sollte, dann kam dafür nur ein Name in Betracht … „Ich glaube nicht an Seelengefährten, Odin“, würgte er hervor und den Gedankenfaden damit ab. „Also willst du es nicht ausprobieren?“ „Nein?“ „Fein! Dann demonstriere ich es dir eben an mir!“ Und das tat er …   ~ ♦ ~   Laslow hatte wenig Ahnung von Magie, doch selbst er war sich sicher, dass die Hälfte aller Bewegungen und mindestens drei Viertel aller Worte, die Odin in der letzten halben Stunde von sich gegeben hatte, vollkommen überflüssig waren. Er gähnte. Zunächst hatte er seine Zeit damit verbracht, seine Knöchel mit ein paar Bandagen, die er ganz unten in seinem Reisebündel gefunden hatte, zu umwickeln und seine Füße anschließend zurück in seine Stiefel zu zwängen. Anschließend hatte er Holz nachgelegt, die Bärensteaks gewendet und ihre Taschen ein weiteres Mal kontrolliert. Mittlerweile lagen die Bündel fein säuberlich aufgereiht vor dem Stamm der nächsten Fichte. Selbst die Bärensteaks waren beinahe durch. Seine Langeweile wuchs. Er hatte versucht, Odins Ritualen zu folgen, doch davon war ihm nur schwindelig geworden. Selbst den Stern von Rigel hatte er mittlerweile umfassend bewundert – oder zumindest die Klebung, mit der Odin die vier Donner-Folianten aneinander geleimt hatte – doch selbst die kunstvollste Klebung wusste nur für eine gewisse Zeit zu begeistern. Laslow gähnte erneut. Er spürte, wie seine Augenlider immer schwerer wurden. Seine Nacht war zu kurz gewesen, das spürte er jetzt. Auch die Kämpfe mit Anthone und später mit dem Bären hatten ihre Spuren hinterlassen. Langsam krochen auch sie ihm in die Glieder. Morgen würde er Muskelkater haben. Vielleicht auch schon nach der Pause, auch wenn das voraussetzte, das Odin sich sein Scheitern endlich eingestand. Ein Blick nach links, zu den Birken, zwischen denen Odin gerade die Geister der Dämmerungsdrachen beschwor, bot keinen Grund zur Hoffnung. Träge griff er nach Annas Wundersamem Permanent-Lidschatten – dem einzigen Gegenstand, den er nicht wieder eingepackt hatte. Im Nachhinein hätte er nicht einmal sagen können, warum er ihn nicht wieder eingepackt hatte. Vielleicht hatte er gehofft, das Tiegelchen würde ihm dabei helfen, sich zu erinnern, für wen er es überhaupt erworben hatte. Wenn dem so war, hoffte er wohl zu viel. Da waren Namen – viele Namen – doch langsam glaubte er, den Lidschatten nur gekauft zu haben, weil ihn die Verkäuferin so süß angelächelt hatte. Sie hatte viel geredet, über Magie, darüber, wie lieblich die Farbe aufgetragen aussehen würde, über das Mädchen, das sich glücklich schätzen konnte, einen so tollen Freund wie ihn zu haben. Laslow stockte. Wie viel Geld hatte er für den Tiegel überhaupt bezahlt? Der Impuls, nach seinem Soldbeutel zu greifen, erstarb, als er realisierte, dass er nichts mehr hörte. Das hieß – er hörte schon etwas. Hinter ihm knarzten die Kiefern und Wind rauschte in ihren Ästen. Das Feuer knisterte. Zu seiner rechten wies ihn ein mahlendes Geräusch darauf hin, dass Priscilla noch nicht aufgegeben hatte, zwischen dem absterbenden Gras die letzten, saftigen Halme herauszunaschen. Doch das war es nicht. Die finsteren Hände der Dämmerung fehlten. Die schwarzen Ödeme der Versuchung. Die Flüche des dunklen Ritters. Die- Eilig steckte Laslow den Lidschatten in seinen Stiefel. Keinen Augenblick zu spät. Laslow sah gerade noch rechtzeitig auf, um Odin dabei zuzusehen, wie er neben ihm auf den Hosenboden glitt. Die Bewegung hatte nicht viel theatralisches an sich. „Hast du‘s?“, fragte Laslow aus reiner Höflichkeit. Odin schüttelte den Kopf. Statt seine Antwort in Worte zu fassen, zeigte er ihm seine Unterarme. Er hatte die Armschoner abgenommen und die Ärmel hochgekrempelt. Eine Reihe feiner Linien zog sich wie die Adern eines Farns von seinen Fingerspitzen bis über seine Handgelenke, bevor sie sich in Verästelungen verloren. Blitznarben, wie er dank Miriels Unterricht wusste, vermutlich Nebenwirkungen des Sterns von Rigel. Sonst war da nichts. Kein Name. Keine Initialen. Nicht einmal ein Buchstabe. Plötzlich tat Odin ihm leid. Immerhin – wahrscheinlich war das das Ergebnis, auf das Prinz Leo mit seiner Missionsvergabe abgezielt hatte. Fair war es nicht. „Warum versuchst du es nicht noch einmal?“, fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen, von dem er zumindest hoffte, dass es aufmunternd wirkte. Odin jedoch lehnte sich nur gegen den Baumstamm in seinem Rücken. „Keine … überströmende Macht … mehr.“ „Ähm“, antwortete Laslow. „Dann … warte vielleicht einfach ab? Vielleicht braucht der Name einfach etwas Zeit, um zu erscheinen? Wie bei einem Bluterguss, vielleicht?“ „Vielleicht.“ Laslow schluckte. Kurzentschlossen griff er nach Odins Fleischspieß und zog ihn vom Feuer. Kaum bewegte er den Spieß, kroch der Geruch von Gegrilltem in seine Nase. Allein dabei lief ihm das Wasser im Munde zusammen. „Komm, iss erst einmal deinen Bären, okay?“, schlug er vor. Auffordernd wackelte er mit dem Spieß. Keine Reaktion. „Odin?“ Irritiert blickte Laslow auf. Odin erwiderte seinen Blick nicht. Tatsächlich sah Odin weder zu ihm, noch sonst irgendwohin. Seine Augenlider flatterten, schlossen sich dann ganz. Sein Kopf kippte nach hinten, gegen den Stamm, doch auch das störte ihn nicht. „… muss … tanken …“ „Odin? Wir müssen demnächst weiter“, warf er ein, auch wenn er sich nicht viele Hoffnungen machte. Tatsächlich kippte Odins Kopf noch während er sprach, nach hinten gegen den Stamm. „Hey! Odin?“ Leises Schnarchen antwortete ihm. Laslow seufzte. Vielleicht hatte sein Freund recht. Der Tag war bereits zu anstrengend gewesen. Sicher würden sie ihre Kraft noch brauchen, für den Rest der Strecke genauso wie für einen Kampf, sollte Anthone sie tatsächlich noch einholen. Und er war müde. Gedankenverloren biss er in Odins Bärensteak. Es war eines der besseren, die er bislang gegessen hatte. Frederick hatte die leidliche Eigenschaft, nicht nur die besonders großen Exemplare zu erlegen, sondern auch die besonders alten. Der hier war dagegen richtig saftig. Hatte er sich doch den richtigen Bären ausgesucht, um sich beinahe fressen zu lassen … Er schnaubte. Ja, natürlich. Selbst im Nachhinein war die Sache noch immer dämlich. Missmutig blickte er zu Odin. Seine Unterarme waren noch immer unbeschrieben. Natürlich waren sie das. Laslow nahm einen weiteren Bissen. Wenn dieses blöde Kraut wenigstens funktionieren würde. Was es nicht tat. Die übrigen Stängel, die, die Odin nicht für seine fruchtlosen Versuche geopfert hatte, lagen noch immer auf einem Stein neben dem Feuer. In dem leichten Luftzug, der vom Feuer aus über sie hinweg strich, wippten ihre Blätter leicht, so, als wollten sie sie verhöhnen. Vermutlich war es nur Klee. Stinknormaler, nohrischer Klee, der keine besonderen Eigenschaften hatte, außer der, große, finstere Magier an der Nase herumzuführen. Wobei. Sie hatten diese Fußschellen geöffnet, oder nicht? Sie sollten also auch bei anderen Schlössern funktionieren. Pfft. Vermutlich gab es das Schloss, von dem sein Kumpel so überzeugt war, einfach nicht. War doch eigentlich logisch. Keine Seelengefährten – kein Schloss zur Seele. Einfach, ja. Nur nicht sonderlich fair. Laslow schluckte den letzten Bissen. Den abgenagten Spieß warf er ins Feuer, ohne den Blick von Odins Unterarmen zu nehmen. Kein Name. Nur Blitznarben. Nur ändern konnte Laslow daran nichts. Das hieß … Der Gedanke formte sich, während er auch das zweite Steak von seinem Spieß nagte. Es war eine dumme Idee, wirklich. Vermutlich hatte er sie nur, weil er sich den Kopf heute schon einmal zu oft angeschlagen hatte. Und doch. Und doch … Mit jedem Bissen, den er nahm, überzeugte ihn die Idee mehr. Laslow kaute und schluckte. Ein letztes Mal leckte er sich über die Lippen, dann warf er auch den zweiten Spieß ins Feuer. Leise, um Odin nicht zu wecken, streckte er sich an seinem Freund vorbei und griff nach einem der verbliebenen Raskovnikstängel. In diesem Moment hätten sie auch normaler Klee sein können. Laslow brauchte keine magischen Eigenschaften. Er brauchte nur einen Lidschatten, der hundertprozentig und drei-Monate-sonst-Gold-zurück-garantiert hielt. In Indigo --------- Laslow blinzelte träge. Das Lächeln vor ihm verschwamm. Ein Teil seines Verstandes fragte sich, ob er eingeschlafen war, der andere, was ihn geweckt hatte. Einen Moment lang wollte Laslow nur wissen, wessen Lächeln es gewesen war, das er eben noch gesehen hatte – dann hörte er das Wiehern. Er stand, noch bevor er wirklich wach war, die Hand an seinem Schwert. Laslow blinzelte erneut, bewusst dieses Mal. Grün und Braun wurde zu Fichten und Gras, Rosa zu Heidekraut. Sein Blick glitt zu Priscilla. Die Stute reckte den Hals blähte die Nüstern. Ohne ihn zu beachten, starrte sie zwischen die Bäume – und plötzlich verstand er. Es war nicht ihr Wiehern gewesen. Da – es wieherte wieder. Dazwischen Hufschlag. Stimmen. „Mist!“, fluchte er, bereits in der Bewegung. Sein Blick glitt zu Odin, dann zu ihrem Lagerfeuer. Die Äste brannten nicht mehr, doch sie qualmten genug. Vielleicht hatte der Regen sie gelöscht, vielleicht hatte er auch länger gedöst, als er annahm. Es war auch egal. Er trat nach den Resten, mit wenig Erfolg. Auf der anderen Seite der Fichten verstummten die Stimmen. Verdammte Sch- „Odin!“, fauchte er, so laut, wie er sich traute. „Odin! Wach auf!“ Sein Augenlider flackerten. „… auffüllen … Macht … Hand …“ „Odin!“ Odin blinzelte. Ihre Blicke trafen sich nicht, vermutlich, weil Odin immer noch in irgendwelchen, magischen Kraftquellen schwamm. Laslow hielt sich nicht weiter damit auf. Er trat noch einmal nach den glimmenden Ästen. Sein Blick glitt über ihr Lager. Die Taschen konnten sie vorerst vergessen. Stattdessen stopfte er erst die verbliebenen Raskovnikstängel in seine Hosentasche und griff dann nach dem Stern von Rigel, der noch immer zwischen ihnen lag. „Huh?“, fragte sein Freund, aber es klang eher wie „Gute Nacht!“ „Wir haben Besuch!“, versuchte Laslow es erneut, erntete aber nur einen irritierten Blick. „Wir sind mitten im Wald, Íñigo.“ Laslow schnaubte, doch es war keine Zeit, um seinen Freund zu verbessern. Er warf ihm die aneinander geklebten Folianten zu. Odin fing sie nicht. Laslow erntete stattdessen einen dumpfen Aufschlag, als der Stern von Rigel Odins Brust traf, und einen dazu passenden Aufschrei. „Hey! Bei den Drachen! Íñi-Laslow! Was?“ „Gäste. Stern von Rigel. Jetzt.“ Endlich flackerte Erkenntnis in Odins Augen. Die Folianten an seine Brust gepresst, sprang er auf. Den Mund bereits zur nächsten Rede geöffnet, hielt er inne. Einen Moment lang lauschten sie beide. Der Hufschlag war, wie die Stimmen, verstummt. Dafür hörte Laslow das Knacken. Äste, die von ihren Stämmen gerissen wurden, Zweige, die brachen. In Ylisse war er Bogenritter gewesen, zumindest für eine Weile. Laslow kannte die Geräusche von Pferden, die durch Unterholz geführt wurden. Und er hörte sie hier. Odin und er tauschten einen Blick. In den Mundwinkeln seines Freundes zuckte es. „Nach den heftigsten Regenschauern vollbringt der Finstere Odin die mächtigsten aller kritischen Treffer“, verkündete er, überraschend leise, dieses Mal. Laslow antwortete mit einem Lächeln. Lautlos zog er die Klinge aus der Scheide an seinem Gürtel und deutete mit der anderen Hand auf die Fichten, die links von ihnen die Lichtung umschlossen. Ohne weitere Worte schlichen sie los.   Es dauerte nicht lange, bis sich seine Vermutungen bestätigten. Reiter. Drei Stück. Alle drei waren sie aus ihren Sätteln gestiegen. Laslow musste ihnen zugestehen, dass sie zumindest versuchten, durch das Unterholz zu schleichen. Ihr Erfolg dabei blieb bescheiden. Sie irrten mehr, als dass sie sich gezielt in eine Richtung bewegten. Vermutlich suchten sie immer noch nach der Rauchfahne, die sie vom Wegesrand gesehen haben mussten. Dabei knackten immer wieder Äste, wenn nicht unter den Hufen ihrer Reittiere, dann unter ihren eigenen Schritten. Und noch etwas fiel ihm auf: Zwei von ihnen führten Coursiers – Schlachtrösser, wie sie für die Reiterei der Königsgarde üblich waren. Das Pferd des Dritten jedoch war eindeutig Zelter. Ein prachtvolles Tier, soweit er das auf die Entfernung. sehen konnte, aber eben auch nur das. Ein Pferd für einen sanften Ritt, nicht für die Schlacht. Laslow musste nicht fragen, wem dieses Tier gehörte. Das Schlachtross seines Besitzers war noch immer an eine Birke gebunden und bewachte Satteltaschen. Ein Lächeln zog sich über seine Lippen. Reiter waren Fußtruppen gegenüber fast immer im Vorteil. Es gab nur wenige Ausnahmen. Kämpfe gegen verschanzte Magier gehörten dazu, genauso wie Gefechte im Wald. Beide dieser Ausnahmen hatten sie dieses Mal auf ihrer Seite – und Laslow war entschlossen, dafür zu sorgen, dass das auch so blieb. Ohne Worte austauschen zu müssen, suchten Odin und er hinter den nächsten, dickeren Baumstämmen Deckung. Laslow hob die linke Hand, gerade so dass sein Begleiter sie im Augenwinkel sehen konnte, sie aber hinter seiner Fichte verborgen blieb. Er streckte drei Finger aus und atmete ein letztes Mal tief durch. Sein Griff um sein Schwert wurde fester. Er knickte den ersten Finger ein. Sie hatten nur einen Versuch, doch mehr brauchten sie nicht. Der zweite Finger folgte. Laslow musste Odin nicht sehen, um zu wissen, dass er sich hinter seinem Stamm vorbereitete. Er senkte den Arm. Magie kribbelte in seinem Nacken. Es war der leiseste Volltreffer, den Laslow je erlebt hatte. Blitze stoben an ihm vorbei, trafen Bäume, Pferde, Reiter. Als der Donner krachte, war es längst zu spät. Schreie antworteten. Ein Rappe jagte an ihnen vorbei. Sie warteten nicht auf den Gegenschlag. Laslow preschte los, Odin folgte. Zweige brachen unter ihren Sohlen, doch die Tarnung war längst egal. Anthones Stimme blaffte durch den Wald, doch genauso gut hätte er Gaillarde tanzen können. Noch bevor irgendwer – und erst recht nicht die Gäule – auch nur einen seiner Befehle befolgte, erreichte Laslow den ersten Ritter. Eine Lanze stach mehrere Hand breit an ihm vorbei, ohne, dass er sich hätte ducken müssen. Auf den ersten Blick war ihm das Gesicht seines Gegners unbekannt, einen zweiten Blick gönnte er ihm nicht. Er holte aus. „Das wird dir nicht gefallen!“ Vielleicht hätte er mit seiner Lanze blocken können, doch die waberte noch immer links neben ihm. Der Schlag traf. Metall barst unter dem Hieb. Erst flogen Teile des Plattenpanzers, dann spritzte Blut. Ihm blieb keine Zeit, für einen genaueren Blick. Er spürte Anthones Angriff, bevor er kam. „Ich sehe alles!“ Anthones Schwert schnitt durch magisches Licht, dann durch ein paar am Boden liegende Äste. Die Kraft seines Hiebes verpuffte. Einen Moment lang starrten sie einander an. Anthone, das Schwert gesenkt, sein zweiter Begleiter ein paar Meter hinter ihm, Odin immer noch mit erhobener Hand. Laslow verneigte sich lächelnd, dann hob er sein Schwert. Erkenntnis dämmerte in Anthones Blick, als er die Klinge sah. Natürlich. Olivia. Wie passend. „Du wagst es-“ Sein Lächeln hielt. „Odin“, fragte er, „Wie wäre es mit Wechselschritt?“ Laslow spürte die Antwort in seinem Nacken. Sie grinste und sammelte ein paar tausend Volt. Er holte aus. Anthones Klinge klirrte unter seinem Hieb. Unter dem Konter tänzelte Laslow mit Leichtigkeit hinweg. Er trat zurück, einen Schritt nur, wartete, blockte. Keine Routine. Nicht dieses Mal. Hieb von rechts unten. Unter dem ersten Schlag ducken, den zweiten parieren. Klingen klirrten. Magie flog über sie hinweg, nicht der Stern von Rigel. War das Windmagie? Nein- In seinem Augenwinkel sah er ein Blitzen. Im letzten Moment riss sein Schwert hoch, ächzte unter der rohen Kraft, trat zurück, einen Schritt, parierte, noch einen- Seine Schultern protestierten, seine Handflächen brannten. Noch ein Hieb, noch ein Schritt, sein Fuß traf Holz, doch Laslow blickte nicht zurück. Er erahnte den Baum in seinem Rücken auch so, sah ihn förmlich in Anthones Blick, in seinem Grinsen. Laslow lächelte zurück. „Und, wer beißt jetzt?“ Langsam, so unmerklich wie möglich, tastete er nach hinten. Er konnte sehen, wie Anthone seinen Schwertarm anspannte. Wusste im gleichen Augenblick, dass er nicht auf eine Antwort warten würde. Nicht noch einmal. Laslow tat es auch nicht. Er stürzte vor. Nur ein paar Zentimeter fegte Anthones Schwert über seinen Scheitel hinweg. Nur um ein paar Zentimeter verfehlte Olivia den Spalt zwischen Brustpanzer und den Platten darunter. Stahl kreischte auf Stahl, dann war Laslow an ihm vorbei. Er sprang, drehte, täuschte an- Anthone schlug ins Leere. Sein Oberschenkel war frei. Sie wussten beide, was kam. Laslow nahm Ziel, holte aus, sah die Bewegung, dieses Mal, einen Schritt, eine Drehung- Im letzten Moment rammte er seine Klinge in den Boden. Den Rest erledigte Anthone. Stahl schnitt durch Leder, dann durch den Knochen darunter. Blut spritzte, auf seine Klinge, seine Knie. Anthone schrie, halb vor Schmerz, halb vor Verwunderung, doch Laslow hörte es kaum. Blut rauschte in seinen Ohren, Puls raste durch seine Adern. Mit einem Tritt beförderte er sein neues Stahlschwert hinter die nächstbeste Birke. Erst danach zog sein Schwert aus dem Boden. „Du!“ Laslow senkte die Klinge, gerade genug, um sie zwischen die Augen seines Gegners richten zu können. Er hörte die Drohung in seiner Stimme, doch sie wussten es beide. Dieses Mal gab es keine Drachenadern. Es war vorbei. „Du solltest ein paar neue Schritte lernen.“ Sein Gegner grollte, doch mehr, als seine Hände auf die Wunde zu drücken, blieb ihm nicht. „Galen?“, drang eine Stimme zu ihnen. Laslow konnte ihren Besitzer sehen, in seinem Augenwinkel. Schwarzer Plattenpanzer. Dunkler Umhang. Die Waffe, die er vor sich hob war weder ein Schwert noch ein Buch. Es sah mehr aus wie … ein Fächer, vielleicht? Nein, das war eine lächerliche Idee. Ohne sich umzudrehen, war es unmöglich, sie genauer zu bestimmen. Und Anthone den Rücken zuzudrehen war keine Option. „Kämpf weiter, du Idiot!“ Laslow musste nicht überlegen. Automatisch spannte er die seine Muskeln an, suchte nach dem nächsten Baum, der breit genug war, ihm Deckung zu geben, hatte die nächsten Schritte bereits im Kopf- Alles, was folgte, war ein dumpfer Aufschlag. Er klang ein wenig, wie Holz, das zwischen ein paar Zweige fiel. In seinem Augenwinkel hob der Ritter die Hände. Er schnaubte. „Galen“, hörte Laslow ihn sagen, „Hier gibt es nur ein Idioten. Und ich bin es nicht.“   ~ ♦ ~   Der Rest war einfach, aber anstrengend. Der Magier – Gavin oder zumindest stellte er sich so vor – ließ es ohne Protest über sich ergehen, das Odin ihm die Hände auf den Rücken zusammenband. Seine Begleiter fragten sie nicht. Den einen nicht, weil er zwar noch atmete, aber nicht viel mehr als das. Den anderen nicht weil es eine viel zu große Genugtuung war, ihn in Eisen zu sehen. Gut, es waren nur Fußeisen, die sie Anthone anlegten, für seine Hände musste sein Gürtel herhalten, doch an diesem Punkt nahm Laslow dankbar, was er bekam. Ohne, auf irgendwelche Befindlichkeiten zu achten, wuchteten sie ihn auf seinen eigenen Gaul – den Zelter, nicht Priscilla. Laslow würde es nicht zugeben, doch er mochte die Stute – wie einen besonders großen, besonders vulgären Sack Weizen. Das Pferd hatten sie, zusammen mit dem Gavins Coursier, unweit der Lichtung gefunden. Verschreckt und mit statisch aufgeladener Mähne, aber ansonsten unverletzt. Jegliche Beleidigung ignorierend, griff Laslow zuletzt nach ihrem Gepäck: beide Satteltaschen, Odins Kuriositätensäckchen und zu guter Letzt sein eigenes Bündel. Priscilla trug sie mit Fassung. Gerade, als er nach ihren Zügeln greifen wollte, hörte er Schritte hinter sich. Er wirbelte herum, doch es war nur Odin. Odin, der von einem Ohr zum anderen grinste. Und mit seinem Unterarm fuchtelte. Oh-oh. „Laslow des Azurblauen Himmels!“, verkündete er, seine Stimme hin- und hergerissen zwischen dem Drang, sich aufzuplustern und dem Wissen, dass ihre Begleiter ihn besser nicht hörten. „Die Magie des Finsteren Odin hat sich wieder bewiesen! Das Tor zur Seele steht offen!“ Gemeinsam starrten sie auf seinen Unterarm. Buchstaben, ein jeder von ihnen in einem tiefen Indigoblau, starrten zurück. Laslow schluckte. „Ähm“, antwortete er. „G-Glückwunsch?“ „Prinz Leo wird vor Begeisterung überschäumen! Sicher wird er auch den getreuen Adlatus des Finsteren Odin reichlich belohnen!“ Vermutlich hätten ihm Odins Worte und sein Tonfall diverse Dinge sagen können. Sagen sollen. Tatsächlich verkündeten sie in diesem Moment jedoch nur eines: Er war geliefert. Das Ende vom Lied ----------------- Laslow behielt recht – er war geliefert. Nur nicht aus dem Grund, den er zuvor angenommen hatte. „Ich sollte dich unter Arrest stellen.“ Mit jedem Wort seines Prinzen schrumpfte Laslow ein wenig mehr in sich zusammen. Er konnte Owain hören, irgendwo im Raum nebenan, doch das Mauerwerk war zu massiv, um mehr als Fetzen des Gesprächs – Monologs – zu ihnen dringen zu lassen. Er hätte Laslow ohnehin nicht retten können. Sie hatten sich noch im Innenhof der Festung erklärt. Prinz Xander hatte die Ritter der Königsgarde abführen lassen. Dann war alles zu schnell gegangen. Während Odin es geschafft hatte, seinen Prinzen dazu zu bringen, ihm in eines der Beratungszimmer zu folgen und ihn anzuhören, gewährte Prinz Xander ihm diesen Luxus nicht. Die Standpauke hielt er ihm mitten auf dem nächstbesten Flur. „Ich ging davon aus, meine Anweisungen seien unmissverständlich gewesen. Du musstest nichts weiter tun, als auf Schloss Krakenburg zu bleiben und auf den Diplomaten aus Cheve zu warten. Einen Brief solltest du entgegen nehmen. Und was tust du stattdessen?“ „Ich-“ „Du verlässt mitten in der Nacht das Schloss, um den Getreuen meines Bruders auf eine Mission zu begleiten, die ich nicht autorisiert habe.“ Laslow blickte nicht auf. Er wusste auch so, was ihn erwartete. Steile Zornesfalten. Entrüstung. Missbilligung. Und vor allem – weder Mitleid, noch Gnade. Für jemanden, der noch nicht einmal zwanzig war, wirkte der nohrische Kronprinz ziemlich einschüchternd. Jeglicher Versuch, ihn mit einem Lächeln zu besänftigen, erstickte daran, noch bevor er ihn zu Ende gedacht hatte. „J-ja, Milord.“ „Und als wäre das nicht genug, lässt du dich dabei beinahe umbringen. Zweimal.“ Er schluckte. „Dreimal, Milord.“ Einen Moment lang schwiegen sie beide. Laslow spürte den Blick, mit dem Xander ihn bedachte. Er war versucht, den Kopf einzuziehen, doch er wusste, das würde nichts bringen. Das hatte es schon bei Frederick und Miriel nie getan. „Dreimal“, wiederholte Prinz Xander frostig. „Ich verstehe, dass der Überfall im Händlerviertel euch unvorbereitet getroffen hat. Auch wenn ich der Meinung bin, dass ihr euch dessen angesichts der Uhrzeit und des Ortes hättet bewusst sein müssen.“ Der Protest lag ihm auf der Zunge. Er schluckte ihn hinunter. „Spätestens nach dem Abwenden der akuten Bedrohung wäre es deine Pflicht als mein Getreuer gewesen, zur Festung zurückzukehren und Hagen oder Iago Bericht zu erstatten. Deine Pflicht, Laslow.“ „Ja, Milord.“ „Stattdessen stehlt ihr dieses Pferd und verlasst die Stadt. Dachtest du wirklich, die Königsgarde wisse nicht, Beweise zu deuten?“ Er öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Leider wartete Prinz Xander dieses Mal auf eine Antwort. Laslow schluckte und erstickte dabei fast an dem Kloß in seinem Rachen. „Ich“, würgte Laslow hervor, „I-ich lag ziemlich lange im Schlamm, Milord.“ Prinz Xander antwortete nicht. Er starrte. „Ich – wir – gingen davon aus, dass nicht nur die Beweise relevant sind, sondern auch die Art und Weise, wie man die Begebenheiten erzählt, Milord.“ Laslow hörte, wie sein Gegenüber mit den Zähnen knirschte. Vorsichtig blickte er auf – bereute es aber noch im gleichen Moment. Die Miene seines Prinzen war so versteinert wie immer, wenn er dabei war, ihm verbal den Kopf abzureißen. „Selbst in diesem Fall hättet ihr den direkten Weg zu mir nehmen müssen. Dieses Abenteuer mit dem Bären-“ „Vollkommen unnötig, gewiss, Milord. Und lebensgefährlich.“ „Schön, dass wir zumindest in diesem Punkt übereinstimmen.“ Die Miene des Prinzen zeigte keinerlei Regung, die darauf schließen ließ, dass er tatsächlich irgendetwas daran schön fand. Oder auch nur erträglich. Nur sein Tonfall klang etwas weniger harsch – aber vielleicht bildete Laslow sich das auch nur ein. Er nickte. „Ja, Milord.“ „Ab sofort wirst du in meiner Nähe bleiben. Keine Ausflüge mitten in der Nacht. Keine Alleingänge. Keine Selbstmordkommandos. Ich dulde es nicht, einen Getreuen zu verlieren, Laslow. Hast du mich verstanden?“ „Ja, Milord!“ „Gut.“ Laslow atmete aus. Vor ihm tat Prinz Xander es ihm nach. Er schüttelte den Kopf, doch dieses Mal wirkte es es nicht missbilligend. Nur erschöpft. „Du bist dir bewusst, dass mein Bruder deinen Freund nur auf diese Missionen schickt, um ihn loszuwerden?“ Er sah auf. Ihre Blicke trafen sich, doch da war nichts in den Augen des Prinzen, aus dem er hätte lesen können. „J-ja, Milord.“ „Laslow.“ Er sackte in sich zusammen. „Jeder, der ein bisschen darüber nachdenkt, kommt darauf, Milord. Schwärme von goldenen Krähen? Magnete, die Dunkelheit anziehen? Seelengefährten? Alles Geschichten, die einem vielleicht eine Amme erzählt, aber doch kein seriöser Magier …“ „Und doch hat er das Ammenmärchen auch dieses Mal bewiesen.“ Laslow schnaubte. „Ja. Für drei Monate, vielleicht.“ Statt die Frage auszusprechen, hob Prinz Xander die Augenbrauen. Laslow öffnete seinen Mund, schloss ihn jedoch gleich darauf wieder. Ein Tiegel mit Lidschatten wechselte den Besitzer. Bevor Prinz Xander ihn schelten konnte – erneut schelten, zumindest – drang Odins Stimme durchs Mauerwerk. Lauter, dieses Mal. „… eine herausragende Frage“, verkündete sie, „der Finstere Odin wird sie sogleich ergründen!“ Die Tür flog auf, mit einem Elan, der sie beinahe aus den Angeln riss. „Laslow des azurblauen Himmels“, brach es über ihn herein, „warum ist es eigentlich dein Name, der auf meinem Handgelenk steht?“ Laslow schloss die Augen und zähle bis drei. Leider öffnete sich keine Drachenader unter ihm, die ihn für die nächsten drei Monate verschluckte. Stattdessen kroch ihm nur das altbekannte Brennen in die Wangen. Er schluckte. „Ähm … Odin“, antwortete er. Er öffnete die Augen, wenn auch nur, um hilfesuchend zu Prinz Xander zu blicken. „Ich, fürchte, der Moment ist gerade denkbar ungünstig. Milord war gerade dabei, mich für mein Fehlverhalten zu bestrafen. Nicht wahr, Milord?“ Er legte so viel Flehen in seine Stimme, wie ihm möglich war, ohne dabei loszuheulen. Einen Moment lang sahen sie einander an. Schließlich schüttelte sein Prinz den Kopf. „Oh, ich denke, das schaffst du dieses Mal ganz gut allein.“ „Aber Milord!“ Milord warf ihm einen letzten Blick zu. In seinen Augen funkelte es verdächtig. Doch bevor Laslow sich einen Reim auf diese Regung machen konnte, trat Prinz Xander an ihm vorbei. Ein leises Klicken ertönte noch, als er die Tür zu Leos Zimmer hinter sich schloss, dann war er mit Odin allein. „Also“, wiederholte er, weniger pompös, dieses Mal, „warum steht dein Name auf meinem Arm?“ Laslow schluckte. Er starrte zu der Tür, hinter der seine Rettung verschwunden war, doch auch das half ihm nicht. Odin musste nicht einmal weiter nachhaken. Die Stille zwischen ihnen war Frage genug. „Weil ich ihn dort hingeschrieben habe.“ Seine Stimme war so leise, er hörte sich selbst kaum. „Was-?“ „Du-“, er seufzte, „Du warst so enttäuscht, als deine Zauber keine Wirkung gezeigt haben. Da habe ich … du bist eingeschlafen … und ich- Du erinnerst dich an das Make-Up? Diesen Lidschatten, den ich versehentlich eingepackt habe? Ich- ich-“ Dieses Mal war es Odins Blick, der sich unter seine Haut bohrte. Da war kein Stern von Rigel. Da war nicht einmal diese hoshidische Schriftrolle, die sie Gavin abgenommen hatten. Trotzdem richteten sich die Härchen in seinem Nacken auf. „Aber warum?“ „Weil.“ Laslow atmete durch. Er konnte das. Nein, er konnte das nicht- Er- … Er gab sich einen mentalen Tritt. „Weil ich nicht will, dass irgendein anderer Name auf deinem Handgelenk steht. Ich weiß, das war falsch. Ich hätte viel früher was sagen sollen. Sagen müssen. Und ich hätte dir nicht einfach in deine Rituale fuschen dürfen, wo diese ganze Magie doch auch für dich noch neu ist. Ich meine, ich habe von Magie keine Ahnung. Davon nicht und von den Sitten in Nohr auch nicht. Ich habe ja nicht mal von den Sitten von Ylisse sonderlich viel Ahnung, also von denen vor dem Krieg. Und wenn man es genau nimmt, habe ich auch von Verabredungen keine Ahnung. Oder Beziehungen. Oder ... oder. ... Ich mache keinen Sinn, richtig?“ Schritte hallten im Flur wieder. Genau vier Stück, dann war Odin bei ihm. Nah. So nah, dass Laslow seinen Atmen auf seiner Wange spüren konnte, und seine Haare, die über seine Stirn strichen. „Nein, ich fürchte nicht“, hörte Laslow ihn sagen. Er spürte das schiefe Grinsen mehr, als das er es sah. „Aber weißt du was? Ich auch nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)