Herzenssache von Kunoichi (Wichtelgeschichte für DragomirPrincess) ================================================================================ Kapitel 1: Herzenssache ----------------------- ≫Das beim erwachsenen Menschen etwa faustgroße und ca. 300 g schwere Herz (Cor) ist die zentrale Pumpe des Kreislaufs.≪ Seine Augen brannten, der Nacken schmerzte und in der rechten Hand, die schon seit Stunden den Stift hielt, bahnte sich allmählich ein Krampf an. Midorima lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, streckte den Rücken durch und schob die Brille hoch, um sich die müden Augen zu reiben. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch im gegenüberliegenden Fenster starrte ihm bereits sein eigenes Spiegelbild entgegen – blass, grimmig und abgespannt. Die matte Lichtquelle der Schreibtischlampe reichte lediglich zur Beleuchtung seines Arbeitsplatzes, der Rest des Raumes lag im Halbdunkel. Seufzend rückte er die Brille zurecht und widmete sich wieder seinen Unterlagen. Die Fläche vor ihm war übersät mit Büchern, Notizheften, Kugelschreibern und Textmarkern, doch trotz der augenscheinlichen Unordnung hatte alles seinen festen Platz, genauso wie Midorima es am liebsten mochte. Einzig der zusammengefaltete, neongelbe Regenschirm, der ihm als heutiger Glücksbringer diente, wollte sich nicht so recht ins Bild einfügen. ≫Das Herz gliedert sich in zwei Teilsysteme, die linke und die rechte Herzhälfte. Jede der beiden Herzhälften hat zwei Innenräume: Einen kleinen, muskelschwachen Vorhof (Atrium) und eine Kammer (Ventrikel).≪ Ein plötzliches Klopfen an seiner Zimmertür ließ Midorima hochschrecken und ohne eine Antwort abzuwarten lugte schon der Kopf seiner Mutter vorsichtig um die Ecke. „Wir gehen jetzt los“, sagte sie. „Willst du wirklich nicht mit?“ „Nein“, entgegnete Midorima knapp, „ich muss lernen.“ Und wie zur Bestätigung vergrub er die Nase erneut in seinem Biologie-Buch. „Na gut, aber ich nehm mein Handy mit, falls du doch eine kleine Pause brauchst und nachkommen möchtest.“ „Hm.“ „Und mach dir mehr Licht an! Du verdirbst dir noch die Augen!“ Er hörte das leise Knarren der Tür und die unverständlichen Stimmen seiner Familie im Flur, dicht gefolgt vom Klacken der Haustür und einer anschließenden abrupten Stille. Mit dem Finger glitt Midorima über die letzten Zeilen, auf der Suche nach der Stelle, bei der er abgelenkt worden war. ≫Zwischen rechter und linker Herzhälfte liegt die Herzscheidewand (Septum cardiale), welche die beiden Herzhälften komplett voneinander trennt. Die Herzscheidewand gliedert sich in das Vorhofseptum zwischen den beiden Vorhöfen und das Kammerseptum zwischen linker und rechter Kammer.≪ Eine Abbildung in roten und blauen Farben stellte die schematische Funktionsweise des Organs dar und Midorima war gerade dabei, sie grob in seine Notizen zu übertragen, als ihn das Summen seines Handys störte, das neben ihm auf dem Tisch lag. Es war eine Nachricht von Takao – die zehnte, wenn man von diversen Haaaaallooooo‼‼!s und dem Spam, bestehend aus abertausenden Smileys, absah. Ungeachtet der SMS drehte Midorima das Display um und vervollständigte in aller Sorgfalt seine Skizze. Da konnte Takao noch so viel bitten und betteln: Nichts auf der Welt würde ihn dazu bringen, mit aufs Stadtfest zu kommen und sich dem Risiko auszusetzen, die morgige Aufnahmeprüfung zu verpatzen. Denn auch, wenn er gleich von mehreren Universitäten zum Eingangsexamen vorgeladen worden war, wollte er sich doch keine einzige Chance entgehen lassen. Er blätterte eine Seite um und setzte abermals zum Lesen an, als eine weitere Störung ihn unvermittelt aus der Konzentration riss. Diesmal war es die Türklingel. Missmutig stand Midorima auf und schlurfte aus seinem Zimmer in den Flur. Für Besuch war es eigentlich schon zu spät und er rechnete mit seiner jüngeren Schwester, die auf halben Weg zum Fest umgekehrt sein musste – vermutlich weil sie wieder irgendetwas Zuhause vergessen hatte. Doch der große Schatten hinter dem geriffelten Glas zerschlug seine Vorahnung und ebnete den Weg für eine neue, die noch nervtötender schien als die vorherige. Er sollte sie bestätigt sehen. „Yo, Shin-chan!“ Breit grinsend hob Takao die Hand zum Gruß und schwungvoll schlug Midorima ihm die Tür wieder vor der Nase zu. Ein gedämpfter Schwall aus Gejammer und Gezeter begleitete ihn in sein Zimmer, wo Takaos Stimme endlich versiegte. Zufrieden kehrte Midorima an seinen Schreibtisch zurück, nahm auf seinem Stuhl Platz und blickte geradewegs in Takaos Gesicht, das wie in einem schlechten Horrorfilm von außen an der Fensterscheibe klebte. „Das war gemein, Shin-chan!“, maulte er. „Wieso ignorierst du mich?“ Midorima widerstand dem ersten Impuls, einfach die Vorhänge zuzuziehen und öffnete stattdessen das Fenster – eigentlich bloß, um Takao zum wiederholten Male zu erklären, dass er für die Aufnahme zum Medizinstudium lernen müsse, doch er konnte gar nicht so schnell gucken, wie sein Freund ein Bein durch den Rahmen gesteckt hatte und, ein „Danke“ flötend, zu ihm hineingeklettert kam. „Also mal ehrlich“, sagte er, zog sich Jacke und Schuhe aus und machte es sich auf Midorimas Bett bequem. „Schlimm genug, dass du dich schon seit zwei Wochen verbarrikadierst, aber wenigstens zum Fest könntest du doch mal aus deiner Höhle herauskriechen!“ „Du weißt genau, dass das nicht geht“, knurrte Midorima ungehalten. „Ich muss lernen.“ „So ein Blödsinn, du kannst das alles!“, widersprach Takao. „Entspann dich mal! Hab etwas Spaß! Du weißt ja nicht, was dir entgeht! Es gibt unglaublich viele Buden auf der Festmeile mit den leckersten Sachen und Lichtershows und Musik und sogar unser altes Team ist da! Willst du die nicht alle mal wiedersehen?“ Was Takao da beschrieb, klang schon ziemlich verlockend, vor allem weil Midorima sein ehemaliges Basketballteam nicht mehr getroffen hatte, seit sie alle im Frühjahr von der Shuutoku High abgegangen waren. Doch er war viel zu gewissenhaft, um sich von solch einem Angebot verführen zu lassen. „Ich kann nicht.“ Er wandte Takao den Rücken zu und setzte sich wieder vor seine Bücher. In der Spiegelung des Fensters beobachtete er, wie sein Freund sich – anstatt unverrichteter Dinge von dannen zu ziehen – bäuchlings auf dem Bett ausstreckte, nach der Fernbedienung griff und den Fernseher einschaltete. „Gehst du nicht zurück zum Fest?“, fragte Midorima irritiert. „Ne, keine Lust mehr“, antwortete Takao und fischte eine angebrochene Tüte mit Knabberkram aus dem Geheimversteck, das Midorima eigens für die gierigen Hände seine Schwester angelegt hatte. „Hab’s mir gerade so gemütlich gemacht.“ Die Provokation war unübersehbar, aber sich reizen zu lassen oder schlussendlich sogar nachzugeben stand überhaupt nicht zur Debatte! ≫Zwischen Vorhöfen und Kammern liegen die segelartigen Atrio-Ventrikular-Klappen.≪ Das Flackern der Mattscheibe zuckte durch den fast düsteren Raum wie ein Gewitter bei Nacht. Der Moderator einer Spielshow kündigte lautstark eine Prominente an, während das Publikum mit donnerndem Applaus ihre Begeisterung kundtat. ≫Die Segelklappe zwischen linkem Vorhof und linker Kammer heißt Mitralklappe,≪ „Ich weiß gar nicht, warum die sie alle so anhimmeln“, beschwerte sich Takao und schob sich eine Handvoll Chips in den Mund. „Ihre Lieder sind doch der letzte Schrott.“ ≫die zwischen rechtem Vorhof und rechter Kammer Trikuspidalklappe.≪ „Ja ja, tu mal nicht so auf lieb und nett! Jeder weiß, wie du deine Fans behandelst!“ ≫Zwischen den Kammern und den großen Arterien befinden sich die aus taschenartigen Mulden bestehenden Taschenklappen,≪ „Hauptsache, die fängt nicht auch noch an zu singen!“ ≫links die Aortenklappe, rechts die Pulmonalklappe.≪ „Und dann auch noch ihr schlimmstes Lied! Ich flipp aus!“, plärrte Takao durchs Zimmer und Midorima spürte, wie der Stift in seiner Hand gefährlich zu zittern begann. Die Fernsehshow wurde von einem Werbeblock unterbrochen und irgendwo zwischen einem Spot über Hämorridencreme und der Reklame für Frühstücksflocken schallte aus Takaos Handy die Titelmusik eines aktuellen Animes. Midorima knallte seinen Stift auf den Tisch und drehte sich blitzartig zu ihm um, aber Takao hatte den Anruf bereits weggedrückt. „Sorry“, murmelte er mit seinem unschuldigsten Lächeln. „Wenn dir deine Zukunft egal ist, dann ist das allein deine Sache“, zischte Midorima. „Nur hör gefälligst auf, meine zu sabotieren!“ Er hatte nicht geschrien, doch die Schärfe in seinem Ton schien selbst Takao aufgefallen zu sein, denn er richtete sich langsam auf und ergriff dann Jacke und Schuhe. „Okay, hab’s kapiert“, versuchte er Midorima zu beschwichtigen, obwohl er die Belustigung über die wütende Miene seines Freundes nicht komplett verbergen konnte. „Ich hau schon ab. Kannst mir ja morgen mal schreiben, wie die Prüfung gelaufen ist! Auch wenn ich überhaupt nicht weiß, worüber du dir groß Sorgen machst.“ Mit einem Pfeifen auf den Lippen warf er sich die Jacke über die Schulter und stellte Midorimas Geduld noch ein letztes Mal auf die Probe, indem er sich alle Zeit der Welt ließ, bevor er durch Zimmer- und Haustür ins Freie verschwand. Genervt verriegelte Midorima hinter ihm das Schloss und machte sich daran, das Chaos aus Krümeln und zerwühlten Kissen zu beseitigen, das Takao auf seinem Bett hinterlassen hatte. Im Fernsehen krakeelten noch immer die Teilnehmer der Spielshow und er kramte zwischen den Laken nach der Fernbedienung, fand stattdessen jedoch nur das Handy von Takao. „Trottel“, wisperte er, schaltete den Fernseher am Gerät aus und genoss einen kurzen Augenblick der langersehnten Ruhe, ehe er erschöpft auf seinen Schreibtischstuhl sank. Auf dem Handy blinkte, gleich neben dem verpassten Anruf, der Anfang einer ungelesenen SMS, die erst vor wenigen Minuten eingegangen sein musste. Und noch bevor Midorima überhaupt realisierte, was er da tat, hatte er die ersten Zeilen bereits überflogen: Wo bist du? Geh doch bitte ans Telefon! Es tut mir so schrecklich leid, ich hätte dich nicht verraten sol- Um weiter zu lesen, hätte er das Display entsperren müssen, doch weder kannte Midorima das Passwort noch hatte er irgendein Interesse daran, Takaos Privatsphäre zu missachten. Er beschloss, ihm das Handy morgen nach der Prüfung vorbeizubringen, legte es an die Seite neben sein eigenes und beugte sich, den Stift im Anschlag, tief über sein Lehrbuch. ≫Ein Herzzyklus umfasst eine komplette Herzaktion vom Beginn der Systole (Kontraktionsphase des Herzmuskels) bis zum Ende der Diastole (Erschlaffungsphase des Herzmuskels).≪ Midorima hatte nicht ein einziges Wort davon verstanden. Er las den Satz noch ein zweites und sogar noch ein drittes und viertes Mal. Dann gab er es auf, schnappte sich Takaos Handy und betrachtete erneut die bruchstückhafte Mitteilung. Im Absender stand der Name seiner Schwester und Midorima fragte sich, ob Takao wohl einen Streit mit ihr gehabt hatte. Warum sonst nahm er auch ihre Anrufe nicht entgegen? Und womit hatte sie ihn bei wem verraten? Klang fast so, als habe sie ihn in irgendwelche Schwierigkeiten gebracht. Dabei hatte er ganz und gar nicht den Anschein gemacht, als würde ihn etwas bedrücken, sondern war so gut gelaunt gewesen wie eh und je. Nachdenklich legte Midorima den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zur holzvertäfelten Decke. Es war nicht leicht, es sich selbst einzugestehen, doch irgendwie tat es ihm plötzlich leid, Takao so achtlos hinausgeworfen zu haben. Nun war es ihm nicht mal mehr möglich, ihn anzurufen und zu fragen, was denn genau passiert war. Er schüttelte den Kopf, um sich von den wirren Gedanken zu befreien und seine Lehre fortzusetzen. Vielleicht war ja auch rein gar nichts passiert! Vielleicht war es bloß ein harmloser Streit unter Geschwistern, wie er in den besten Familien vorkam! Schließlich machte Midorima sich doch nicht etwa Sorgen um diesen Riesendepp! Oder etwa doch? ≫Herzfrequenz (HF, Herzschlagfrequenz, Schlagfrequenz): Anzahl der Herzschläge pro Min. Ohne körperliche Belastung beim gesunden Erwachsenen ca. 70/Min.≪ Das Lesen der schwarzen Schriftzeichen auf dem weißen Papier kam Midorima unglaublich mühselig vor und er merkte, wie er immer häufiger Wörter durchstreichen musste, bei denen er sich verschrieben hatte. ≫Schlagvolumen: Blutmenge, die eine Herzkammer pro Kontraktion auswirft; beim Erwachsenen 70-80 ml.≪ Gähnend riss er eine vollgeschriebene Seite aus seinem Block und sortierte sie auf einen separaten Stapel. Seine Lider waren schwer, aber er wollte es zumindest noch durch diesen einen Absatz schaffen. Und dann durch den nächsten. Und den nächsten. Und den nächsten. ≫Herzminutenvolumen (HMV, Herzzeitvolumen, HZV, Minutenvolumen, Cardiac output, CO): Blutmenge die das Herz… errechnet sich… erwachsenen Menschen… ohne… 4,5-5 l/Min…≪ Midorima erwachte jäh – das Gesicht auf der Tischplatte. Es mussten Stunden vergangen sein, seit er eingeschlafen war, denn offensichtlich war in der Zwischenzeit seine Mutter bei ihm gewesen. Sie hatte ihm die Brille abgenommen, eine Decke über seine Schultern gelegt und das Licht gelöscht. Aus dem angrenzenden Zimmer ertönte das dumpfe Schnarchen seines Vaters, obwohl Midorima niemanden hatte heimkommen hören. Orientierungslos tastete er nach seiner Brille und hätte sie vor Schreck beinahe zerbrochen, als er das sachte Klopfen vor ihm an der Fensterscheibe registrierte. Mit halbzusammengekniffenen Augen erkannte er die unscharfen Umrisse von Takao, der freudestrahlend eine Fernbedienung in die Luft hielt. „Kann das wahr sein…“, murrte Midorima, hievte sich verschlafen auf und öffnete das Fenster. Die kühle Nachtluft zog in einem Windstoß an ihm vorbei und er wickelte die Wolldecke fester um seinen frierenden Körper. „Shin-chaaan! Schau mal, was ich gefunden hab!“, rief Takao ein wenig zu begeistert und Midorima legte die Stirn in Falten. „Bist du betrunken?“, fragte er. „Ach was, kann nicht sein“, wehrte Takao mit einer Handbewegung ab. „Da war kaum Alkohol drin.“ „Wo drin?“ „In der Bar.“ „Was?“ „Ja okay, ich bin betrunken.“ Er wedelte blindlings mit der Fernbedienung umher und Midorima nahm sie ihm aus der Hand und tauschte sie kommentarlos gegen das vergessene Handy. „Takao, geht’s dir gut?“, erkundigte er sich mit unverhohlener Skepsis in der Stimme und beobachtete seinen Freund bei dem Versuch, das Handy an einer Stelle zu verstauen, wo seine Jacke überhaupt keine Tasche hatte. „Kommst du allein nach Hause?“ „Oh, aber ich geh nicht nach Hause“, sagte Takao schlicht, während er weiter erfolglos an seiner Kleidung herumfummelte. „Und wohin willst du dann?“ „Naja… mir wird schon was einfallen.“ Midorima war sich sicher, dass er seine Handlung noch bereuen würde – spätestens, wenn er in ein paar Stunden unausgeschlafen durchs Examen fiel – doch als Takao sich zum Gehen abwandte, hatte er auf einmal das drängende Gefühl, ihn aufhalten zu müssen. „Takao, warte!“, rief er und der Angesprochene hielt überrascht inne. „Wenn du nicht weißt, wo du heute Nacht hinkannst, dann bleib doch einfach erst mal hier.“ „Dein ernst?“, hakte Takao nach und Midorima nickte verdrossen. Er war schon im Begriff, das Fenster zu schließen, um ihn durch die Haustür einzulassen, da hatte Takao längst den Sims erklommen. „Du machst es einem wirklich nicht leicht“, klagte Midorima leise und packte ihn am Arm, damit er auch den anschließenden Einstieg sturzfrei hinter sich brachte. Takao ging darauf nicht ein – wahrscheinlich, weil er ihn entweder nicht richtig gehört oder nicht richtig verstanden hatte – und fragte stattdessen mit einer Unsicherheit, die man sonst aus seinem Mund überhaupt nicht gewohnt war: „Geht das auch wirklich in Ordnung? Ich dachte, du musst lernen?“ „Musste ich auch.“, entgegnete Midorima steif, bugsierte ihn quer durchs Zimmer und ließ ihn widerstandslos auf die Bettkante sacken. „Aber jetzt müsste ich eigentlich schlafen.“ „Oh, ist’s denn schon so spät? Ich hab gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist.“ Takao stützte sich mit den Ellenbogen auf die Knie und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. „Mist, ich muss nachher noch Zeitung austragen.“ „Das hättest du dir besser früher überlegt.“ Der Kleiderschrank knarzte, als Midorima eine Schublade öffnete, um für Takao saubere Wäsche herauszunehmen. Die Sachen würden ihm ein wenig zu groß sein, aber immer noch gemütlicher als die Straßenklamotten, in denen er gekommen war. „Na, halb so wild. Ich hab schon oft vor der Arbeit durchgemacht“, erklärte Takao. „Außerdem hat es sich gelohnt. Du hättest auch mitkommen sollen! Hast echt was verpasst! Wir sind über die Festmeile gelaufen und waren danach mit dem ganzen Team in einer Karaokebar und-“ „Umziehen!“, unterbrach Midorima ihn und breitete Shirt und Hose über seinem Kopf aus. „Ich hol dir mal Wasser, damit du wieder klar wirst.“ Er verließ den Raum, schlich auf Zehenspitzen in die Küche und füllte am Wasserhahn ein Glas ab. Die Stille der Wohnung wirkte erdrückend und wurde nur ab und zu durch einen Schnarcher seines Vaters und dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr über dem Esstisch unterbrochen. Sie zeigte halb drei. Midorima huschte zurück durch den dunklen Flur und atmete erst aus, nachdem die Zimmertür in seinem Rücken wieder geschlossen war. Takao hatte sich derweil seitwärts aufs Bett gelegt, war aber immerhin schon umgezogen. Im ersten Moment schien er zu schlafen, öffnete allerdings die Augen, als Midorima sich vorsichtig zu ihm ans Fußende setzte. „Ist dir schlecht?“, fragte er. „Nein, nur schwindelig.“ Für ein paar Minuten schwiegen beide, bis Takao erneut das Wort erhob und plötzlich mit ungewohnt ernster Stimme zu reden begann. „Shintaro“, sagte er und Midorima kam nicht umhin, sich zu wundern, mit seinem richtigen Vornamen angesprochen zu werden. War das je zuvor passiert? „Ich hab meine Aufnahmeprüfungen nicht gepackt“, fuhr Takao fort und Midorima schaute ihn verständnislos an. „Welche genau?“ „Keine.“ „Du bist überall durchgefallen?“ „Ja.“ „Dann kriegst du keinen Studienplatz?“ „Nein.“ Er wusste noch nicht, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde, aber Midorima gelangte allmählich zu einer Vermutung, weshalb Takao zurzeit nicht nach Hause gehen wollte. „Meine Eltern bestehen darauf, mich auf eine Universität im Ausland zu schicken“, sagte Takao und klang dabei so elend wie nie zuvor. „Irgendwo in Europa – keine Ahnung, wo. Mein Vater hat da scheinbar Kontakte.“ Midorima hatte den ganzen langen Tag damit verbracht, die Anatomie und Funktionsweise des menschlichen Herzes auswendig zu lernen, doch hatte keine Ahnung gehabt, dass das eigene Herz von einer Sekunde auf die andere dazu imstande war, so schnell zu rasen. „Europa?“, wiederholte er heiser und spürte, wie sein Mund ganz trocken wurde. „Das sind mindestens zehn Flugstunden von hier!“ Das Herz hämmerte ihm gegen den Brustkorb, als seien es Bolzenschüsse und der Schock über Takaos Nachricht wurde nur überwogen von der Tatsache, dass es ihn überhaupt so sehr schockierte. Midorima hatte sich nie Gedanken darum gemacht, wie es sein würde, Takao nicht mehr in seiner Nähe zu haben. Während der Schulzeit hatten sie sich fast täglich gesehen – oft selbst an den Wochenenden oder in den Ferien, wenn sie gemeinsam Training oder Spiele mit der Basketballmannschaft gehabt hatten. Doch auch seit dem Abgang von der Oberschule war nie mehr als eine Woche Funkstille zwischen ihnen gewesen. Und selbst wenn Midorima einen Platz fürs Medizinstudium in einer anderen Stadt angeboten bekäme, wären sie beide doch wenigstens noch innerhalb Japans und keine Weltreise voneinander entfernt. Hatte er sich etwa schon so sehr an die Anwesenheit von Takao gewöhnt, dass er ihn nicht mehr aus seinem Leben wegdenken konnte? Stumm senkte er den Blick, betrachtete das volle Wasserglas in seinen Händen und wartete, dass Takao weitersprach, doch er sagte nichts mehr und Midorima räusperte sich. „Und was willst du selbst?“, fragte er. „Ganz ehrlich…“ Takao seufzte schwer. „Wenn es nach mir ginge, würde ich viel lieber arbeiten gehen. Ich weiß sowieso nicht, was ich studieren soll. Außerdem will ich gar nicht weg von hier. Ich kenne dort doch niemanden. Und was ist, wenn ich die Sprache nicht kann? Das ist ein viel zu großer Schritt für mich – ich… ich hab echt Schiss davor.“ „Hast du das deinen Eltern erzählt?“ „Klar hab ich das. Aber sie hören mir ja nicht zu.“ Midorima fragte sich, wie lange Takao dieses Thema wohl schon mit sich herumtrug. Warum hatte er nie auch nur ein Sterbenswort davon gesagt? Warum täuschte er Fröhlichkeit vor, wenn ihm überhaupt nicht danach zumute war? Hatte er seine Probleme zuerst alleine lösen wollen, bevor er sie anderen anvertraute? Hatte er einfach nur Rücksicht nehmen wollen, um niemanden damit zu belasten? Oder waren die Dinge erst kürzlich eskaliert? Dann fiel ihm die halbgelesene SMS auf Takaos Handy wieder ein. „Deshalb also der Streit mit deiner Schwester“, mutmaßte er und Takao schien noch zu betrunken, als dass es ihn stutzig gemacht hätte, woher Midorima diese Information hatte. „Was? Ne, das ging um was anderes“, stellte er klar. „Wir hatten uns gezofft und sie war wütend auf mich und da ist ihr vor meinen Eltern was rausgerutscht, was die eigentlich gar nicht wissen sollten. Nichts mit der Schule.“ Midorima schaute verdutzt auf. „Was sonst?“ Schwerfällig stemmte Takao den Oberkörper hoch und bedeutete ihm mit dem Finger, dass er näher kommen sollte. „Das ist ein Geheimnis“, sagte er verschwörerisch und Midorima stellte das Trinkglas auf den Boden, stand vom Fußende des Bettes auf und rückte dichter an ihn heran. Takao legte ihm eine Hand in den Nacken, zog ihn zu sich hinunter und flüsterte: „Ich will nicht weg von dir.“ Wie eine elektrische Welle breitete sich ein kribbelndes Gefühl von seiner Magengegend über seine Gliedmaßen aus und jagte wohlige Schauer durch Midorimas kompletten Körper. War es normal, dass das Herz so in der Kehle pulsierte? Konnte es gesund sein, wenn man das Blut in den Ohren rauschen hörte? Warum hatte das Biologie-Buch nicht die passenden Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen parat? Zum Beispiel, wie man lernte, das eigene Herz zu verstehen? Ihre Gesichter waren einander so nah, dass Midorima Takaos warmen Atem auf seiner Haut spüren konnte und als ihre Lippen sich berührten, war es ein weicher und sanfter Kuss, der fast so unsicher endete, wie er begonnen hatte. Mit glühenden Wangen richtete Midorima sich wieder auf und eine ganze Zeit lang sahen er und Takao sich noch verlegen an, bevor er endlich ein gestammeltes „Wir sollten schlafen“ herausbrachte. „Gute Idee!“ Takaos Erleichterung, nach diesem Geständnis nicht doch nach Hause geschickt worden zu sein, schien beinahe greifbar. Hastig grub er die Decke unter seinem Körper hervor und zog sie sich mit viel zu viel Schwung bis unters Kinn. Dann rückte er an den Rand des Bettes, damit auch Midorima genug Platz zum Schlafen bekam. Durch einen halben Meter Abstand voneinander getrennt, lagen sich die beiden gegenüber und Midorima war fest davon überzeugt, in dieser Nacht kein Auge mehr zu tun zu können. Seine Gedanken sprangen ebenso hin und her wie die tausend Gummibälle in seinem Bauch und weder das eine noch das andere machte den Eindruck, als ob es sich alsbald beruhigen würde. Takao hatte die Lider geschlossen, doch seine schnelle Atmung verriet, dass auch er nicht schlief. Stück für Stück und Zentimeter für Zentimeter kroch Midorimas Hand langsam auf ihn zu, bis er ganz sacht seinen Arm streifte und im nächsten Moment Takaos Finger verschränkt in seinen lagen. Es waren nur noch wenige Stunden, bis die Sonne aufgehen und für sie beide den neuen Tag einläuten sollte. Sehr wenige Stunden, bis Takao aufstehen musste, um die Zeitungen auszuliefern. Ein paar Stunden mehr, bis Midorima in einer ausschweifenden Klausur beweisen wollte, dass er das Zeug dafür hatte, Medizin zu studieren. Und möglicherweise noch etliche Stunden mehr, bis beide bereit sein würden, über das zu Sprechen, was in dieser Nacht passiert war. Aber über eines war sich Midorima jetzt schon sicher: Er würde Takao sagen, dass er mit ihm gemeinsam an einer Lösung für seine Probleme arbeiten wolle. Er würde ihm sagen, dass er ebenso wenig auch von ihm weg sein wolle wie umgekehrt. Und natürlich würde er ihm auch sagen, dass es allein das Herz sein müsse, das am Ende seine Entscheidungen trifft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)