Daemon 2 von yazumi-chan (Akte Holland) ================================================================================ Kapitel 2 --------- Keine fünfzehn Minuten später erreichten Ida und ich ein heruntergekommenes Wohnhaus am Ende der Bolton Road. Einige der Fenster waren eingeschlagen, Putz bröckelte von den Wänden. Nirgends brannte Licht. Selbst die Straßenbeleuchtung schien schummriger. Was das Haus jedoch als Daemonenhort kennzeichnete, war der Streifen gelber Farbe, den jemand dick über die Tür gepinselt hatte, zusammen mit Absperrband und einem Aufkleber des Chiefs, der auf dem geriffelten Glas der Eingangstür pappte. Ich verzog das Gesicht. Rotten lagen nicht grundlos am untersten Ende der Beliebtheitsskala; das hohe Risiko wurde nur von Veteranen in Kauf genommen, die sonst keine andere Wahl hatten. Hinter der Absperrung stand ein junger Mann. Ich joggte näher, bis er mich entdeckte und sich von der Fassade abstieß, Ida dicht hinter mir. Sein dunkles Haar war in einem kleinen Pferdeschwanz in seinem Nacken zusammengefasst und dichter Bartstoppel bewucherte Kinn, Wangen und Hals. Er trug ausschließlich schwarz. „Sie sind der andere Hunter?“, fragte ich, als ich ihn erreichte. Er nickte knapp und reichte mir seine Hand. „Daniel Holland.“ „Raccoon Thynlee“, stellte ich mich vor. Bei meinem Namen horchte er auf, sagte jedoch nichts. „Kommt sonst noch jemand?“ Daniel schüttelte den Kopf. Er wirkte nicht sonderlich traurig über diese Tatsache. „Wir sind die Einzigen.“ Sein Blick glitt an mir vorbei zu Ida. Ich wusste nicht, ob er natürliche Sicht hatte, aber sehen konnte er sie. „Ein Dae“, stellte er trocken fest. Ida lächelte ihn verunsichert an. >Ich bin Ida. Daniel nickte langsam und streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin. Ida mimte ein Händeschütteln mit hellen Fingern, die durch seine hindurchglitten. „Du kannst mich Dan nennen“, informierte er sie. Dann, an mich gewandt, „Ist sie immer so weiß?“ Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. „Sie ist launisch. Ida, wenn du etwas mehr Substanz annehmen könntest, wäre das super.“ Ida nickte, schloss die Augen und ich sah dabei zu, wie ihr Farbton von milchig weiß zu rauchgrau wechselte. Daniel runzelte die Stirn, doch wie zuvor kommentierte er das Geschehen nicht. „Hatten Sie es schon mal mit einer Rotte zu tun?“, fragte er, während wir uns unter dem Absperrband durchduckten. Ein Schrei. Gelbe Fußabdrücke. Blut, das von Fingerspitzen tropfte. Ich unterdrückte die unliebsame Erinnerung und nickte. „Wir müssen immer unseren Rücken freihalten“, sagte er. Ich nickte und widmete meine Aufmerksamkeit dem Flachmann an seinem Gürtel. Er schien mir nicht der Typ Hunter, der betrunken zu einem Auftrag auftauchte, aber was er sonst darin lagerte, war mir ein Rätsel. Daniel schloss die Eingangstür auf und drückte sie vorsichtig mit der Schulter nach innen. Wir schlüpften durch den entstandenen Spalt und bewegten uns lautlos über die Fliesen zum Treppenhaus, vorbei an den Briefkästen, die an der Wand hingen. Aus den oberen Stockwerken drangen gedämpftes Kreischen und das Quietschen einer alten Tür zu uns herunter. Abschätzend schielte ich zur Decke. Wir waren noch nicht mal in Sichtweite und trotzdem hämmerte mein Herz bereits viel zu schnell. Ich hasste mich dafür, dass allein der Gedanke an eine Rotte mir so übel mitspielte. „Unglückliche Sache, das hier“, flüsterte Daniel ungefragt, während wir uns durch die Dunkelheit vortasteten und die Stufen erklommen. Ich war ihm dankbar, dass er die Stille für mich brach. „Der Chief wollte das Gebäude ursprünglich abreißen, weil das Risiko der Infiltration zu hoch war, doch der Käufer des Grundstücks hat in letzter Sekunde abgesagt und sie haben das Vorhaben abgebrochen.“ „Einige der Gebäude waren markiert, obwohl die Absperrung fehlte“, sagte ich, als ich mich an meine Ankunft erinnerte. Die gelbe Farbe leuchtete in der Dunkelheit wie ein Mahnmal von den Türen. „Sind die Horte alle schon exzidiert?“ Ein Schmunzeln schlich sich auf Daniels Züge, als er an mir vorbei die Treppe emporstieg. „Ich hatte hier die letzten Wochen viel zu tun“, gestand er. „Dieses Viertel des Distrikts liegt nahe an der Grenze, da kommt es immer wieder zu Rottenbildungen.“ „In welchem Stadium befindet sich diese hier?“, fragte ich und kniff die Augen zusammen, um die neongelben Daemonenspuren auszumachen, die den oberen Teil des Treppenhauses bevölkerten. Ungewollt stieg mir der Geruch ungewaschener Körper und rostigen Eisens in die Nase. „Die Infiltration kann erst vor wenigen Tagen passiert sein“, erklärte Daniel. „Expansion also“, murmelte ich. „Zumindest eine gute Nachricht.“ „Bislang hat der Chief immer schnell gehandelt. In den letzten Jahren hat er große Verluste gemacht. Er will sicher vermeiden, noch einen Stadtteil an die Biester zu verlieren. Wenn es so weiter geht, wird das hier bald alles Ödland sein.“ Ida schwebte über mich hinweg und sah sich staunend um. >Was heißt Expansion? „Dass es dort oben von Daemonen nur so wimmelt“, sagte ich und nahm die letzten zwei Treppenstufen auf einmal, bevor ich mich abrupt an die Wand presste, Hände übereinandergelegt vor mich haltend. Nichts. Der Flur war leer. Ich atmete erleichtert auf. „Immerhin haben sie noch nicht angefangen, sich gegenseitig aufzufressen. Sag mal, Daniel, wie viele von diesen Aufträgen hast du schon unter dem Gürtel?“ Er zuckte die Schultern und trat an mir vorbei in den kleinen Flur. „Habe aufgehört zu zählen. Sagen wir einfach, dass ich in den letzten zehn Jahren mehr Rotten exzidiert habe, als gesund ist.“ Ich schnaubte. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand schwang quietschend auf und zwei Daemonen sprangen schrill kreischend auf uns zu. „Depulsio!“, schrie ich automatisch. Die gebogenen Krallen schrammten wirkungslos über meine Haut und hinterließen nichts als einen kalten Lufthauch. Ida fauchte und rammte den größeren der beiden zur Seite. Sie drückte sich fest gegen seinen Körper und verschmolz halb mit ihm, bis die beiden nicht mehr auseinanderzuhalten waren. Bevor ich mir Sorgen um sie machen konnte, setzte der kleinere der beiden zum Sprung an. Meine Hände flogen in seine Richtung. „Manere“, befahl ich und sah zufrieden dabei zu, wie der Daemon in der Bewegung verharrte und mich hasserfüllt aus seinen glühenden Glubschaugen fixierte. Daniel nickte mir zu. „Du hast hier alles unter Kontrolle, wie ich sehe. Ich nehme den zweiten Stock.“ Mit wippendem Pferdeschwanz verschwand er die Treppe hinauf. Von oben ertönte ein Poltern und Kreischen. Es hatte begonnen. Während Ida ihren Daemon weiterhin in Schach hielt, ging ich auf meinen eigenen Gegner zu, Hände auf seinen Brustkorb gerichtet. Für einen Winzling wie diesen sollte ein lineares Muster genügen. Ich wählte eine Kombination mittlerer Kategorie. „Deficere, Decedere, Occidere“, sagte ich deutlich und sah dabei zu, wie schwarze Rauchschwaden von dem sich windenden Daemon aufstiegen und sich wie Gewitterwolken unter der Decke sammelten. „Manere.“ Fixierungsschlüssel. „Deficere, Decedere, Occidere.“ Wiederholung der linearen Kombination. Ich machte den letzten Schritt vor, legte meine Hand auf seine Stirn und beendete das Muster mit dem Exzisionsschlüssel der dritten Kategorie, „Supplicium.“ Der Daemon fiel in sich zusammen. Ich richtete mich gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Ida gegen eine Wand geschleudert wurde und halb hindurch glitt. Ihr Daemon hatte sich aus der Umklammerung befreit und raste nun wie ein tollwütiger Hund auf mich zu. Mit einem Hechtsprung wich ich zur Seite aus, rollte mich ab und kam im selben Moment wieder auf die Füße. „Sidere.“ Der Daemon kreischte, kämpfte gegen die Fixierung an, doch außer einigen Zentimetern konnte er sich nicht bewegen. „Abire, Deficere, Decedere, Occidere“, sagte ich atemlos. Die aufsteigende Reihe der trigonalen Schwächung brannte auf meiner Zunge. „Decedere, Deficere, Abire.“ Wieder schrie der Daemon, als die absteigende Reihe das Muster vollendete, und riss an seinen unsichtbaren Fesseln. Diesmal durchbrach er sie und schoss auf mich zu. Ida warf sich dazwischen und umschwirrte ihn mit plötzlichen Attacken auf seinen Körper. Irritiert bremste der Daemon. „Sidere“, wiederholte ich. „Deficere, Decedere, Occidere. Deficere, Decedere, Occidere.“ Das lineare Muster traf ihn zweimal kurz hintereinander. Jaulend ging der Daemon zu Boden, krümmte und wand sich, während Ida wie von der Tarantel gestochen durch den Flur schoss und nach dem nächsten Gegner Ausschau hielt. Ich hielt mich nicht lange mit Fixierungen auf. Die Mischung aus trigonaler und linearer Schwächung hatte genug Schaden angerichtet, um ihn für‘s erste lahmzulegen. Meine Hand packte zielsicher die schwarze, geleeartige Masse seiner Stirn. „Mors“, sagte ich laut und sah zu, wie die Augen des Daemons nach außen gedrückt wurden und sein dunkler Körper zerfiel. Vorsichtshalber trat ich nacheinander die beiden anderen Türen ein, folgte dem Flur und spähte in die Räume. Kein frisches Gelb weit und breit. Dafür die Leichen eines Pärchens, das im Wohnzimmer lag, der Teppich unter ihm blutgetränkt, die stinkenden Körper mit Bissen übersät. Der Geschmack von Galle füllte meine Kehle, doch ich hielt mich nicht lange genug auf, um mir die Gesichter einzuprägen und mein langjähriges Training drängte die aufsteigenden Erinnerungen vorerst zurück. Ich trat zurück auf den Flur des Wohnhauses. Ein kurzer Blick zu Ida bestätigte meine Vermutung. Ihre Wohnung war ebenfalls leer. Der erste Stock war gesichert. Gemeinsam rauschten wir hinauf ins zweite Obergeschoss, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, wo Daniel gerade einen fetten Daemon schwächte, während zwei weitere vor einer aufgebrochenen Tür standen und allem Anschein nach fixiert waren. „Ich links, du rechts.“ >Geht klar. Eingespielt, wie wir inzwischen waren, dauerte es nur wenige Minuten, bis ich auch Idas Daemon exzidiert hatte. Hinter mir war Daniel ebenfalls mit seinem Gegner fertig. Die Luft stank nach faulen Eiern und dichter Rauch verschleierte die Sicht. „Wie viele Stockwerke noch?“, fragte ich. „Fünf.“ Ich stöhnte.  Nachdem alle Wohnungen gesichert waren, erklommen wir zu dritt das Treppenhaus. Mein Hals tat bereits weh und das Kreischen von oben war mit der Zeit lauter geworden. Allmählich fragte ich mich, ob die Eskalation der Rotte nicht vielleicht doch bereits im Gange war. Ida schoss an mir vorbei und flog rückwärts die Treppen empor. >Also mir macht es Spaß! „Du bist ja auch nicht normal“, murmelte ich gutmütig und trat in den Flur des dritten Stockwerks. Neben mir blieb Daniel stehen. Ich folgte seinem Beispiel und schluckte schwer. Auf den Fliesen hockte ein Daemon und biss große Stücke aus dem formlosen Körper unter sich, der wimmernd Rauch absonderte und mit den dürren Gliedmaßen zuckte. Der Gestank war so unerträglich, dass ich unwillkürlich eine Hand vor meine Nase drückte. Ida flog unbeirrt weiter rückwärts. Erst, als sie unsere Blicke bemerkte, drehte sie sich um und schwirrte erschrocken unter die Decke. Von dort betrachtete sie das Geschehen mit beklommener Miene. Ich konnte es ihr nicht verübeln. „Gottverdammte Scheiße“, fluchte ich und hob beide Hände, während ich durch den Mund atmete, um dem Gestank zu entgehen. Rotten in der Eskalationsphase waren nie schön mitanzusehen und von der Menge an Rauch zu schließen, hatte dieses Exemplar schon eine ganze Handvoll seiner Artgenossen verschlungen. Ich wollte nicht wissen, wie stark es bereits war. „Wir müssen uns zurückziehen. Ohne Verstärkung haben wir keine Chance. Daniel, hörst du mir zu?“ Daniel machte einen Schritt auf den Daemon zu, der das letzte bisschen Kopf verschlang und merklich anschwoll, bevor er die Masse in seine eigene integrierte und wieder normale Form annahm. Misstrauisch beobachtete ich, wie Daniel die Hände sinken ließ. Dann drehte er sich plötzlich zu mir um. „Raccoon, Ida, ich darf vorstellen: das ist mein Bruder, Isaac.“ Ich starrte ihn an. Isaac richtete sich stumm auf und starrte ausdruckslos zurück. Seine schwarze Farbe nahm kaum merklich ab, gerade genug, um mich davon zu überzeugen, dass er in der Tat kein Daemon war. Er hatte die Gestalt eines Jungen, elf oder zwölf Jahre alt, mit kinnlangem Haar und einer Stupsnase. Trotz seiner tiefgrauen Färbung war die Ähnlichkeit zu Daniel verblüffend. Ida zeigte sich, wie so oft, begeistert. >Er ist ein Dae? So wie ich? Ich konnte nur nicken. Plötzlich fragte ich mich, wie viele Daemonen Daniels Bruder schon gefressen hatte. Isaac legte den Kopf schief, während er Ida betrachtete, die langsam von der Decke herabschwirrte. Sie wollte gerade etwas sagen, da wandte er den Blick ab und widmete sich Daniel. »Stockwerke vier bis sieben sind gesichert. „Warst du schon in den Wohnungen hier?“ »Noch nicht. >Hey! Ida schwebte direkt vor Isaac, der überrascht zurückwich. Sie streckte ihm ihre Hand hin. >Ich bin Ida. Isaac ignorierte die Hand und starrte sie stattdessen an. Dann sah er zu Daniel zurück. »Nehmen wir sie mit? Sein Tonfall gefiel mir ganz und gar nicht. „Was soll das heißen?“, fragte ich und machte einen Schritt vor. Ida spürte mein Misstrauen, wurde dunkler und schoss hinter meinen Rücken. „Hier nimmt niemand irgendwen mit, nur damit das klar ist.“ Daniel hob beschwichtigend die Hände. „So meinte er das nicht.“ „Wie meinte er es denn?“, fragte ich bissig. Dan seufzte. „Mein Vater, Arnold Holland, hat ein besonderes Interesse an Huntern, die mit Dae zusammenarbeiten, seit mein Bruder einer wurde. Er würde Ida und dich sicher gerne kennenlernen. Er hat ein Anwesen, gleich an der nördlichen Grenze.“ Skeptisch hob ich die Augenbrauen. Ein Anwesen? Nach Geldproblemen bei Dan klang das nicht gerade. Waren Rottenexzisionen sein Hobby oder war er einfach nur lebensmüde? „Darüber können wir und später unterhalten“, sagte ich. „Lasst uns den Job schnell hinter uns bringen. Ich bin hundemüde.“ Ida, die nie schlief, streckte mir im Vorbeifliegen die Zunge heraus, wurde schneeweiß und huschte durch die geschlossene Wohnungstür. Gemeinsam mit Daniel brach ich die Tür auf und stolperte in den kleinen Hausflur. Kaum waren wir drinnen, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Gelbe Spuren führten in alle Räume, überlagerten sich in unterschiedlichen Intensitäten und reichten an manchen Stellen bis an die Decke. Ida schwirrte voran und verschwand in einem kleinen Raum. Daniel überholte mich und ging vor, Arme erhoben, Isaac dicht dahinter. Ich stand wie angewurzelt da und wusste nicht, was los war. War es der Geruch von trockenem Blut? Das leise Plärren des Radios? Ich fühlte mich gewaltsam in mein altes Zuhause bei den Thynlees zurückversetzt. Mit wackligen Schritten ging ich weiter. Ida kehrte kopfschüttelnd aus ihrem Raum zurück, Daniel und Isaac hatten bereits das Zimmer gewechselt. Ich nahm den letzten, unbesetzten Raum unter die Lupe. Schlafzimmer. Gelbe Fußspuren bevölkerten Bett, Kleiderschrank und Dielen so dicht, dass ich kaum erkennen konnte, wo sie begannen oder aufhörten. Vorsichtig trat ich an das Bett heran und hob die herabhängende Decke mit dem Fuß hoch, während ich die Hände vorgestreckt hielt. Plötzlich hörte ich ein Poltern und Idas schrillen Schrei. Sicher, dass ihr etwas zugestoßen war, fuhr ich herum und fand mich Auge in Auge mit dem Daemon wieder, der sich im Schrank versteckt hatte und mit geballter Kraft in mein Gesicht sprang. „SIDERE!“ Der Daemon krachte in die Dielen, die unter seiner Masse und der Wucht des Fixierungsschlüssels splitterten. Ida raste auf mich zu. Ich warf ihr ein schnelles Lächeln zu, um sie zu beruhigen. Der Daemon nutzte den Moment und vergrub seine Zähne in meinem nackten Knöchel. Ich spürte das Daemonengift als Kälte, die sich rasend schnell durch mein Bein fraß, die Wade hoch, das Knie entlang und hinauf in meinen Oberschenkel. >DAN, HILFE! Ida war da, rabenschwarz, und flog wie ein Pfeil auf den Daemon zu, der von der Wucht des Aufpralls gegen die Wand geschleudert wurde. Nebel legte sich um meine Gedanken, während ich Ida dabei zusah, wie ihre Augen sich gelb färbten, sie auf alle Viere sank und sich mit aufgerissenem Maul auf den Daemon stürzte. Ich rutschte zu Boden. Plötzlich war Daniel zur Stelle, den ausgezogenen Gürtel in der Hand. Durch einen Schleier sah ich, wie er das Leder um mein Bein schnürte, kurz vor dem Saum meiner Shorts, das schwarze Gift in meinen Adern pulsierend. Er förderte ein Taschenmesser zu Tage und ritzte kleine Schnitte entlang der dunklen Linie, die sich von meinem Knöchel hinauf zur Innenseite meines Schenkels schlängelte. Mit geübten Bewegungen schraubte er den Flachmann auf und kippte eine nach Essig stinkende Flüssigkeit in die Schnitte. Zischend krallte ich die Finger zu Fäusten, bis meine Nägel sich in meine Handflächen bohrten. Die schwarze Linie verlor an Farbe. Daniel beugte sich herab und begann, das Gift aus meinem Knöchel zu saugen und neben sich auf den Boden zu spucken. Als er meinen Oberschenkel erreicht hatte, stand mir der Schweiß auf der Stirn. Mir war speiübel. Im Hintergrund versenkte Ida ihre Zähne im Genick des Daemons und riss seinen Kopf ab, bevor sie den Rest verschlang. Isaac schwebte daneben, sichtlich angetan. Nach endlosen Minuten ließ Daniel sich auf seine Hacken zurücksinken und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ich starrte auf mein Bein. Die dunkle Linie war nur noch schwach zu erkennen, stattdessen blutete ich aus den kleinen Schnitten, um die sich bereits mundförmige Blutergüsse bildeten. Mein Blick wanderte zu den dunklen Glibberflecken, die Daniel auf die Dielen gespuckt hatte und mein Magen drehte sich um. Ich wand mich zur Seite und übergab mich neben das Bett. Ida war sofort an meiner Seite. >Coon, geht es dir gut? Tut es weh? „Alles in Ordnung“, presste ich hervor und wünschte mir nichts sehnlicher, als ein Glas Wasser. Oder im Erdboden zu versinken. Beide Alternativen erschienen mir fantastisch. Ida sah mich besorgt an und strich beruhigend mit einer kühlen Hand über meine Wange. „Danke“, sagte ich, ohne aufzusehen. „Wie ein verdammter Anfänger“, fluchte Daniel. Die Dielen knarzten, als er sich erhob. „Ein paar Sekunden später, und ich hätte nichts mehr tun können. Ich habe dir ausdrücklich gesagt, dass wir unsere Rücken freihalten müssen und du überprüfst den Schrank nicht?“ Ida hob sofort die Stimme in Protest, doch statt einzustimmen, kniff ich die Augen zusammen. Er hatte Recht. Ich hatte mich wie ein Rookie verhalten, ein Hunter, der gerade auf seinem ersten Auftrag war. Ohne Daniel wäre ich jetzt tot. Was war nur los mit mir? Ich begann, zu zittern. Als hätte die Nahtoderfahrung all meine Barrieren zum Bröckeln gebracht, stiegen die verdrängten Erinnerungen nun in mir auf. Sonnenlicht, das gefiltert durch mein ungeputztes Kinderzimmerfenster dringt. Das schrille Klingeln an der Tür. Annies erstickter Schrei. Der Blick in den Flur, Annie am Boden, die Bisswunde im Oberarm, eine Pfütze aus Blut. Johns Schrei, der Daemon, der sich auf ihn stürzt, der Geruch von Blut, Schwefel, gelbe Spuren, überall gelbe Spuren … Ich holte tief Luft und presste die Handballen gegen meine Augen, bis ich bunte Farbflecke sah. Idas Stimme zog mich in die Gegenwart zurück. >Coon? Du musst aufstehen. Bitte. Einige Sekunden rührte ich mich nicht. Ich wollte nicht aufstehen, wollte mich nicht bewegen. Mein Bein war noch immer eiskalt und als ich die Hände sinken ließ und die Schatten aus meinem Sichtfeld blinzelte, entdeckte ich die dunkle Linie, die sich wie ein schwarzer Blitz durch Wade und Oberschenkel zog. Schließlich jedoch überwog die Sorge um Ida, deren Stimme immer verzweifelter klang. Ich setzte mich aufrechter hin, stützte mich ab, um aufzustehen— —und knickte ein. Ich starrte auf das verräterische Bein, das unter meinem Gewicht eingebrochen war. Es war wie taub, ich konnte nur die Kälte spüren, doch bei genauem Hinsehen erkannte ich das Beben der Gliedmaße. Ida schwirrte besorgt um mich. >Fühlst du dich nicht gut? „Nein, es geht schon“, sagte ich schnell. Zu schnell. Daniel drehte sich um und sah mich an. Seine Augen waren zusammengekniffen. Ich presste die Lippen aufeinander und wagte einen erneuten Versuch, diesmal darauf bedacht, das Gewicht hauptsächlich auf mein linkes Bein zu verteilen. Es klappte. Ich stand, wacklig, aber aufrecht. Daniel beobachtete mich, während Isaac zu ihm schwebte und leise etwas flüsterte. Ich konnte kein einziges Wort verstehen, doch von den Blicken, die mir zuteilwurden, war das Thema ihrer Unterhaltung nicht schwer zu erraten. „Hauen wir hier ab“, murmelte ich an Ida gewandt und humpelte zur Tür. „Die Rotte wurde exzidiert.“ Daniel folgte mir mit etwas Abstand. Ida blieb nah an meiner Seite, einen Arm ausgestreckt, so als sei sie bereit, mich im Notfall zu fangen. Zähneknirschend schleppte ich mich voran. Das Treppenhaus stellte die erste Hürde dar. Zuerst schaffte ich die Stufen alleine, doch als ich einen Moment nicht aufpasste, gab mein Bein wieder unter mir nach und ich stolperte vorwärts. Nur Daniels Hand um meinen Unterarm bewahrte mich vor einem sehr unangenehmen Sturz. „Danke“, sagte ich, zum zweiten Mal an diesem Abend, und wollte mich aus seinem Griff lösen, doch er hielt mich fest. „Ich helfe dir“, sagte er und nahm an meiner schwachen Seite Position auf. Gemeinsam stiegen wir die Treppen hinunter, er langsam, ich halb hopsend. „Was ist mit meinem Bein los?“, fragte ich leise, als der Abstand zu den beiden Dae groß genug war, um nicht überhört zu werden. Ida hatte es irgendwie geschafft, Isaac in ein Gespräch zu verwickeln. „Ich bin nicht sicher“, antwortete Daniel, während wir weitergingen. „Daemonenbisse werden selten überlebt. Bis das Gift das Herz erreicht, dauert es nur wenige Sekunden. Du hattest Glück, dass er dich am Knöchel und nicht weiter oben gebissen hat. So konnte ich das Gift aussaugen.“ „Du hast irgendetwas auf die Wunde gekippt“, sagte ich. „Essig?“ Er nickte. „Es ist kein Wundermittel, aber es hilft, das Gift zu neutralisieren. Meistens reicht die Zeit nicht, es anzuwenden, aber ich habe es trotzdem lieber dabei.“ „Also ist das Gift nicht völlig aus meinem Kreislauf raus?“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist zu früh, um das zu sagen.“ Wir erreichten das Erdgeschoss und ich wartete, während Daniel die schwere Eingangstür aufdrückte und offenhielt, damit ich hindurchhumpeln konnte. „Aber das Gift hat Schaden in deinem Bein angerichtet. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis dein Körper sich davon erholt.“ „Oder ob“, sagte ich. Daniel schwieg. Ida lachte hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah dabei zu, wie sie angeregt mit den Armen ruderte und augenscheinlich versuchte, Isaac aus der Reserve zu locken. Der Junge zeigte keinerlei Reaktion. „Wie lange ist er schon bei dir?“, fragte ich. „Achtzehn Jahre“, sagte Daniel. Er lächelte, aber es wirkte gequält. „Wir sind Zwillinge. Mit zwölf wurden wir von einem Daemon angegriffen, der einem Hunter entwischt ist. Mein Bruder hat sich vor mich geworfen und den Biss für mich abgefangen. Seitdem ist er auf mich fixiert. Er würde alles tun, um mich am Leben zu halten.“ Ich schluckte schwer. Achtzehn Jahre … „Er wirkt sehr abwesend“, sagte ich, bevor die Stille unangenehm werden konnte. „So lange tot zu sein, hat diesen Effekt“, erwiderte Daniel. Gemeinsam gingen wir die Straße entlang. Die wenigen Straßenlaternen spendeten nur schummrig orangefarbenes Licht. Die raue Oberfläche der Pflastersteine drückte sich durch meine Sohlen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ida jemals so wird“, sagte ich. Wir sahen zu dem ungleichen Pärchen hinter uns. Ida hatte ein helles mausgrau angenommen und demonstrierte gerade, wie man Purzelbäume in der Luft machte, während Isaac sie vom Boden aus beobachtete. „Vielleicht nicht“, gab Daniel zu. „Aber sie ist auch erst einige Monate alt. Es dauert eine Weile, bis sie begreifen, was sie verloren haben. Für Isaac war es besonders schlimm. Ich war sein Spiegelbild und er sah mich aufwachsen, das Leben führen, das er geopfert hatte. Ich fühle mich noch immer schuldig deswegen.“ Seufzend fuhr er sich durchs Haar. „Manchmal wünschte ich, er wäre damals einfach gestorben.“ Ich hielt den Blick stur nach vorne gerichtet. Ida, tot? Ich konnte es mir nicht vorstellen. „Genug davon“, sagte Daniel, als die Atmosphäre umzuschlagen drohte. „Hast du dir die Einladung durch den Kopf gehen lassen?“ Er reichte mir eine zerknitterte Visitenkarte, die er aus den Tiefen seiner Hosentasche förderte. Ich nahm sie entgegen, zögerte aber. Daniel schien ganz okay zu sein, aber die Art, wie Isaac von dem Mitnehmen gesprochen hatte, gab mir ein mulmiges Gefühl. Das letzte Mal, als ich ein Anwesen besucht hatte, war ich von Kriguard in seinem Keller eingesperrt und fast von seinem Bodyguard erschossen worden. Ich war nicht gerade scharf darauf, in eine ähnliche Situation zu geraten. „Vielleicht ein andermal“, sagte ich ausweichend und verstaute die Visitenkarte in meiner Geldbörse. „Ich werde mich erst mal erholen und versuchen, einen regulären Auftrag zu kriegen.“ Dan nickte, aber er wirkte enttäuscht. Wortlos klopfte er mir auf die Schulter und pfiff durch die Finger. Augenblicklich löste Isaac sich aus Idas Beschlagnahmung und trat an seine Seite. „Verabschiede dich von Raccoon, Isaac“, sagte Daniel. Isaac seufzte und streckte mir seine Hand hin. Die schwarze Färbung hatte er im Vergleich zu Ida nicht abgelegt. Ich fragte mich abwesend, ob er immer so nah an der Schwelle zum Daemon war oder ob er einfach kein Interesse daran hatte, sich wie Ida vom Wind treiben zu lassen. Ich ergriff seine Hand, schüttelte sie und ließ los. Blinzelte. „Melde dich!“, rief Daniel mir zu, bevor er und Isaac in der nächsten Gasse verschwanden. Ida schwebte an meine Seite, Kopf nachdenklich schief gelegt. Ich starrte auf meine Hand. >Ich mag Isaac. Auch wenn er ein bisschen langweilig ist. Abwesend nickte ich und setzte mich in Bewegung, Hand immer noch erhoben. Ida schwirrte vor mich und hob die Augenbrauen. >Was ist los? „Isaac“, sagte ich und hob den Kopf, um Ida in die weißen Augen sehen zu können. „Ich konnte ihn anfassen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)