Daemon 2 von yazumi-chan (Akte Holland) ================================================================================ Kapitel 1 --------- An diesem Abend wimmelte es im Cherry Club von Besuchern. Rotes und pinkes Licht pulsierte über die Stripperinnen, die sich in schwarzen Dessous und Plateau-High-Heels um die Stangen bogen, kopfüber herabrutschten und sich lasziv ihrem Publikum darboten. Geldscheine steckten in Strumpfbändern aus Latex oder ragten aus ihren gepushten Dekolletés. Pfiffe und Rufe mischten sich mit dem Wummern des Basses. Ich stand mit Henry an der Bar, spülte, presste Orangen, mixte Cocktails und goss Alkohol und andere Drinks in Gläser, bevor sie über den Tresen wanderten und gegen Geld eingetauscht wurden. Barhocker gab es keine, was mich normalerweise vor Gesprächen mit Betrunkenen bewahrte, doch heute wäre auch so keine Zeit dafür gewesen. Die Ankündigung einer Live-Band hatte halb Distrikt 18 angelockt; Männer unterschiedlichsten Alters und zahlreiche Frauen füllten die freien Flächen des Clubs, bis an Vorankommen nicht mehr zu denken war. Ich kam mit den Bestellungen kaum noch hinterher und musste mir mehrfach auf die Zunge beißen, um die ungeduldigsten Typen nicht anzufahren, wenn sie sich lautstark beschwerten. Ich stand unter Adrenalin, schwitzte und Haarsträhnen klebten in meinem Gesicht. Mein Kopf schwirrte von Rezepten und Preisen. Mein einziger Trost war, dass Henry noch weniger hinterherkam. Er hatte erst vor zwei Wochen angefangen und war die ruhigeren Tage gewohnt. Ich war ziemlich sicher, dass er am Ende seiner Schicht heulend zusammenbrechen würde. Verbissen mixte ich zwei Long Island Iced Tea und schob einem Mann seinen Gin Tonic zu, bevor er mich anmachen konnte. Als er verschwand, entstand eine kleine Lücke, die sich jedoch sofort durch zwei neue Kunden füllte, die Bier bestellten. Neben mir ließ Henry ein Glas fallen. Wieder öffnete sich eine kleine Lücke, durch die ich dieses Mal das Band-Set-Up entdeckte. Verstärker, ein Mikro, alles bereit für den Auftritt der vier Mitglieder, die in einer halben Stunde starten sollten. Dann stutzte ich. Auf einem der Verstärker prangten zwei gelbe Handabdrücke. Ich kniff die Augen zusammen, doch schon verdeckten zwei Jungs mein Sichtfeld. Ich donnerte den beiden ihren Tequila hin und drückte Henry das Geld in die Hand. „Bin kurz auf Toilette“, sagte ich im Vorbeigehen. Henrys Blick wanderte von dem Geld zu mir und dann zu der Menschentraube am Tresen. Sein Gesicht färbte sich grün, doch da war ich schon im Durcheinander der Clubgäste verschwunden und steuerte zielsicher auf die kleine Bühne zu, auf der ich den Verstärker entdeckt hatte. Ich drängte mich durch das Gewühl der feiernden und johlenden Männer und musste einige Grabscher abwimmeln, die mich mit einer der Stripperinnen verwechselten, doch dann stand ich vor der Absperrung. Schwer atmend und klebrig vom Schweiß der Anwesenden starrte ich die gelben Handabdrücke an. Sie leuchteten grell gegen das schwarze Plastik und ich konnte mir mein Versäumnis nur durch den stressigen Abend und die Wand aus Fleisch erklären, die mich größtenteils vom Rest des Clubs abgeschnitten hatte. Die Spuren waren frisch und als ich die Bühne etwas umrundete, entdeckte ich gelbleuchtende Fußabdrücke, die in den Backstage-Bereich führten, wo die Überwachungsräume und die Toiletten und Umkleiden der Angestellten lagen. Ich schob mich an der Security vorbei, der ich meinen Ausweis unter die Nase hielt und folgte den Spuren in den schlecht beleuchteten Gang dahinter. Der Lärm von zuvor rang noch in meinen Ohren nach, doch die Luft schien einige Grad kühler und war frei von der Mischung aus Schweiß und Parfum. Die gelben Abdrücke führten mich zu einem kleinen Raum, den der Clubbesitzer der Band für den heutigen Abend zur Verfügung gestellt hatte, doch danach gingen sie wieder ab und führten zu der Männertoilette, in der sie verschwanden. Zögernd blieb ich stehen. Ich war nicht gerade scharf darauf, die Männer dort drin beim Pissen zu erwischen, besessen oder nicht, andererseits gab es mir den Vorteil der Überraschung. Ohne Ida, die einen Wirt mit ihrem Körper fixieren konnte und während meiner Schichten aus offensichtlichen Gründen Zuhause blieb, musste ich altmodisch vorgehen; die Austreibung schnell hinter mich bringen, bevor der Daemon seinen Wirt nutzte, um mich anzugreifen. Das kleinere Übel wählend, schob ich sanft die Tür auf und trat ein. Ich war erleichtert, als ich nur eins der Bandmitglieder entdeckte, das mit gesenktem Kopf vor dem Pissoir stand und konzentriert mit seinen Urinstrahl in das Porzellan zielte. Wäre noch jemand hier gewesen, hätte ich auf das Überraschungsmoment verzichten und denjenigen evakuieren müssen—nichts war nerviger, als einen Daemon umständlich zu exzidieren, nur damit er sich sofort auf den nächsten Wirt stürzte. Ich umrundete den Mann mit lautlosen Schritten, Hände in Hunter-Manier erhoben, die Fingerspitzen zusammenliegend und Daumen übereinander, sodass ein dreieckiges Guckloch entstand. Der Daemon hatte mich noch nicht bemerkt. Er schien zu beschäftigt damit, den Körper seines Wirts richtig zu bewegen. Gut so. Ich verkleinerte das Loch zwischen meinen Händen für zusätzlichen Fokus und hob die Stimme. „Relictus.“ Der Austreibungsschlüssel entriss dem Daemon einen markerschütternden Schrei, der mir alle Haare zu Berge stehen ließ. Der Wirt drehte den Kopf, Arme ausgebreitet. Dunkle Rasterzöpfe hingen über die breiten Schultern und seine Nasenflügel blähten sich wie Nüstern. Seine Jeans rutschte ein Stück tiefer. Ich bereute, nicht noch kurz gewartet zu haben, bis er fertig war. „Relictus“, wiederholte ich. Der Daemon machte einen Schritt vor, dann noch einen und holte zum Schlag aus. Ich rollte zur Seite, stieß mir auf den Fliesen die Schulter und kam in Exzisionshaltung wieder auf die Füße. „Relictus.“ Dieses Mal konnte der Wirt die Reaktion nicht verbergen; er knickte kurz ein, schüttelte sich und öffnete den Mund zu einem Kreischen. Schwarzer Rauch floss heraus wie schwerer Nebel, doch der Daemon zog sich zusammen und verschwand wieder im Inneren des Mannes. Er rannte auf mich zu. Ich musste einem Schlag ausweichen, riss den Kopf nach hinten, um einem Ellenbogenhieb zu entkommen und stöhnte, als sich sein Knie in meinen Bauch grub. Mit verzerrtem Gesicht wirbelte ich herum, bis ich in seinem Rücken stand und trat ihm heftig in die Kniebeuge, bevor ich einen Satz zurückmachte und wieder die Hände hob. „Relictus.“ Der Wirt riss den Kopf nach hinten, presste beide Hände auf seinen Mund und hielt den schwarzen Rauch so davon ab, seinem Körper zu entweichen. Zischend machte ich noch einen Schritt zurück und fand mich mit dem Rücken zur Tür. Ich drückte mit aller Kraft dagegen, bis mir einfiel, dass sie sich nur nach innen öffnete. Gottverdammte Scheiße. Der Daemon erhob sich wankend und rauschte kreischend auf mich zu. Ich hielt die Arme vorgestreckt, verstärkte ein letztes Mal meinen Fokus, bereit, was auch immer für einen Angriff einzustecken, da rutschte die Jeans das letzte Stück herunter, verhedderte seine Beine und das Bandmitglied stürzte Gesicht voran auf die Fliesen. „Relictus!“, rief ich und dieses Mal hielt nichts den Rauch davon ab, aus dem Körper getrieben zu werden. Die schwarze Säule verdichtete sich, formte einen Bogen und bildete schließlich den Daemon, der nun auf vier spindeldürren Beinen und reichlich desorientiert vor mir stand. Gelbe Glubschaugen fixierten mich und er fletschte die fingerlangen Zähne, von denen Geifer auf den Boden tropfte. „Ganz schön klein für so ein hartnäckiges Biest“, kommentierte ich, während ich in Gedanken bereits meine Strategie plante. Ein mittelstarkes trigonales Muster sollte reichen. „Hast dich in seinem Körper wohl ganz schön heimisch gefühlt.“ Der Daemon schoss vor, offenbar der Ansicht, er könne meinen Monolog zu seinen Gunsten nutzen. Ich war anderer Meinung. „Haesitare!“ Der Fixierungsschlüssel ließ den Daemon in der Bewegung erstarren, so als hätte man ihn schockgefrostet, eine Klaue zum Angriff ausgestreckt. „Deficere, Decedere, Occidere“, sagte ich und begann damit die aufsteigende Reihe der Schwächungsschlüssel. Der Körper des Daemons wurde schlierig, Rauch stieg von seinen Gliedern auf und verpuffte mit dem Geruch fauler Eier. „Decedere, Deficere“, fuhr ich mit der absteigenden Reihe fort. Der Daemon zitterte, immer noch unbeweglich. Rauch strömte aus seinem gesamten Körper und seine Augen quollen hervor, als ich mich näherte. Er schrumpfte förmlich in sich zusammen. „Manere“, sagte ich, um ihn stillzuhalten, dann legte ich eine Hand zwischen seine geweiteten Augen. „Supplicium.“ Der Daemon schrie—und implodierte. Ich rümpfte die Nase bei dem Gestank nach faulen Eiern, der nun das Bad füllte und richtete mich auf. Abwesend rieb ich meinen Bauch, wo das Knie des Wirts mich getroffen hatte. Es war nichts Ernstes, aber als ich mich streckte, schoss ein scharfer Schmerz durch die Gegend und ich sog zischend die Luft ein. Für’s erste hielt ich mich lieber leicht gekrümmt. Da der Daemon erledigt war, widmete ich mich dem Bandmitglied. Der Mann hatte das Bewusstsein verloren, was für einen Wirt normal war, allerdings war er vor der Austreibung mit dem Gesicht auf die Fliesen gefallen, ohne sich abzustützen, und ich wollte zumindest sichergehen, dass er atmen konnte. Ich drehte ihn mit einem Ruck um und überprüfte das Gesicht. Die Nase blutete stark und von dem kleinen Höcker und dem Schnitt darüber war ich ziemlich sicher, dass sie gebrochen war. „Sorry, Kumpel“, sagte ich, packte ihn unter den Achseln und schleifte ihn Richtung Wand, um ihn sitzend dagegen zu lehnen. „War nicht mit Absicht.“ Leicht angewidert begann ich, seine Hose hochzuzerren. Da schwang die Tür auf. „Ey Charlie, bist du kacken oder wieso brauchst du so—“ Ich hockte neben einem bewusstlosen Charlie mit heruntergezogener Hose und fand mich Auge in Auge mit den drei restlichen Bandmitgliedern wieder, die mich mit offenen Mündern anstarrten. Ich räusperte mich und machte einen Schritt von Charlie weg. „Ich weiß, wie das aussieht“, sagte ich und hob beschwichtigend die Hände, „aber ich kann alles erklären.“     Fünf Minuten später fand ich mich mit einer sehr wütenden Band, einem noch wütenderen Manager, einer belustigt dreinschauenden Security und einem sehr verwirrten Clubbesitzer in dessen Büro wieder und musste unwillkürlich an Henry denken, der inzwischen vermutlich von den Massen überrannt worden war. „Sie wollen mir also sagen, dass meine Barkeeperin ihren Gitarristen vergewaltigen wollte?“ „Was denn sonst?“, fauchte der Typ, den ich als Sänger identifiziert hatte. Er hatte versucht, mich zu verprügeln, bevor seine Freunde ihn zurückgezerrt und mich zur Security geschleppt hatten. Der Clubbesitzer wandte sich zu mir. Er war kahlköpfig, klein und sah eher wie ein Bibliothekar als ein Stripclubinhaber aus. „Was haben Sie zu ihrer Verteidigung zu sagen, Ms. Thynlee?“ „Wie ich der Band bereits erklärt habe, war Ihr Gitarrist von einem Daemon besessen. Als hauptberufliche Daemonenhunterin bin ich ihm gefolgt und habe eine Exzision durchgeführt.“ „Und warum haben Sie diese … Exzision in der Männertoilette vorgenommen?“ „Er war gerade dort und alleine“, sagte ich. „Ich wollte vermeiden, dass noch jemand verletzt wird.“ „Selbst, wenn das stimmt …“ Er rang die Hände und schielte zu dem Manager, der mich mit seinem Blick durchbohrte, „Mr. Ronald hat mir versichert, dass, sollte ich Sie nicht zur Verantwortung ziehen, er Sie wegen Körperverletzung und Nötigung verklagt.“ Ich schnaubte. „Das ist doch lächerlich.“ „Lächerlich ist einzig und allein Ihre Geschichte“, erwiderte der Manager namens Ronald und beugte sich über den Tisch zu mir herab, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Seine stahlblauen Augen fixierten mich. „Sie wurden in der Männertoilette gefunden, wo Sie damit beschäftigt waren, Charlies Hose auszuziehen—“ „Ich wollte sie ihm wieder anziehen!“ „—und Sie sind die einzige Zeugin für die Exzision des Daemons. Niemand sonst hat ein auffälliges Verhalten bei unserem Gitarristen bemerkt, ich frage also, woher wussten Sie davon?“ Ich erhob mich von meinem Stuhl und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. „Ich bin ein Auge, und ich kann Daemonenspuren sehen“, sagte ich gereizt. „Wie Ihnen jeder in Distrikt 16 sagen kann. Soll ich Zeugen aufrufen, Euer Ehren?“ Der Manager blieb unbeeindruckt. „Die Tatsache bleibt bestehen, dass die Auseinandersetzung mit Ihnen dazu geführt hat, dass Charlie derzeit bewusstlos und mit gebrochener Nase im Krankenhaus liegt, seinen heutigen Auftritt verpasst und wir bereits angenommene Angebote nachträglich werden ausschlagen müssen, bis er wieder auftrittsfähig ist. Der finanzielle Schaden ist beträchtlich, mal ganz abgesehen von der Publicity, die der Band dadurch verloren geht.“ Er trat zurück und wandte sich wieder an meinen Chef. „Und wenn mir dieser Schaden nicht ersetzt und Ihre Barkeeperin nicht sofort entlassen wird, werde ich Sie beide verklagen, Mr. Welmy.“ Er verließ zusammen mit den Bandmitgliedern das Büro und ließ mich mit Welmy und der Security alleine. Der Clubbesitzer wischte seine Brille fahrig an seinem Jackett ab und seufzte. „Es tut mir leid, Ms. Thynlee, aber ich kann mir keinen Gerichtsprozess erlauben. Dazu fehlen mir die Mittel. Sicher verstehen Sie das.“ Ich dachte an Ida, die Zuhause auf mich wartete, darauf vertrauend, dass ich Geld verdiente und uns über Wasser hielt. Ungewollt fiel mir mein letztes Gespräch mit Rock vor sechs Monaten ein. „Sag es. Bring es hinter dich.“ „Du bist gefeuert.“ „Ich verstehe vollkommen“, sagte ich knapp und ging zur Tür. „Wenn ich das nächste Mal einen Daemon in Ihrem Club sehe, lasse ich ihn Amok laufen. Kriege ich wenigstens noch meinen Check für diesen Monat?“ Welmy nickte hastig, schrieb mir einen Kredit aus und begleitete mich zur Tür. Als wir an der Bar vorbeikamen, sah ich Henry, der von drei breitgebauten Typen angemacht wurde, weil er irgendetwas an ihrer Bestellung missverstanden hatte und den Tränen nahe war. „Fuckers“, murmelte ich, dann, lauter „Ey, Arschlöcher! Die Band tritt nicht mehr auf, also verpisst euch hier!“ Mr. Welmy zuckte zusammen. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Ich ließ ihn stehen und verließ den Club. Draußen angekommen war es schon dunkel, nur die pinke Neonbeleuchtung des Clubschilds und die mottenumschwärmten Straßenlaternen spendeten Licht. Inzwischen musste es nach Mitternacht sein. Die Luft war schwül und drückend; außer einer seltenen Brise hielt sich die Hitze vom Nachmittag hartnäckig. Ich fächerte mir mit meiner Hand Luft zu und stapfte zum Stadtzentrum, wo mein Büro lag. Ich gab es nicht gerne zu, aber bislang war der geplante Neuanfang in Distrikt 18 ein einziger Flop. Unser Büro war kleiner als meine damalige Wohnung in Rocks Hunterbasis; ich schlief auf dem Sofa, wusch mich notdürftig in dem Waschbecken des kleinen Gästebads und ernährte mich von allem, was mit Mikrowelle oder Kaffeemaschine zubereitet werden konnte. Für mehr war kein Geld da. Und jetzt? Wieder gefeuert. Gottverdammte Scheiße. Was war das hier, irgendeine schicksalhafte Fügung? Karma? Ich riss mich aus den düsteren Gedanken und stapfte die drei Treppenstufen zu der Eingangstür hoch. Der Schlüssel klickte im Schloss, die Tür schwang auf. Ida wartete bereits auf mich. >Coon! Du bist zurück! Ihre gleißend weiße Gestalt flog aufgekratzt auf mich zu und fiel mir um den Hals, was bedeutete, dass ihre kalte Substanz halb in mir versank. „Hey, Partner“, begrüßte ich sie. Über unseren Köpfen surrte der Ventilator und wirbelte die schwüle Sommerluft auf. >Jemand hat angerufen, während du weg warst. Ich wollte selbst rangehen, aber … „Ich weiß.“ Besorgt beobachtete ich, wie ihre helle Farbe einem schmutzigen Grau wich und sie zu Boden sank. Ida war ein Dae, die Vorstufe zu einem Daemon, was bedeutete, dass sie in ihrem weißen Zustand kaum körperliche Masse besaß, um mit ihrer Umgebung zu interagieren. Aber je dunkler ihre Färbung, umso näher stand sie einer endgültigen Verwandlung. Seit sie vor sechs Monaten gestorben war, hatte sich die Kontrolle über ihren Gemütszustand erheblich verbessert, aber sie war trotzdem noch ein Kind, das sich von kleinen Dingen aus dem Gleichgewicht bringen ließ. Sie machte keine Anstalten, ihre dunkle Farbe zurückzuziehen und sah schmollend zur Seite. „Hat die Person wenigstens aufs Band gesprochen?“, fragte ich, um sie abzulenken. Das hellte ihre Stimmung augenblicklich auf. >Ja! Es geht um einen Auftrag, aber ich habe nicht genau verstanden, was wir tun müssen. „Dann höre ich mir das wohl am besten an“, sagte ich, ließ meine Tasche auf den Boden fallen. Idas Körper wurde wieder ein gutes Stück dunkler. >Ich will selber ans Telefon gehen können. Mein Herz zog sich bei ihren Worten zusammen. Wenn ich damals schneller reagiert hätte, wenn ich den Daemon früher bemerkt hätte … Ich schüttelte den Gedanken ab. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Ida war tot. Je schneller ich das akzeptierte, umso besser. Ein schrilles Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Unsere Köpfe drehten sich abrupt zur Tür. >Ein Besucher! Ida wurde milchig weiß und flog an die Decke, wo sie wie eine Hummel umherschwirrte. Auch ich konnte die Aufregung nicht unterdrücken, als ich mich zwischen Schreibtisch und Anrichte hindurchschlängelte. Besuch um diese Uhrzeit bedeutete noch ein Auftrag. Vielleicht kam endlich Schwung in die Sache und es war nicht so schlimm, dass ich gefeuert worden war. Mit einem Lächeln im Gesicht zog ich die Tür auf und fand mich Auge in Auge wieder mit … „Andrew“, sagte ich, wesentlich weniger euphorisch. Er sah verletzt aus, als mein Lächeln bei seinem Anblick schwand, doch Sams schlaksiger Schützling mit der pickligen Haut fing sich schnell wieder und streckte mir zur Begrüßung die Hand hin. Ich nahm sie skeptisch. „Hallo Ms. Thynlee“, sagte er und guckte an mir vorbei ins Büro. „Hallo Ida.“ >Andrew! Ida schwirrte hinaus, warf sich dem jungen Hunter um den Hals und fiel fast durch ihn hindurch. Ich war ziemlich sicher, dass sie sich nur so freute, weil er sie dank seiner Sichtlinsen sehen konnte, nicht unbedingt, weil es Andrew war. Sie hatte seit Monaten mit niemandem außer mir geredet. „Was tust du hier?“ Bevor er antworten konnte, fiel mir unsere Begegnung vor Idas Haus ein. „Nein, lass mich raten. Du bist —“ „— die Verstärkung.“ Er grinste breit und tätschelte Ida, wobei er unbeholfen mit der Hand durch die Luft wedelte, so als würde er eine Fliege verscheuchen wollen. Ich war nicht sicher, was ich von Andrews plötzlichem Auftauchen halten sollte. Ich kannte ihn nicht sonderlich gut. Außer unserer gemeinsamen Exzision vor einem halben Jahr war ich ihm nur einmal flüchtig begegnet und hatte ihn von beiden Treffen als übereifrig und zu selbstsicher in Erinnerung. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass die Kombination ihm eines Tages den Hals brechen würde. Aber ich konnte ihm schlecht die Tür vor der Nase zuschlagen. Seufzend trat ich zur Seite. „Komm rein.“ Andrew grinste und folgte mir ins Büro. „Hübsch haben Sie es hier“, sagte er gedehnt, als wir etwas später mit Instantkaffee auf dem Sofa saßen. „Lüg nicht“, sagte ich und nahm einen tiefen Schluck. Andrew tat es mir gleich, schob nach dem ersten Schluck die Tasse jedoch angeekelt von sich. „Also, was machst du hier?“, fragte ich. „Wenn du zu Besuch hier bist, hättest du wenigstens Sam mitbringen können.“ „Ich … habe ihr nicht direkt Bescheid gesagt, dass ich komme. Aber ich habe eine Nachricht hinterlassen, damit sie weiß, wo ich bin!“ Ich hob eine Augenbraue. „Abgehauen?“, fragte ich. „Süß. Bist du da nicht ein bisschen zu alt für?“ „Das müssen ausgerechnet Sie sagen“, murmelte Andrew. „Sie haben mich doch einfach in der Wohnung liegenlassen und sind ohne ein Wort aus dem Distrikt verschwunden.“ „Ich wusste nicht, dass ich dir Rechenschaft über meinen Aufenthaltsort schulde“, sagte ich. „Außerdem hatte ich zu dem Zeitpunkt noch ein paar andere Dinge im Kopf.“ Harry und seine bewaffneten Agenten, zum Beispiel. „Ist ja auch egal.“ Andrew faltete die Hände in seinem Schoß und knetete nervös die Finger. „Ich bin jetzt ein offizieller Hunter und ich habe schon einige Jobs alleine durchgeführt.“ „Herzlichen Glückwunsch.“ Ida warf mir einen schiefen Blick zu. >Sei nicht so gemein, Coon. Ergeben hob ich die Hände. „Tut mir leid, Andrew. Wirklich gute Arbeit, deine Arbeit zu machen. Jetzt komm zur Sache.“ „Ich dachte, also ich würde gerne—wenn Sie nichts dagegen haben, versteht sich—bei Ihnen arbeiten?“ „Arbeiten?“, fragte ich. „Bei mir?“ Er nickte und sah mich dabei von unten an, als sei er ein verdammter Welpe. >Oh ja, Coon, bitte, das ist toll! Ida flog aufgeregt durch das Büro und hüpfte dann in Dae-Manier neben Andrew auf und ab. >Es ist immer so langweilig, wenn du wegmusst und mich nicht mitnimmst. Und er kann mich sehen. Bitte sag ja! Ich schnalzte mit der Zunge. „Andrew“, sagte ich. „Das ist zwar irgendwie rührend, dass du den Distrikt gewechselt hast, nur um mit mir zusammenzuarbeiten, aber ich will ehrlich mit dir sein.“ Ich machte eine Geste, die das gesamte Büro umfasste. „Ich wohne hier. Wir haben seit Monaten keine guten Aufträge bekommen und halten uns geradeso über Wasser. Ich kann dich nicht bezahlen. Ich kann dir nicht mal versprechen, dass du mehr zu tun haben wirst, als putzen und Brettspiele spielen. Du wärst mit Rocks Organisation besser bedient.“ „Das ist mir egal.“ Andrew stand auf und schien nicht mal zu bemerken, dass sein Gesicht dadurch aus Idas Bauch ragte. „Als wir gemeinsam den Daemon exzidiert haben … da war ich panisch und nutzlos und Sie haben trotzdem Zeit gefunden, mich zu verbessern und wachzurütteln. Ich habe Sie in Gefahr gebracht und Sie haben mir geholfen. Ich will mich revanchieren. Ich will Ihnen helfen, und wenn ich dafür umsonst Ihr Klo putzen muss.“ Verdutzt von der leidenschaftlichen Ansprache nahm ich Andrew erneut unter die Lupe. Hektische Flecken hatten sich auf seinen Wangen gebildet, Schweiß perlte auf seiner Stirn und das zottige, blonde Haar hing schlaffer, als ich es in Erinnerung hatte. „Ich habe dich nur gecoacht, weil ich ohne dich gestorben wäre“, sagte ich leise. „Du bildest dir Beweggründe ein, die es nicht gab. Ich bin keine Heilige.“ „Das habe ich nie gesagt.“ Er setzte sich wieder und sah auf seine Hände herab. „Aber das ändert nichts an meiner Entscheidung.“ Seufzend wollte ich mir durchs Haar fahren, nur um mich daran zu erinnern, dass ich wegen der Hitze einen Pferdeschwanz trug. „Du musst deine Ausgaben selbst decken“, warnte ich ihn. „Es ist Ende des Monats und wir kriechen auf dem Zahnfleisch. Aber du kannst auf der zweiten Couch schlafen, wenn du willst.“ Er nickte enthusiastisch, drehte sich um und entdeckte Ida, die ihn schmollend ansah, nur um plötzlich breit zu grinsen und ihm beide Handflächen entgegenzustrecken. Er gab ihr einen kräftigen Doppel-High-Five und schlug geradewegs durch ihre Hände hindurch. Plötzlich sah Ida misstrauisch zu mir. >Warum bist du eigentlich schon zurück? Sonst kommst du immer später heim. Ich hustete. „Ich, eh … ich wurde gefeuert. Deswegen hoffe ich wirklich, dass dieser Anrufer einen gut bezahlten Auftrag hat.“ Andrew sah von seiner Pseudorangelei mit Ida auf und schaute mich verwirrt an. „Was für eine Arbeit hatten Sie denn?“ „Nebenjob“, erklärte ich, während ich aufstand um zum Telefon ging. „Ich habe vor zwei Monaten angefangen, als uns das Geld ausging. Es sollte was Übergangsmäßiges sein, aber wahrscheinlich wäre ich dort verrottet.“ „Und was war das für ein Nebenjob?“, fragte Andrew skeptisch. Ida kam mir mit ihrer Antwort zuvor. >Eine Baaar. Und ich durfte nie mit. Aber warum haben sie dich gefeuert, Coon? „Ein kleines Missverständnis“, sagte ich schnell. Nie im Leben würde ich Ida erzählen, dass man mich mit einem hosenlosen Bandmitglied auf der Männertoilette gefunden hatte. Andrew schielte misstrauisch zu mir. „Sie hat glaube ich Schlimmeres gesehen als Jugendliche, die sich betrinken, Ms. Thynlee“, sagte er. „Das ist kein Grund, sie nicht mitzunehmen.“ „Es war keine Baaar“, sagte ich und ahmte dabei Idas Stimmlage nach. „Es gibt dort Tänzer. Und Stangen.“ Zuerst sah Andrew verwirrt aus, dann wurde er knallrot und schaffte es nicht, den schnellen Blick über meinen Körper zu verbergen. „Ach, diese Art Bar“, sagte er dümmlich, verschluckte sich und musste husten.  „Spar dir das Kopfkino, Andrew“, sagte ich. „Ich war Barkeeper.“ Ich war nicht sicher, ob der Ausdruck auf Andrews Gesicht Erleichterung oder Enttäuschung war, aber ich wandte mich endlich dem Anrufbeantworter zu, der schon die ganze Zeit blinkte. Zeit, meiner wahren Berufung zu folgen. Als ich die Nachricht abspielte, plärrte mir die gestresste Stimme von Oliver Correl entgegen, einem der Gründer in Distrikt 18. „Hallo Raccoon, hier ist Oliver. Ich hatte gehofft, dich noch zu erreichen, aber sei‘s drum … wir haben ein Problem. Meine Hunter haben einen Hort entdeckt, Ecke Bolton Road. Meine eigenen Hunter sind leider alle mit anderen, wichtigen Aufträgen beschäftigt, daher dachte ich, ich frage mal rum. Ich habe schon fast alle selbstständigen Hunter im Distrikt durchtelefoniert, aber bis auf einen haben alle haben abgelehnt. Du bist meine letzte Hoffnung. Wenn du Interesse hast, ruf mich zurück. Die Bezahlung ist gut, du wirst es nicht bereuen.“ Piep, piep, piep. Niemand sagte etwas. Schließlich drehte ich mich zu den anderen beiden um. „Wir sollen eine ganze Rotte exzidieren?“, fragte ich ungläubig. „Dafür sind ihm seine eigenen Hunter wohl zu schade. So ein Arsch.“ „Ms. Thynlee, ich halte das für eine ganz schlechte Idee“, sagte Andrew. Er war leichenblass. „Eine Rotte mit nur zwei Leuten, das ist Wahnsinn!“ >Was ist eine Rotte? „Eine Rotte ist ein loser Zusammenschluss von Daemonen, die an einem festen Ort hausen“, erklärte ich. In Gedanken war ich schon drei Schritte weiter. Mit meiner freien Hand umfasste ich den Kredit in meiner Hosentasche, den Welmy mir geschrieben hatte. Das Geld reichte kaum für die Miete dieses Monats, geschweige denn für Essen oder die Miete danach. Unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht darauf ankommen lassen, im nächsten Monat einen Job zu finden, auch wenn ich wusste, wie schlecht die Jobsituation in Distrikt 18 war. Aber ich hatte es satt, in Bars zu arbeiten und tatenlos rumzusitzen. Ich verdrängte die Erinnerung an meine letzte Begegnung mit einer ausgewachsenen Rotte und stand auf. „Ruf Oliver an und sag ihm, dass ich annehme“, sagte ich. „Bolton Road, ja? Das ist nicht weit von hier. Und Ida?“ >Ja? „Ich werde deine Hilfe brauchen.“ Hosted by Animexx e.V. 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