Lex Aeterna von Nanghaithya ================================================================================ Kapitel 4: Blut und Tinte ------------------------- Der Morgen kam viel zu früh und Kahlis fühlte sich wie gerädert. Die Sonne schien hell und nur wenige Wolken bedeckten den Himmel. Mit verschwommenem Blick sah er sich um. Über dem Lagerfeuer hing ein kleiner Topf, in dem etwas zu köcheln schien. Rhai und Jakk waren beide schon auf den Beinen und die Pferde zum größten Teil wieder bepackt. Unter großen Mühen streckte er seine schweren Glieder. „Morgen! Wie war die erste Nacht im Freien?“, fragte Rhai heiter. Seine eigentlich angenehme Stimme hallte furchtbar laut in Kahlis' Ohren. Wie man so früh am Morgen schon so gute Laune haben konnte, würde ihm auf ewig ein Mysterium bleiben. „Hatte schon bessere.“, grummelte er verdrießlich. Rhai konterte seinen Missmut mit einem fidelen Lächeln. „Mach dich frisch. Das kühle Flusswasser hilft dir sicher beim Aufwachen. Frühstück ist auch fast fertig.“ Kahlis tat wie ihm geheißen. Am Ufer des Gewässers kniete Jakk nur halbbekleidet und wusch seinen Körper. „Morgen.“, nuschelte Kahlis durch kaum geöffnete Lippen und nahm in einiger Entfernung platz. „Morgen.“, erwiderte Jakk ohne ihn anzusehen. Seine Stimme war kalt und emotionslos. Für einen Moment zweifelte Kahlis daran, dass es sich tatsächlich um die selbe Person handelte, die ihm letzte Nacht noch so einfühlsam zugesprochen hatte. Vielleicht war er derart übermüdet gewesen, dass er sich das alles nur eingebildet hatte. Zögernd zog er sein Hemd über den Kopf. Obwohl ihm weder Rhai noch Jakk Aufmerksamkeit schenkten, fühlte er sich unwohl in seiner Haut. Mit einem leichten Seufzen betrachtete er seine verschwommene Reflexion im Fluss. Er war blass und schmächtig und relativ klein. Virilität sah definitiv anders aus. Verstohlen spähte er zu Jakk zu seiner Linken und ein Hauch von Neid überkam ihn. Er hatte die Art von Körper die sich Kahlis immer gewünscht hatte. Groß und schlank ohne zu dünn zu sein. Lange Gliedmaßen, fein gezeichnete Muskulatur und eine klare männliche Statur. Selbst mit viel Training und Hingabe würde Kahlis nie eine derartige Figur erlangen. Obwohl ihn seine Unterlegenheit schmerzte, fiel es ihm schwer den Blick abzuwenden. Den Kopf voll trüber Gedanken tauchte er die Hände ins Wasser und warf sich einen guten Schwung davon ins Gesicht. Es war kalt und traf seine unvorbereitete Haut wie Nadeln. Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper. Mit einem zischenden Geräusch zog er Luft durch seine geschlossenen Zähne ein, als das Wasser von seinem Kinn auch auf seinen Oberkörper tropfte. Leise leidend wiederholte er diese Prozedur noch einige Male. Er trocknete sich sporadisch mit seinem Oberteil ab und warf ein frisches über bevor er sich zu den anderen beiden ans Feuer setzte. Wortlos drückte ihm Jakk eine Schüssel in die Hand. Sie lag warm in seinen Händen und der Inhalt dampfte noch. Der Brei aus geschrotetem Getreide und Wasser hatte eine recht unansehnliche Farbe, verbreitete aber einen angenehm süßlichen Duft. Geschmacklich war es kein Erlebnis, doch die Stücke von getrocknetem Obst verliehen der Masse eine fruchtige Note und sie füllte den Magen rasch. „Ich hätte dir zu deinem Geburtstag wirklich gern etwas Besonderes gekocht, doch leider sind die Lebensmittel, die wir mit uns führen können recht begrenzt.“, sagte Rhai scherzend. Kahlis brauchte einen Moment ehe er realisierte, dass Rhai mit ihm sprach. Tatsächlich war heute sein achtzehnter Geburtstag. Er hatte es völlig vergessen. „Nein, keine Sorge. Das ist vollkommen in Ordnung. Aber woher...?“, warf er perplex ein. Er konnte sich nicht erinnern Rhai gegenüber etwas derartiges erwähnt zu haben. „Von Sey.“, erwiderte Rhai prompt, „Es ist zwar fast fünf Jahre her, aber er bat mich explizit dich an diesem Tag aufzusuchen.“ Sey – noch immer versetzte Kahlis der Gedanke an seinen Bruder innerlich einen Stich. Er und Rhai mussten sich sehr nahe gestanden haben, wenn er ganze fünf Jahre an seiner Bitte festhielt. „Ich weiß leider nicht, wieso er noch nicht selber bei dir sein kann, aber als sich unsere Wege trennten meinte er, es gäbe Dinge, die er vorher tun müsste. Sey war schon damals ein außergewöhnlicher Mann und ich bin mir sicher, dass es etwas Bedeutendes ist. Er würde dich nicht grundlos so lange alleine lassen.“ Rhai sprach mit weicher Stimme und Kahlis stimmte ihm zu. Sey hätte ihm nie absichtlich ein Leid zugefügt. Welche Gründe auch immer ihn in die Ferne getrieben haben, mussten von großer Wichtigkeit sein. Sanft lächelnd fuhr Rhai fort: „Er hat immer an dich gedacht. Und er hat mir sogar ein spezielles Geschenk für dich überlassen. Angeblich würde es nur in deinen Händen Nutzen finden.“ Rhai griff hinter sich und holte ein in braunes Papier eingewickeltes Päckchen hervor. Verdutzt nahm Kahlis das Paket entgegen. Es war recht handlich, aber schwerer als man vermuten mochte. Voll Neugier entfernte er das Papier und war genauso verwundert wie noch davor. Er hielt ein Buch in den Händen, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Es war in edles weißes Leder eingebunden und die Ecken waren mit glänzendem Metall verstärkt. Es trug keinen Titel, stattdessen prangte ein in Silber geprägtes Symbol auf dem Deckel. Zwei gespiegelte Dreiecke, deren Böden nicht geschlossen waren. Ihre Spitzen überschnitten einander und eine gerade Linie verlief mittig durch das Zeichen und endete zu beiden Seiten in einer Art Kreuz. Das Symbol war Kahlis vollkommen unbekannt. Als er das Buch aufschlug fiel ihm ein kleiner Zettel in den Schoß, der Seys Handschrift trug: Dea et Rex, Sanguis et Atramentum „Was bedeutet das?“, fragte er verwirrt. Er überreichte den Zettel an Rhai, der jedoch nur den Kopf schüttelte. Jakk, der sich bis jetzt beharrlich im Hintergrund gehalten hatte, schien plötzlich interessiert. „Zeig mal her.“ Er brachte das Papier an sich und verfiel wieder in Schweigen. Obwohl Rhai und Kahlis links von ihm saßen, neigte er den Kopf nach rechts, als ob er jemandem lauschen würde. Doch keiner der Drei sprach. Rhai und Kahlis tauschten stumm verwunderte Blicke aus, während sie auf eine Reaktion warteten. „Blut und Tinte?“, sagte Jakk kaum hörbar. Die Augen der anderen weiteten sich fassungslos. Selbst Rhai schien nichts von Jakks verborgenem Talent gewusst zu haben. „Du verstehst das?!“, fragten sie fast simultan und nahmen Jakk ins Visier. Bedrängt wich er ein Stück zurück und suchte nach Worten. „Ja...nein. Also irgendwie schon. Aber ich bin mir nicht sicher.“ Während er versuchte seine Fassung zu wahren, gab er den Zettel zurück an Kahlis. „Blut und Tinte.“, wiederholte er nun deutlich klarer, „Ich hab aber keine Ahnung was das bedeuten soll.“ „Blut und Tinte?“, wiederholte Kahlis nachdenklich. Sichtlich verwirrt und tief in Gedanken begann er durch die Seiten zu blättern, in der Hoffnung einen Hinweis zu erhalten. Doch egal wie viele Seiten er umschlug, sie waren allesamt leer. Nicht ein einziges Wort war in dem gesamten Buch zu finden. Gleichermaßen ratlos sahen sich die drei Gefährten untereinander um. Um sicher zu gehen, dass er nichts übersehen hatte, durchforstete er den Schmöker erneut doch das Ergebnis blieb das gleiche. „Wieso sollte mir Sey ein leeres Buch geben?“, fragte Kahlis verdrossen. „Möglicherweise ist es gar nicht leer.“, warf Jakk gedankenverloren ein. Während die anderen noch grübelten ergriff er mit der Rechten Kahlis Hand und zückte mit der Linken sein Messer. Noch ehe Kahlis reagieren konnte hatte Jakk die Klinge über seinen Finger gezogen, der augenblicklich zu bluten begann. In sattem Rot quoll das Blut aus der Wunde und tropfte auf das Papier. „Verdammt, bist du wahnsinnig?!“, fauchte Kahlis Jakk an und verschloss den Schnitt mit seinen Lippen. „Guck lieber.“, erwiderte dieser unberührt. Widerwillig sah Kahlis auf die Seite, die Jakk ruiniert hatte. Kaum dass sein Blut das Papier berührt hatte änderte sich die Farbe zu einem dunklen Purpur. Wie über feinste Adern zog es sich durch die Struktur des Blatts und erblasste schließlich, bis nichts mehr davon zu sehen war. Ein warmes Kribbeln durchzog Kahlis' Körper an jenen Stellen, die das Buch berührten. Der Impuls war beängstigend und aufregend zu gleich. „Was war das?“, fragte er atemlos. Obwohl es direkt vor seinen eigenen Augen geschehen war, wollte sein Geist es nicht verstehen. Auch die anderen konnten nur erstaunt schweigen. „Aber, es ist nichts passiert, oder? Hast du irgendwas gespürt?“, hakte Rhai schließlich nach und Kahlis nickte zaghaft. „Ja, es war irgendwie...warm?“ Er konnte das Gefühlte nur schwerlich in Worte fassen. Zu fremd war die Sensation, die seinen Körper ergriffen hatte. „Nicht warm wie Feuer, eher wie eine Art Energie.“ Seine Fingerspitzen glitten sacht über das Papier. Doch außer dessen Beschaffenheit fühlte er nichts. „Wir sollten einen Experten aufsuchen bevor wir ziellos herumexperimentieren. Möglicherweise ist es falsch angewendet sogar gefährlich.“ Kahlis war überrascht diesen Vorschlag ausgerechnet von Jakk zu hören. War er es doch, der mit den Experimenten begonnen hatte. „Wo sollen wir so jemanden finden? Wir wissen ja nicht mal mit Sicherheit, was es wirklich mit diesem Buch auf sich hat.“, erwiderte Kahlis wenig überzeugt. „Ich schlage vor wir gehen nach Thal.“, sagte Jakk und breitete eine Karte vor Rhai und Kahlis aus. „Wir sind im Moment etwa hier.“ Er zeigte mit dem Finger auf ein Waldgebiet südlich von Arindell. „Wenn wir dem Fluss folgen sollten wir in zwei Tagen in Geronheim sein. Dort stocken wir unsere Vorräte auf und können erste Ausrüstung für Kahlis besorgen.“ Sein Finger wanderte die blaue Linie entlang bis zu einer Ortschaft. „Wenn das Wetter mitspielt können wir Thal von dort aus innerhalb von sieben Tagen erreichen.“ Er zeigte auf eine große Stadt weit im Süden. „Bei Bedarf können wir in Hedir halten und das Nötigste nachstocken. Einwände?“ Kahlis schüttelte den Kopf. Er kannte keinen der Orte, die Jakk soeben erwähnt hatte. Rhai hingegen dachte angestrengt nach. „Wenn wir den Fluss überqueren, Geronheim auslassen und direkt nach Süden reisen, könnten wir ein oder sogar zwei Tage gewinnen. Bergain durchqueren wir dabei fast automatisch und könnten dort aufrüsten.“ Während er sprach veranschaulichte er die vorgeschlagene Route auf der Karte. „Aber Bergain ist viel kleiner als Geronheim. Brauchbare Grundausrüstung dürfte dort kaum zu kriegen sein. Außerdem würden wir dann schon heute unseren Zugang zu Frischwasser verlieren und Bergain ist staubtrocken. Zuverlässige Wasserquellen gibt es dann erst wieder in Hedir und das ist von hier aus gute fünf Tage entfernt. Von Geronheim aus wären es nur drei Tage und wir könnten unsere Wasservorräte im Fluss auffüllen, statt es teuer zu kaufen.“ Fasziniert lauschte Kahlis dem Gespräch. Ihm war nie bewusst wie viel Überlegung und Aufwand in solch einer Reise steckten. Insgeheim hatte er die wandernden Abenteurer immer beneidet. Frei wie ein Vogel durch die Welt ziehen, fernab jeder Verantwortung – so hatte er es sich erträumt. Die Realität entpuppte sich nun jedoch als weniger märchenhaft. Jeder Schritt musste gut geplant sein und überall lauerte Gefahr. Und obwohl sie keiner Arbeit oder Herrn verpflichtet waren, mussten auch sie sich materiellen Gütern wie Geld beugen. Der Preis für ihre Freiheit war hoch und sie zahlten ihn mit Blut und Schweiß. Man konnte nur entweder frei oder sicher sein. Das eine würde stets ein Verzicht des anderen bedeuten. Noch war sich Kahlis nicht im Klaren darüber auf welcher Seite er letztendlich stehen wollte. „Dann machen wir es so.“ Rhai und Jakk waren schließlich zu einer Übereinkunft gekommen. Offensichtlich wollten sie nun doch dem ursprünglichen Plan folgen. Sie löschten das Feuer und räumten das Lager. Aus etwas Stoff improvisierte Kahlis eine Art Schlinge in der er das ominöse Buch legte. Er wollte es lieber griffbereit haben statt vergraben in einer der Satteltaschen. Als auch die letzten Gegenstände sicher verstaut waren, schwangen sie sich auf die Pferde. Wie auch zuvor teilten sich Rhai und Kahlis den Platz auf Runas Rücken. Mit gemäßigtem Tempo setzten sie ihre Reise fort. Der Tag war warm und freundlich und machte das Reiten sehr angenehm. Ein leichter Wind schlug ihnen entgegen und Rhais langes Haar kitzelte Kahlis' Nase. Tatsächlich empfand er dies jedoch nicht als unangenehm. Auch Sey hatte langes Haar. Obwohl jeder sein eigenes Zimmer hatte, hatte Kahlis viel öfter in Seys Bett geschlafen, als in seinem eigenen. Seine Nähe und sein Geruch gaben ihm schon immer ein Gefühl von Geborgenheit. Und obwohl er sein eigenes Haar hasste, liebte er das Gefühl von Seys. Wann immer er schlechte Laune hatte oder auch nur gelangweilt war, würde er seine Finger durch Seys weißes Haar gleiten lassen und wäre sofort glücklich. Rückblickend war dies eine eher fragwürdige Angewohnheit. Vollkommen in Gedanken versunken vergrub Kahlis das Gesicht in Rhais schwarzem Schopf. Ihn umgab ein seltsam vertrauter Duft und Kahlis atmete tief ein. Seine Nasenspitze und Lippen glitten dabei unbewusst über Rhais Nacken. „Kahlis...?“, fragte Rhai mit unsicherer Stimme. Das Herz rutschte ihm in die Hose, als Kahlis klar wurde, was er soeben getan hatte. Hastig ließ er von Rhai ab und rutschte beinahe vom Sattel, konnte sich jedoch noch rechtzeitig halten. Sein Gesicht glühte vor Scham und sein Herz drohte zu bersten. „Ich wollte nicht...das war...!“ Er brachte keinen klaren Satz zustande. „Was ist denn bei euch los?“, rief Jakk den beiden zu. Er war ihnen einige Meter voraus und konnte nicht gesehen haben, was vorgefallen war. „Alles gut, Kahlis ist nur kurz eingeschlafen.“, antwortete Rhai lachend. „Dann halte ihn wach. Ist noch zu früh für 'ne Pause.“ Jakk hatte sich auf ihre Höhe zurückfallen lassen. Mit musterndem Blick beäugte er die Beiden. „Ich sagte doch du würdest es bereuen, wenn du nicht genug Schlaf bekommst.“ Kahlis vermied es ihn anzusehen. Sein Kopf war noch immer hochrot und er wusste nicht was er Jakk sagen sollte, wenn er ihn darauf ansprach. Dieser schien glücklicherweise jedoch kein Interesse daran zu haben das Thema zu vertiefen. Mit leichtem Druck seiner Hacken hielt er Vida dazu an wieder Tempo aufzunehmen und setzte sich erneut an die Spitze. „Bist du wirklich in Ordnung? Das muss alles ziemlich anstrengend für dich sein.“ Rhai sprach leise und sanft wie er es immer tat. „Ja, mir geht es gut. Ich bin nur ein wenig abgedriftet.“ „Verstehe. Aber bitte sag Bescheid, wenn etwas ist, ja? Jakk mag stur wirken, aber auch er würde dir die benötigte Ruhe niemals verweigern.“ Kahlis nickte. „Ja, ich weiß.“ „Lass dich von seiner schroffen Art nicht abschrecken. Er ist ein guter Mensch doch manchmal fehlen ihm einfach die richtigen Worte, um das zu zeigen.“ Rhais Stimme war voller Wärme während er von Jakk sprach. Und obwohl er sein Gesicht nicht sehe konnte, spürte Kahlis, dass er mit liebevollem Blick zu ihm aufsah. Er selbst hingegen war sich noch nicht sicher, was er von Jakk halten sollte. Sein Gebaren war undurchsichtig und verunsicherte ihn. Rhai jedoch weckte ein Gefühl in ihm, welches er die letzten sechs Jahre schmerzlich vermisst hatte. Sie hatten kaum zwei Tage miteinander verbracht, doch Kahlis glaubte, eine echte Verbindung zwischen ihnen zu spüren. „Möge er dir der Freund sein, der er mir war.“ Unwillkürlich kamen ihm Seys Worte in den Sinn und er musste lächeln. Er hoffte inständig, dass dieser Wunsch wahr werden würde. Die Bäume lichteten sich und schon bald hatten sie den Schemenwald hinter sich gelassen. Ihr Weg führte sie über satte Wiesen und blühende Felder. Stets begleitet vom Rauschen des Flusses machten sie gut Weg. Die Landschaft war hügelig und ab und zu tauchten kleinere Dörfer am Horizont auf. Doch ihr Ziel, die Fischerstadt Geronheim, lag noch weiter im Osten. Es war bereits früher Nachmittag und die Sonne stand hoch am Himmel, als sie beschlossen Rast zu machen. Voll Wonne ließ sich Kahlis rücklings ins Gras fallen. Die Halme waren weich und dufteten wunderbar. Er schloss die Augen und ließ sich von der Sonne wärmen während er dem Gesang der Vögel lauschte. „Sieht aus, als würden wir eine Weile hier bleiben.“, sagte Rhai und setzte sich neben ihn. Sein Blick verwies auf Jakk, der dösend an Vida lehnte. Kahlis konnte sich nur zu gut vorstellen wie müde er sein musste, nachdem er die ganze Nacht Wache gehalten hatte. Obwohl sein Ausdruck stets hart und abweisend war, wirkte sein Gesicht nun ganz weich. Auch Kahlis hatte nichts gegen eine längere Pause einzuwenden. Das stundenlange Reiten war anstrengender, als es den Anschein hatte. Wahrscheinlich würde er sich mit der Zeit daran gewöhnen, doch jetzt war es noch nicht soweit. Er setzte sich auf und holte das mysteriöse Buch hervor. Mit der Spitze seines Zeigefingers folgte er dem Verlauf des Symbols. Während er das Buch und dessen Seiten betastete, spürte er, dass sich tief in seinem Inneren etwas regte. Eine leise Stimme, kaum hörbar, aber fordernd. Ein düsterer Drang erneut sein Blut auf dem jungfräulichem Papier zu verteilen, ergriff seinen Geist. Jakk mag zuvor aus reinem Impuls gehandelt haben, doch er hatte damit irgendetwas erweckt. Mit benebelten Augen betrachtete Kahlis den Schnitt an seinem Finger. Es wäre ein Leichtes die Wunde wieder aufreißen zu lassen. „Tut es noch weh?“ Rhais fürsorgliche Stimme riss Kahlis jäh aus seinen Gedanken. Sein Puls raste doch sein Kopf schien vollkommen leer. Fast so als ob die letzten Gedanken nicht seine eigenen gewesen waren. Nur langsam wurde er sich seiner Umgebung wieder gewahr. „Nein, tut nicht weh.“ Seine Stimme war trocken und brüchig. Eilends schloss er das Buch und verstaute es in der improvisierten Tasche. Ein Teil von ihm fürchtete sich vor dem Geheimnis, das zwischen den blanken Seiten lag. Doch der andere Teil gierte beinahe lüstern nach der unbekannten Macht. „Glaubst du, wir werden in Thal wirklich Antworten kriegen?“ Rhai legte den Kopf schief und dachte nach. „Antworten vielleicht nicht direkt, aber Hinweise auf jeden Fall.“ „Was ist das für ein Ort? Warum gehen wir ausgerechnet dort hin?“, hakte Kahlis wissbegierig nach. Sein Wissen über die Welt um ihn herum war begrenzt und das alles völliges Neuland für ihn. „Thal gelangte einst durch Bergbau zu Reichtum und Macht. Zwar sind die Erzvorkommen längst erschöpft, doch es ist bis heute einer der größten Handels- und Umschlagplätze des Kontinents. Außer materiellen Gütern stehen dort vor allem Informationen hoch im Kurs.“ Kahlis lauschte gespannt und Rhai fuhr fort. „Die Oberstadt mag wie jede andere geschäftige Großstadt wirken, doch sein wahres Gesicht zeigt Thal erst in den verlassenen Minenschächten. Ein unschöner Ort, der auch 'die Unterwelt' genannt wird. Wenn etwas illegal ist, kannst du dir sicher sein, dass du es dort finden wirst. Menschenhandel, Prostitution, Drogen – nichts für sanfte Gemüter. Und genau dieser Ort ist unser eigentliches Ziel.“ Kahlis stockte der Atem, als Rhai dies so leichtherzig deklarierte. Beim schieren Gedanken daran wurde ihm flau. „Kein Sorge, wir passen auf dich auf. Doch die wertvollsten Schätze sind am tiefsten vergraben, da bleibt es nicht aus, dass man sich die Hände schmutzig macht.“ Er verstand. Und wieder wurde Kahlis bitterlich klar, dass Rhai und Jakk in einer völlig anderen Welt lebten, als er es bisher getan hatte. Ein Gefühl schwer wie ein Felsblock zermürbte seinen Magen. Wie viel Blut und Dreck klebte wirklich an den Händen seiner Gefährten? Über wie viele Leichen waren sie gegangen, um dort zu sein wo sie heute sind? Und wie lange würde es dauern, bis auch er selbst diesen Abgrund erblickte? Obwohl die Sonne voll Behagen schien, war ihm plötzlich eiskalt. Rhai lächelte ihn an doch sein Ausdruck glich nichts, was Kahlis bisher bei ihm gesehen hatte. In einer grausam zärtlichen Geste ergriff er seine Hand. Rhais Finger brannten wie Feuer auf Kahlis' unterkühlter Haut. „Du bist kalt. Hast du Angst?“, fragte er mit tiefer Stimme. Es war Kahlis unmöglich darauf zu antworten. Seine Zunge war wie gelähmt. Ganz langsam und vorsichtig hob Rhai Kahlis' Hand und legte diese auf seine Brust. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig. „Hab keine Angst.Ich weiß, es muss erschreckend klingen und wir sind gewiss keine Heiligen, aber wir wahren uns stets unsere Moral als Menschen. Die Gesellschaft, und auch du, mögen verurteilen was wir tun, doch am Ende sind wir einzig uns selbst zur Rechenschaft verpflichtet. Ich bitte nicht um dein Verständnis, aber wir brauchen dein Vertrauen, wenn wir Sey finden wollen.“ Zitternd krallten sich Kahlis' Finger in den Stoff von Rhais Oberteil, sodass die Knöchel weiß hervor traten. Er wollte ihnen vertrauen. Tief in seinem Herzen glaubte er nicht, dass Rhai und Jakk schlechte Menschen waren doch die Stimme seiner Vernunft hielt ihn dazu an Distanz zu wahren. „Ich...“ Das Reden fiel ihm schwer. Rhai hatte nichts getan, um sein Misstrauen zu verdienen und trotzdem zeigte es seine hässliche Fratze so unerbittlich. Mit beinahe brüderlicher Wärme fuhr ihm Rhai mit der Hand durchs Haar und lachte. Er war kräftig und Kahlis fiel beinahe nach hinten über. Schwankend fing er sich mit den Armen ab. „Entschuldige, das war wohl ein bisschen zu viel auf einmal.“ Sein Gesicht strahlte nun wieder im gewohnt freundlichem Glanz. „Ich wollte dich nicht in die Ecke drängen. Allein die Zeit wird zeigen, wie sich dein Herz entscheidet.“ Er stand auf und streckte und dehnte sich ausgiebig. Schelmisch grinsend sah er zu Kahlis hinab. „Aber egal wie die Entscheidung ausfällt, Jakk und mich wirst du so schnell nicht wieder los.“ Er lachte erneut und auch Kahlis konnte sich ein schüchternes Lächeln nicht verkneifen. Es mochte aus Irritation oder reiner Hilflosigkeit gewesen sein, doch es fühlte sich gut an. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Nur die Zeit brachte Klarheit. Zwar quälten ihn tausend Fragen und sie würden es auch morgen noch tun, doch wenigstens in diesem Moment wollte er einfach nur die Sonne genießen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)