Breathtaking von MoonyLupin ================================================================================ Kapitel 5: Brothers ------------------- Was für ‘ne Scheiße. Er hätte es echt besser wissen müssen als gestern Nacht noch nach Hause zu kommen. Zu Hause war sowieso ‘n ziemlich dehnbarer Begriff. Die Bruchbude am Bahnhof, wo sich die ganzen Penner rumtrieben, war im Zweifelsfall immer die bessere Alternative. Selbst wenn‘s nach Pisse und Kotze stank, aber der Geruch da trieb ihm zumindest weniger die Galle hoch als die ganze verfickte Scheiße hier. „Tanz für mich, Baby. Tanz für Mommy.“ Es half nicht mal sich die miefende Decke über den Kopf zu ziehen, wenn die Wände einfach so dünn wie Pappmasche waren. Wobei, wahrscheinlich lags noch nicht mal daran. Wahrscheinlich wars einfach das Gekrächze da direkt vor seiner Tür, das genau auf der einen Frequenz lag, die Aggressionen bei ihm auslöste. Aggressionen, Brechreiz, was auch immer. Vielleicht wars aber auch das erbärmliche Kichern, dass ihn reflexartig die Hand ins Kissen krallen ließ, oder auch einfach die Stille, die so gehorsam folgte. Scheiße, das wars wohl mit schlafen. Ächzend zog sich Cain die Decke vom Kopf, rollte halbherzig zum Bettrand bis er die filzigen Teppichfasern unter den Zehen spürte. Das verdreckte Giggeln war lauter als vorher. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten bis sich der dichte Nebel in seinem Schädel soweit löste, dass er endlich die verdammten Augen aufbekam. Half nicht wirklich, dass er sich trotzdem gleich wieder unters Bett verkriechen wollte, wenn er einfach im Strahl kotzen konnte bei der Creepshow da vor seiner Tür. Es war ja noch nicht mal seine Tür. Seit er denken konnte, musste er sich mit der kleinen Zecke die Abstellkammer von einem Zimmer teilen… Oder hatte es sich teilen müssen bis die Houdinis da oben ihn weggezaubert hatten. Whatever, war ihm eh egal. Und er brauchte auch gar nicht erst hinschauen, um zu wissen, dass das alte Sofa auf der anderen Seite leer war – war ja kaum zu überhören. Wieso hatte er nochmal die Augen aufgemacht? Fuck, zu früh… viel zu früh. Urgh. Den Schnodder von letzter Nacht die Nase hochziehend fuhr sich Cain mit beiden Händen durch die Haare. Unter seinen Fingern fühlten sie sich fettig an. Vielleicht war ne Dusche mal wieder angebracht? Aber bei seinem Glück hatten die Deppen eh wieder das Wasser abgestellt. Ne Überraschung wär‘s zumindest nicht. „Baby, du bist so schön. So heiß. I love you so much, Baby.” Ein tiefer Atemzug später – nicht kotzen, nicht kotzen, nicht kotzen – und Cain raffte sich endlich auf. Brachte ja alles nichts. Das Giggeln bohrte sich noch immer konstant in seinen Schädel und mittlerweile erkannte er auch das armselige Rauschen im Hintergrund als ausgedienten Radio-Hit. Er hätte in Scheiß-Schottland oder Griechenland oder wo auch immer bleiben sollen. Cain machte sich nicht die Mühe das miefige Tanktop oder die keine Ahnung wie alten Sweat Pants auszuziehen – was Sauberes würde er in der Müllhalde von Zimmer eh nicht finden und er lief im Regelfall sowieso so rum wie er gerade aufstand. Als ob es irgendwen in dieser Bruchbude interessieren würde. „Mom“, drang endlich der lang überfällige Protest von der anderen Seite durch. Auch wenns zu scheiße leise war. Auch wenns nicht nach don’t you fucking touch me, bitch und mehr nach please don’t do this to me klang. Und fuck, wenn ihn das nicht noch mehr ankotzte als der ganze verfickte Drecksmist drum rum. Er hatte ihm gesagt, dass er aufhören musste so eine verdreckte Heulsuse zu sein; hatte ihm gezeigt, wie er sich verdammt nochmal selbst helfen konnte. Aber alles was der Pisser konnte war heulen, heulen, heulen und schreien und nach Hilfe rufen. Und was wenn keiner mehr da war, um ihm zu helfen? Was wenn er nicht mehr da war, um ihn daran zu erinnern, dass er verdammt nochmal nicht tun musste, was die Schlampe von ihm verlangte? Armseliger Feigling. „Hey.“ Keine Ahnung ob‘s die Tür war, die gegen die Wand knallte, oder doch seine Stimme, die ihm die Aufmerksamkeit seiner ach so tollen Familie bescherte. Er sah nicht wirklich hin. Stattdessen schlurfte er ein paar Schritte ins Wohnzimmer, kratzte sich gelangweilt unter der schwitzigen Achselhöhle, und las im Vorbeigehen eine der unzähligen angebrochenen Flaschen auf, die seine Füße aus dem Weg räumten. Vodka, hm. Hätte sie ihm besser mal was von abgeben sollen, huh. Vielleicht wäre er dann besser drauf und hätte nicht so’n verdammten Schädel. Er konnte hören wie sie sich hinter seinem Rücken drehte. Konnte sich vorstellen, wie sie ihn erst mit Blicken erstach, nur um dann die Hand in seinen Haaren zu vergraben; die Lippen an seine Schläfen zu legen. Baby, Baby, murmelnd, als ob Cain selbst gar nicht existierte. Als ob er ne Zecke war, die irgendwann schon wieder abfallen würde, wenn man sie nur lang genug ignorierte. Nur scheiße, dass nicht er die Zecke war. Und er verpisste sich auch nicht, wenn er fett genug war. Naja, meistens zumindest. „Mom.“ Es dauerte eine Sekunde bis sie wohl kapierte, dass er sie meinte. Fair enough, vielleicht hatte sie den Teil ihres Hirns schon weggedröhnt, der sie daran erinnerte, dass da ja noch ’n Maul zu stopfen war. Ganz ehrlich, wahrscheinlich war sie sogar jetzt noch drauf, so wie sie sich gab. Überraschend wars jedenfalls nicht. „Mom.“ „Was?! Herr Gott, bist du wirklich so dumm wie du aussiehst?! Die ganze Zeit treibst du dich bei irgendwelchen Pennern und Bullenschweinen rum und jetzt kommst du angekrochen?! Jetzt wo mein Baby endlich wieder da ist! Mein Baby, mein wunderschönes Baby ist da.“ Der kurze Ausbruch war so schnell vorbei wie er gekommen war. Schnippische Worte wurden getauscht gegen zarte Berührungen. Hände wanderten zurück an glatte Wangen, strichen bedacht und vorsichtig mit den Kuppen über blasse Haut, als ob sie Porzellan unter sich hätten. Als ob sie überhaupt ne Ahnung hatte, was Porzellan war. Und der Pisser? Der traute sich nicht mal ihm dabei ins Gesicht zu sehen. Die Hand wanderte tiefer – fanden einen weiten Kragen; ein Hemd, das zu weit aufgeknüpft war – und tauchten hinab, als ob sie dafür gemacht worden waren. Cain schnalzte mit der Zunge – weil verfickt noch eins, wieso musste er eigentlich immer alles selber machen? Er holte aus – die Vodkaflasche noch immer in der Hand – und war sich nicht zu schade dem Hauch Genugtuung nachzugeben, als seine Mutter vor ihm instinktiv zusammenzuckte. Sie kreischte – viel besser als das Gegiggel von vorhin – und während sie die Hände über ihren Kopf hob, streckte Mamas Babyboy schon seinen Arm nach ihm aus. Dabei hätte er verdammt nochmal lachen sollen, ihn anfeuern oder selbst zu ner verfickten Flasche greifen und die Sache beenden. Aber nö, stattdessen rollte alarmierter Protest von Abels Lippen, der im tosenden Klirren unterging als die halbvolle Flasche geradewegs an Mom vorbei durch die grelle Wohnzimmerscheibe flog. Keine Ahnung was lauter war – der Knall selber oder doch das Gekreische vor ihm – war aber auch scheißegal. Das eigene Lachen blendete das meiste davon aus noch während das Geplärre Form annahm. Und bevor Mom sich genug einkriegen konnte, dass Fäuste (oder was auch immer gerade in Reichweite war) auf ihn eindroschen, schnappte Cain nach der Hand seines kleinen Bruders. „Komm schon!“ „Wa—“ Er gab ihm keine Zeit zu protestieren. Seiner Meinung nach hatte er schon genug Zeit gehabt sich zur Wehr zu setzen, wenn er Eier in der Hose gehabt hätte nicht gegen ihn oder die scheiß Flasche, aber gegen alles andere, aber nö. Vielleicht hatte er ja auch einfach Mom‘s Pussi geerbt und musste gerettet werden wie ‘ne bescheuerte Disneyprinzessin. War ne Weile her, dass er die Zecke nackt gesehen hatte. „Warte! Hey— Cain, stopp!” Ein Bus rauschte so schnell an ihm vorbei, dass ihm der Fahrtwind die Haare aus dem Gesicht wusch. Aber es war nicht die dröhnende Hupe oder der woah, Straße!-Gedanke, der ihn plötzlich an Ort und Stelle erstarren ließ – es war die Hand in seiner. Es war der Ruck an seinem Arm, den er im ganzen Körper spürte und plötzlich, mit einem Mal, schien die Welt für einen Augenblick stillzustehen. Er war nicht zu Stein geworden oder so ne Kacke, die man schon mal im Fernsehen sah. Stattdessen war einfach alles runtergefahren. Der Lärm um ihn herum, der Wind in seinem Gesicht, seine Arme, seine Beine, alles war einfach… still. Als ob die Welt aufgehört hatte sich zu drehen. Die ganze Welt. Außer ihm. „Ich hab‘ gesagt, du sollst warten!“ Abels Finger schlossen sich um seinen Oberarm und mit dem Rauschen seiner Stimme, geriet auch der Rest der Welt wieder ins Rollen. Cain blinzelte benommen, das Gesicht seines kleinen Bruders anstarrend und er konnte nicht anders als die Hand zum eigenen Brustkorb wandern zu lassen. Vielleicht hatte er gerade einfach n Herzinfarkt gehabt und seine Gehirnzellen hatten sich verabschiedet? Klang besser als zu glauben, dass der kleine Pisser gerade Matrix gespielt hatte. War doch Matrix, oder? Mit dem Zeitanhalten und so? „Krasser Shit…“ Abel zog die Brauen zusammen, als hätte er keine Ahnung, was er da mal wieder vor sich hin brabbelte. War wahrscheinlich auch so, manchmal war Mr. Genius eben doch nicht so’n Einstein. „Cain! Was zur Hölle?!“ War das nicht sein Text? „Wolltest, dass sie weitermacht, hm?“ Keine Antwort. Klar. Wenn‘s hart auf hart kam, war Babyboy eben doch nur ein kleiner Hosenscheißer. Cain schnaubte abfällig und wenn er Bock auf Gefühle und so ’ne Scheiße gehabt hätte, hätte er vielleicht sowas wie Scham im Gesicht seines kleinen Bruders aufblitzen sehen. Mitleid bekam er deshalb trotzdem keines. Mitleid war für Loser und Pussies. Für die, die sich nicht selbst helfen konnten. Aber Abel konnte es. Cain wusste, dass er es konnte. Er hatte es ihm selbst beigebracht. Wieso er die scheiß Schlampe also noch nicht in ihre Schranken verwiesen hatte, war so’n Ding, das einfach nicht in seinen Schädel passte. War aber auch egal – irgendwo für musste sein großer Bruder Status ja gut sein. „Komm schon.“ Er schnappte erneut nach seinem Arm und diesmal ließ sich Abel zumindest widerwillig darauf ein. Auch wenn er natürlich protestieren musste, war ja klar. Ehrlich mal, wer war hier nochmal der Idiot? „Du hast noch nicht mal Schuhe an! Wo zur Hölle willst du überhaupt hin?!“ Huh? Oh. Jetzt wo er‘s sagte – seine Füße fühlten sich wirklich verdammt nass an. Ein kurzer Blick zum Boden, aber jup, Tatsache, seine Zehen blitzten ihm entgegen. Naja, war jetzt auch nicht weiter tragisch, lag ja kein Schnee oder so. „Is doch scheiß egal. Komm einfach!“ Es stank Abel gewaltig – Cain musste kein Genie sein, um das zu merken – aber immerhin kam er mit ohne sich nochmal zu beschweren. Wahrscheinlich hätte er sogar seine Hand loslassen können und der Trottel wäre ihm trotzdem hinterhergelaufen. Tat er aber nicht, nur um sicher zu gehen. Bis sie das Viertel hinter sich gelassen hatten und endlich da ankamen, wo Cain hingewollt hatte, fühlten sich seine Füße tatsächlich ein bisschen eisklotzhaft an. Regen minus Schuhe und Socken war also ne scheiß Kombi, gut, im Oberstübchen vermerkt, auch wenn er sich fast sicher war, dass er es morgen schon wieder vergessen hatte. Solange alle Zehen noch dran waren, wars auch eher Nebensache, wie er selbst fand. „Wo zur Hölle sind wir?“ Abel starrte das Haus vor ihnen an, als ob es vom Mars war oder so. Vielleicht weil es das komplette Gegenteil ihrer Plattenbaubude war oder vielleicht auch nur weil die Miniatur-Villa ziemlich beeindruckend war, wenn man sie das erste Mal sah. Cain konnte es seinem kleinen Bruder tatsächlich mal nachvollziehen. Normalerweise bekamen ihn keine zehn Pferde in die rich and bitch-Abteilung, es sei denn es gab was zu holen. Also, so wie jetzt eben. „Krass, oder? Gehört so ‘ner alten, reichen Tante. Hat alles eingesackt, als ihr Macker ins Gras gebissen hat vor… keine Ahnung… ‘nem Jahrhundert oder so.“ Der Blick, den Abel ihm zuwarf, sprach Bände. Das hör auf so ‘ne Scheiße zu labern inklusive. „Ich meins ernst! Die Tusse hat die Bullen gerufen, weil sich angeblich irgendwelche Penner hier rumgetrieben haben und hat alles ausgespuckt.“ Jeez, wieso waren Leute nur so vertrauensselig, wenn jemand ne Polizeimarke anstecken hatte? Wenn er die Schweine sah, nahm er in die Regel die Beine in die Hand und rannte. Naja, es sei denn er war der Penner und der Bulle. „Die is‘ jedenfalls weg. Barrakudas oder so.“ Ein kurzer Moment der Stille, dann: „Du meinst Bahamas.“ Gott, er hasste es echt, wenn Abel den Streber auspackte. Als ob der Loser es darauf anlegte eine verpasst zu bekommen. Vielleicht tat er‘s ja auch. Würde ihn nicht wundern, wenn er in seiner fancy schmancy Schule mindestens einmal am Tag den Kopf im Klo stecken hatte. Oder vielleicht hokuspokusten Houdinis ja auch Toiletten auf Köpfe. Eins von beidem wars bestimmt. Verdient hatte er‘s. „Bist du hier um klug zu scheißen oder kannst du auch was nützliches?“ Er meinte nach dem Seufzer noch leises Gebrabbel zu hören, sowas wie „…um zu klugscheißen“, aber Cain ignorierte es, beziehungsweise, verpasste Abel ‘n Faustschlag gegen die Schulter, was genauso gut war und ihm ein zufriedenstellendes Autsch bescherte. Eigentlich hatte er vorgehabt durchs Fenster einzusteigen – ne zerbrochene Scheibe hinterm Haus fiel weniger auf als ne aufgebrochene Tür – aber es war Abel, der ihn am Träger seines Tanktops packte und mit einer viel zu selbstgefälligen Fratze zum Eingang zog. Dass er sich das ganze ohne Brecheisen sparen konnte war eigentlich klar, aber Cain sah trotzdem skeptisch dabei zu, wie sein kleiner Bruder das komische Zauberstabdingens von irgendwoher kramte. Vielleicht hatte er‘s ja im Arsch stecken gehabt, würde so einige Sachen erklären. Jedenfalls laberte er irgendwas von wegen Aloha vor sich her und machte einmal wischiwaschi hin und her und die Tür sprang auf als hätte sie nur auf das Sesam öffne dich gewartet. Aber wer Matrix konnte, konnte wohl auch das. „War doch gut, dass ich dich nich‘ irgendwo ausgesetzt hab als Baby.“ Mit der Hand durch die Haare des Kleineren wuschelnd, rollte ihm das Lachen ganz alleine von den Lippen als Abel seinen Arm murrend wegschlug und ihm ins Haus folgte. Es war massig; das komplette Gegenteil von ihrer Bruchbude und das nicht nur, weil es nach Blumen oder Parfüm oder sowas roch, statt nach Alkohol und Zigaretten und Kotze. Die Küche war so groß wie ihr ganzes Apartment und so sauber und aufgeräumt, dass Cain sich zu einhundert Prozent sicher war, dass die Tusse, die hier wohnte, nie auch nur n‘ Ei gebraten hatte. Wahrscheinlich war der Kühlschrank voll mit Schampus und Kaviar und so ein Mist, den keiner wirklich mochte, aber zum Protzen gut genug war. Hah, na bitte, zumindest die Champagnerflaschen waren da. „Bock auf Pizza?“ Abels Stimme hinter ihm ließ ihn den Kühlschrank, Kühlschrank sein lassen. Die Zecke wedelte mit einem Bündel Scheine vor seiner Nase rum, den er in irgend ‘ner Schublade gefunden haben musste und Cains Mundwinkel hoben sich. Pizza war n guter Anfang. Es dauerte ne Dreiviertelstunde, aber am Ende saßen sie mit Pizza, Chicken Wings, irgendwas das nach Kebab roch und mindestens fünf verschiedenen Softdrinks vor dem 70 Zoll Fernseher im Schlafzimmer. Nachdem sie das Haus genauer unter die Lupe genommen hatten und Cain sich nebst Socken auch ein paar neue Klamotten gegönnt hatte („Muss ihrem Macker gehört haben oder aber die Alte hat sich ‘n Toyboy geangelt.“), war recht schnell das Kingsize-Bett als Hauptquartier erkoren worden. Er war sich auch ziemlich sicher, dass Abel den Pulli, den er anhatte, aus ihrem persönlichen Kleiderschrank gekramt hatte – sowas konnte man nur anziehen, wenn man ne Möse hatte und das hatte er ihm auch genauso gesagt – aber dann war das Futter gekommen und das Mösenproblem vergessen. Jetzt saß er rülpsend auf dem Bett und zippte durch die 5 Millionen Kanäle, auf denen kein einziger Porno lief. „Du bist widerlich.“ „Du bist widerlich.” „Wirklich geistreiche Erwiderung.” Er rülpste nochmal, diesmal in Abels Richtung, aber mehr als seine angewiderte Fresse bekam er nicht zurück. Es dauerte eine Weile, bis Abel wieder den Mund aufmachte. Und obwohl Cain ihn erst teasen wollte, dafür dass er anscheinend selbst ne halbe Stunde brauchte, um sich ne schlaue Antwort auszudenken so viel zum Thema Genie, war es anscheinend etwas ganz anderes, dass seinen Bruder so lange hatte zögern lassen. „Du solltest einfach mitkommen. Nach Hogwarts, meine ich.“ Abels Stimme war viel zu leise und ernst für seinen Geschmack. Nicht ganz so schlimm wie am Morgen, aber er hasste es trotzdem. Vielleicht ging er deshalb erst mal nicht darauf ein, sondern verzog die Lippen zu einer Grimasse und zappte weiter durch die Kanäle. Man, wenn er auf etwas keinen Bock hatte, dann auf diese Diskussion. Es war ja nicht das erste Mal, dass der Scheißer es anschnitt und jedes Mal wusste Cain was dahintersteckte. Mitleid. Dafür, dass Abel ihn als so einen Deppen abstempelte, war er ganz schön bescheuert, wenn er dachte, dass er das nicht checkte. Er hatte Mitleid mit ihm, weil er hier in dieser Dreckshöhle verrottete, während Babyboy in seine strahlende Zukunft ging. Weil Cain dumm wie Stroh blieb, während Wonderchild allen zeigte, dass Einstein von gestern war. Schön für ihn. Er würde ihm nicht das Gegenteil beweisen. Im alleine Durchboxen war er schon immer besser gewesen, als die Leute ihm zutrauten und vor allem besser als die Zecke. „Cain.“ Der Fernseher wurde schwarz. „Deine dämliche Eliteschule kann mir gestohlen bleiben.“ Abels kritischer Blick spiegelte sich im dunklen Hochglanzbildschirm vor ihm, aber er weigerte sich trotzdem ihn direkt anzusehen. „Was für ne Eliteschule bitte? Hogwarts ist kein Internat für Hochbegabte. Jeder kann dort hinkommen, der so ist wie du und ich.“ Das grunzende Schnauben kam von allein seine Kehle hoch. Wie du und ich, schon klar. Weil sie sich ja so ähnlich waren. Weil sie ja bei Cain gedacht hatten na, so viel Ärger isser nun auch nicht wert und um seinen kleinen Bruder gekämpft hatten, bis Junkiemom doch nachgegeben hatte. So viel dazu. Aber okay – er war kein Arschloch, nur damit das klar war. Er gab zero fucks auf diese Bürohoudinis, die irgendwie entschieden wer die Mühe wert war und wer nicht, aber er gab umso mehr fucks, wenns um den Pisser ging. Auch wenn er ihm das in der Regel nicht unter die Nase rieb. Mochte sein, dass er das ganze Uri Geller-Gehabe für Schwachsinn hielt und er eigentlich keinen blassen Schimmer hatte, was genau Abel da am Arsch der Welt eigentlich trieb, aber als sie ihn weggeholt hatten, war er irgendwo auch… erleichtert gewesen. Irgendwie zumindest. Auch wenn es ziemlich pussihaft war es sich einzugestehen. Naja, whatever. Er selbst schlug sich schon irgendwie durch; hatte einen Weg gefunden, um sich in ihrem Viertel und alles was eben dazu gehörte zurechtzufinden. Abel war nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt. Noch nie gewesen und würde er auch nie sein. Er gehörte nicht auf die Straße, nicht dahin wo es Cain nachts hintrieb. Es war gut, dass er weg war. Aber genauso wenig wie Abel hier hingehörte, gehörte er dorthin. „Na, lass gut sein.“ Er schüttelte den Kopf. Hob den Schalter zum Fernseher, um zu gucken ob jetzt mehr lief als nur Hausfrauenkacke. „Ich kann eh nich‘ so ne krasse Matrixscheiße wie du.“ „Matrixscheiße?“ Abel hatte scheinbar andere Pläne als sich damit abfertigen zu lassen und griff nach der Fernbedienung, um sie ans andere Ende des Bettes zu schmeißen. „Hey!“ „Ich meins ernst, Cain! Ich hab‘ keine Ahnung was du mit Matrixscheiße meinst, aber ich weiß, dass du auch mit Magie umgehen kannst. Sonst hätten sie damals nicht versucht dich mitzunehmen. Jeder der Magie beherrscht, hat ein Recht nach Hogwarts zu gehen. Du auch!“ Die Zecke brachte ihn echt dazu mit ihm zu diskutieren. Noch schlimmer – er seufzte sogar und wenn er seufzte war er echt schon angepisst. Jeder andere hätte schon längst was in die Fresse bekommen. Hoffentlich wusste Babybrother seine Zurückhaltung zu schätzen. „Ich meins auch ernst, Abel.“ Und auch wenn er null Bock drauf hatte drehte er sich widerwillig zur kleinen Zecke um; musterte das faltige Runzeln auf der Stirn mit einem Schnauben und schüttelte den Kopf, bevor er die Hand hob und so fest es ging dagegen schnippte. Der Kleine zuckte zurück und das schadenfrohe Lachen, dass Cain entwischte, nahm zumindest einen Teil der Anspannung weg. „Das was du vorhin abgezogen hast? Der Shit mit dem Zeitanhalten? Oder das Aloha-Dingens vor der Tür? Das ist nicht mein Ding. So Zeug kann ich einfach nicht.“ Er zuckte mit den Schultern, weil es einfach so war. Eine Tatsache, die Abel einfach nicht leugnen konnte, egal wie sehr er schon ansetzte um dagegen zu wettern. Aber Cain war schneller. „Ich kann nur… sowas hier.“ Und mit einem schrägen Blick zur eigenen Stirn, leuchteten da wo zuvor noch tiefschwarze Strähnen dominiert hatten ein helles Blond, das sich in Windeseile über seinem gesamten Schädel ausbreitete. Selbst seine Brauen verloren die dunkle Farbe. Als er die Augen wieder auf Abel richtete, warf er ihm einen Blick zu der im wahrsten Sinne des Wortes Bände sprach. Für einen kurzen Moment fragte sich Cain sogar, ob er sich damit gerade ans eigene Bein gepinkelt hatte, weil sein kleiner Bruder so aussah als würde er sich am liebsten frustriert die eigenen Haare vom Kopf reißen diesen wieso bist du eigentlich so dämlich, genau davon hab ich doch gerade gesprochen-Blick kannte er einfach schon zu gut. Aber stattdessen atmete Abel einmal tief durch, begutachtete die blonde Haarpracht mit einem kalkulierten Aufblitzen in den Augen, das Cain nicht verstand und traute sich dann – oh Wunder – sogar an ein kackendreistes Schmunzeln. Pisser, ey. „Netter Trick. Macht sich bestimmt gut auf deiner nächsten Geburtstagsfeier.“ Er ließ das Thema fallen. Ganz bewusst, das war klar, obwohl Cain keine Ahnung hatte wieso. Vielleicht hatte er gecheckt, dass er seine Meinung eh nicht ändern würde oder aber er hatte einfach genauso wenig Bock drauf wie Cain. Stur sein konnten sie immerhin beide ziemlich gut und am Ende hätte einer von beiden geheult, weil auf die Fresse bekommen. Wer von ihnen war ja wohl klar. Cain wusste es besser, als nicht auf das zweifelhafte Friedensangebot einzugehen. „Als ob du ‘ne Ahnung von Geburtstagsfeiern hättest.“ „Arschloch.“ „Pussie.“ „Bastard.“ „Selber.“ Keine Ahnung wer zuerst mit dem Giggeln anfing, aber es endete ziemlich schnell in ‘nem ausgedehnten Lachanfall, der mindestens die Hälfte der halbvollen Pizzakartons und Fastfoodcontainern auf dem Boden landen ließ. Der Zwerg war sogar so dreist, dass er ein paar Kommentare über seine Dolly Parton-Haare fallen ließ keine Ahnung wer das sein sollte, aber er war sich ziemlich sicher, dass er den Schubser aus dem Bett durchaus verdient hatte und am Ende lagen sie beide Schulter an Schulter auf dem komplett zerwühlten Bett zwischen nem halben Dutzend Chicken Wings und nem ecklig klebrigen Fleck Cola. Es fühlte sich so gut, dass Abel wohl beschloss doch nochmal seine Eier auszupacken. „Hey…“ „Hm?“ Obwohl die Stimme seines Babybrothers mal wieder diesen I’m not kidding-Ton anschlug, den Cain so sehr mochte, war es diesmal doch irgendwie anders als vorher. Er wollte nicht mit so Weichei-Worten wie sanft oder so ner Kacke ankommen, aber naja, Abel war halt ne Pussie, da lags halt nahe. „Wenn ich wiederkomme… Wenn ich meinen Abschluss gemacht hab, dann gehen wir zusammen nach London.“ Es lag an ihm die Stirn zu runzeln. Keine Ahnung wie er jetzt auf die Idee kam. Obwohl Cain schon mal in die Hauptstadt getrampt war und sich da ein paar Nächte um die Ohren geschlagen hatte, kam ihm der Gedanke doch ziemlich weit hergeholt vor. Birmingham lag nahe – im wahrsten Sinne des Wortes und sie hatten bestimmt unzählige Tage dort verbracht, wenn sie mal wieder keinen Bock auf daheim gehabt hatten – aber was Abel ausgerechnet in London wollte, keinen blassen Schimmer. „Weil dein Boyfriend da auf dich wart– Ouch!“ Okay, den hatte er verdient. Gut zu wissen, dass der Kleine doch nicht alles verlernt hatte. Cain rieb sich über die schmerzende Schulter – hin und her gerissen zwischen Lob oder Rache – als die Zecke sich auch schon erklärte. Er spürte den vielsagenden Blick auch ohne den Kopf zu drehen. „Nein. In die Winkelgasse. Wir besorgen dir einen Zauberstab.“ Das amüsierte Grunzen rutschte einfach so raus. Ernsthaft jetzt? Hatten sie die Diskussion nicht gerade schon gehabt? „So ’n Ding was du die ganze Zeit durch die Gegend wirbelst? Das is‘ doch Kinderkacke, sowas brauch ich nich‘.“ „Dieses Ding“ und Cain spürte wie sich Abel neben ihm bewegte, bis er blinzelte und ein erbärmlich aussehender Ast vor seinem Gesicht baumelte, „hilft dir dabei deine Magie zu lenken. Jeder Zauberer braucht einen.“ „Ich hab‘ doch gesagt, ich kann nich‘ so ne Houdini-Scheiße—“ „Doch, kannst du. Ich weiß, dass du es kannst.“ Und etwas in seiner Stimme brachte Cain dazu ihn anzusehen. Dunkle Augen waren auf ihn gerichtet, als ob sie sagen wollten glaub mir, glaub mir, glaub mir, obwohl er keine Ahnung hatte wieso er das tun sollte. Sicher, es passierten hie und da schon mal merkwürdige Dinge um ihn herum und er erinnerte sich daran, dass dieser alte Opa der auch Abel mitgenommen hatte irgendwas von wegen Anzeichen magischer Begabung oder so gefaselt hatte, aber… es hatte nicht gereicht, oder? Es hatte nicht gereicht, um ihn schlussendlich wirklich mitzunehmen. Für Abel ja, für ihn nicht. „… Meinst du echt?“ Sein Blick sank nach unten. Irgendwo zwischen zerwühltem Laken und Abels Bienchen und Blümchen-Hemd. Aber kaum hatten die Worte seine Lippen verlassen, spürte er fremde Hände an seinen Schultern, entschlossen und fest. Blinzelnd sah er auf; tiefbraune Augen, die er viel zu gut kannte, brannten sich in sein Gedächtnis. „Vertraust du mir?“ Die Frage kam so direkt und energisch rüber, dass Cain sich von ihr überrollt fühlte. Nicht, weil er keine Ahnung hatte, wie er darauf reagieren sollte okay, vielleicht schon, aber weil sie irgendwie in Gefilde abtauchte, die in seiner Familie eigentlich eher umschifft wurden. Klar hatte er eine Bindung zu seinem kleinen Bruder, die er um nichts in der Welt eintauschen würde und der Kackzwerg war ihm auch wichtig, aber Gefühlsduselei war nie ein Teil davon gewesen und das hier kam dem schon ziemlich nahe. Zu nahe, eigentlich, aber… Der Druck um seine Schultern wurde stärker, intensiver und obwohl es Cain unangenehm war überhaupt auf sowas einzugehen, rang er sich doch zu einem abgehakten Nicken durch. Es war nicht viel, kaum der Rede wert, aber es reichte. Natürlich vertraute er ihm. Wem konnten sie schon vertrauen, wenn nicht sich selbst? So war es schon immer gewesen und so würde es auch immer sein. Bescheuerte Frage, ehrlich mal. Trotzdem – als Cain die Augen hob, hatte Abel noch immer nicht den Blickkontakt gebrochen. Stattdessen hob der Pisser doch tatsächlich die Hand und wuschelte ihm durch die noch immer blonden Strähnen. Konnte man mit ner gebrochenen Hand auch noch zaubern? Vielleicht wars an der Zeit es rauszufinden. Dabei allein beließ der Kleine es aber nicht. Scheinbar waren die Jahre im Kindergarten noch nicht lange genug her, denn mit einem dicken, fetten Grinsen bewaffnet, schob sich plötzlich Zeckes kleiner Finger zwischen sie. Er hätte ihn ja am liebsten ausgelacht oder verkloppt, weil was für ein Weichei war er bitte, aber irgendwas brachte ihn dazu genau das nicht zu tun. Trotzdem verdrehte er aus reinem Trotz die Augen – damit es zumindest so aussah als hätte er absolut keinen Bock auf die Scheiße – und dann krallte sich Abels kleiner Finger auch schon wildumschlossen um den eigenen. „Wir gehen nach London. Du und ich. Versprochen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)