The Weight Of The World von Puppenspieler ================================================================================ III. Not Quite Human -------------------- „Morochka.“   Ein erster Abgleich mit seiner Datenbank ergab keinen einzigen Treffer, der im Zuge ihrer letzten Konversationen Sinn machen würde, nicht, dass Morisuke sich aktiv erinnerte. Eine Überprüfung der gespeicherten Gesprächsprotokolle bestätigte seine Vermutung. Er warf einen Blick zur Seite, hob die Augenbrauen. „Was?“   (Er bereute, gefragt zu haben. Sofort war sein Mund voller Sand. Wenn er seinen Treibstofffilter jetzt unnötig riskierte für eine dumme Plapperei, dann…!)   „Das ist ein Spitzname.“ Es war nichts Wichtiges. Warum hatte er noch etwas anderes geglaubt? Diese neuen Modelle wurden längst nicht mehr pragmatisch genug programmiert. Sicher war das ein Fortschritt, immerhin wurden Androiden lange nicht mehr nur für die Außeneinsätze in Gefahrenzonen eingesetzt, sondern teilweise auch als ganz gewöhnliche Haushaltshilfen, aber – trotzdem. Sollten sie die neuen Modelle eben oben in den Kolonien behalten und nur noch die zur Erde schicken, die auch taugten! Er schüttelte unwirsch den Kopf. „Halt die Klappe und beweg dich, ich will hier bevor ich schon wieder einen neuen Treibstofffilter brauche.“   Lev machte den Mund auf, um zu widersprechen, und im nächsten Moment klappte er ihn freiwillig wieder zu, weil ein beißender Windstoß ihm eine gute Portion aufgewirbelten Sand hineinwehte. Geschah ihm recht. Beinahe ein bisschen befriedigt von Levs Schmach stapfte Morisuke weiter, den Mund zu einem unzufriedenen Strich zusammengepresst.   Er hasste die Wüste. Es gab keinen Androiden, der die Wüste nicht hasste. Sand im Getriebe war das undankbarste, das man sich antun konnte – neben einem Urlaub irgendwo in einem See, bis man anfing zu rosten. So dumm war allerdings auch niemand, und bisher waren ihre Kommandanten und Erschaffer noch nicht auf die Idee gekommen, dass es klug sei, in den Tiefen der riesigen Wassermassen der Erde nach einer Lösung ihrer Probleme zu suchen. Wasserproben, ja. Aber die kamen wunderbar ohne rostfördernde Tauchgänge aus.   (Was genau diese Probleme waren – als einfacher Android hatte Morisuke Zugang zu den wenigsten Daten. Etwas in der Erdatmosphäre war tödlich für den Menschen geworden, schon vor unzähligen Jahren, also waren sie auf Kolonien im Weltall ausgewandert. Hatten dort begonnen, Androiden zu bauen, die immun gegen die Veränderung waren, um mit ihrer Hilfe Proben zu sammeln und festzustellen, was überhaupt Ursprung der Gefahr war und wie man sie zerstören konnte. Und deshalb waren sie jetzt hier, lange nicht mehr zum ersten Mal, auch wenn bisher alle Bemühungen der Menschen fruchtlos geblieben waren.)   Sie marschierten eine gefühlte Ewigkeit. Nahmen die erforderlichen Proben vom Erdreich und der Luft, dokumentierten etwaige Veränderungen im Landschaftsbild seit dem letzten Mal, das ein Trupp hier gewesen war. Sie kamen immerhin gut und zügig voran – Morisuke war froh, letztlich in ein Update seiner Bewegungskapazitäten investiert zu haben.   (Es war purer Stolz gewesen. Seit sie ihm Lev als Partner hingeworfen hatten, hatte er jeden Tag mit Frust feststellen müssen, dass der Andere allein aufgrund seiner längeren Beine bedeutend schneller war als er. Jetzt nicht mehr.)   Im Gegensatz zu Menschen spürte Morisuke keinen Hunger, keine Müdigkeit. Erschöpfung war ihm genauso fremd, außer er arbeitete mit einem eingeschränkten System oder einer drastischen Systemüberlastung. Androiden waren dazu gebaut, rund um die Uhr einsatztauglich zu sein, und gerade jetzt war er nur dankbar darum. Er hätte nicht in der Wüste übernachten wollen. Etwas zu essen zwischen den Felsen und struppigen Pflanzen suchen müssen. Es gab Tiere, hier und da, aber das Jagen hätte die Nahrungssuche auch nicht wirklich erleichtert. Im Gegensatz zu Morisuke waren diese Ungetüme an das Leben in der Wüste angepasst.     Mit Einbruch der Nacht unterbrachen sie ihren Marsch trotz fehlender Erschöpfung. Die Winde hatten sich gelegt und die Luft war still, sandfrei. Es war eine gute Gelegenheit, zumindest erste Reinigungen vorzunehmen, um größeren Wartungen vorzubeugen. Außerdem mochte Morisuke nicht, wenn er das Gefühl hatte, seine Gelenke würden überall knirschen, auch wenn das grundlegender Blödsinn war – das Innenleben seines Körpers war gut genug beschützt, dass das nicht passieren sollte, dann wiederum konnten die aggressiven Winde und die feinen Sandpartikel mehr Schaden anrichten, als man manchmal meinte.   Sicher war also in jedem Fall besser. „Warum lassen wir das nicht Kenma-San machen?“ Levs unnötiger Kommentar ließ Morisuke innehalten. Er warf einen vernichtenden Blick auf den Riesen, der mit lächerlich überzogen verzogener Schmollschnute auf einem Felsen saß und Sand aus seinen Schuhen kippte. „Weil es unsere Aufgabe ist, während Außeneinsätzen dafür zu sorgen, dass wir ohne größeren Leistungsverlust arbeiten können.“ „Ja aber–“   Morisuke ignorierte ihn. Er mochte es nicht, Kenma und seinem Wartungsteam unnötige Arbeit mitzubringen; der Kerl sah ohnehin irgendwie immer überarbeitet und erschöpft aus. Und Morisuke konnte es verstehen. Jeder klagte über diesen merkwürdigen Produktionsfehler Hinata, der ein unvernünftiger Wildfang war, kaum einen Auftrag abschließen konnte, ohne fünfmal vom Weg abzukommen, und ungefähr dreiviertel seiner Funktionen zu beschädigen – und ausgerechnet Kenma war für seine Wartung zuständig. Als eins der allerneusten Modelle war Hinata offenbar so komplex und anspruchsvoll im Aufbau, dass es dafür ein entsprechendes Fingerspitzengefühl brauchte, von dem Kenma beneidenswert viel mitbrachte. Aber das bedeutete eben auch, dass er beinahe jedes Mal, wenn Morisuke zu seiner regelmäßigen Überprüfung antrat, mit Hinata beschäftigt war. Wäre er nicht neben seinen unzähligen Fehlern das Modell mit der aktuell höchsten Bewegungskapazität und Robustheit auf dem Markt, Morisuke war sich sicher, er wäre längst wieder deaktiviert worden. Aber so… blieb die fehlerhafte Programmierung einfach bestehen. Selbst ein Reset hatte nicht geholfen, hatte er gehört.   Die neueren Modelle wurden wirklich immer sinnloser. Solange sie ihren Job machten…   „Morochka.“   Schon wieder. Morisuke machte sich dieses Mal nicht mehr die Mühe, seine Datenbanken nach einer Lösung zu überprüfen. Er machte sich aber auch nicht die Mühe, Lev noch einmal nach dem Sinn zu fragen – ein Spitzname? Na und? Wo hatte er das aufgegabelt? Hatte er die Kinderbücher gelesen, die Teil seines Nebenjobs als Babysitter waren? „Ich habe in diesem Buch gelesen, dass Menschen sich früher Spitznamen gegeben haben, wenn sie sich besonders gern hatten.“   Klang tatsächlich so. Morisuke seufzte, und er gab sich alle Mühe, so genervt zu klingen, das Lev es gar nicht fehlinterpretieren konnte. „Wir sind aber keine Menschen.“ Also war es für sie völlig irrelevant. Sie waren für eine bestimmte Aufgabe programmiert. Mehr nicht. Spitznamen verteilen gehörte nicht dazu. Auch wenn Lev das natürlich anders sah:   „Aber wir sind nach dem Abbild der Menschen erschaffen. Also ist das doch nur richtig, wenn wir auch Spitznamen haben. Und Beziehungen.“   Erst jetzt wurde Morisuke bewusst, dass dieser merkwürdige Spitzname für ihn sein sollte. Der schiere Unglaube darüber ließ seine Denkprozesse einen Augenblick aussetzen. Die plötzliche Unruhe im System erhöhte seine Pulsfrequenz. Er schüttelte vehement den Kopf.   „Ich will keinen Spitznamen.“ – „Aber Morochka!“   Für Morisuke gab es kein Aber. Er trat genervt nach Levs lächerlich langen Beinen, traf ein Schienbein. Lev jaulte vor Schmerz auf, doch es sah nicht aus, als wollte er aufgeben. Noch während er sich jammernd die getretene Stelle rieb, schien er zu einem neuen sinnlosen Widerspruch ansetzen zu wollen. Er sollte noch einmal zutreten. Für den Moment beließ er es aber bei einer mündlichen Warnung: „Halt den Mund, Behemoth!“   Lev erstarrte. Morisuke erstarrte, weil das nicht die Reaktion war, mit der er gerechnet hatte.   Mit einem Grinsen, das Levs Mund langsam zu besorgniserregender Breite verzog, hatte er noch weniger gerechnet.   „Siehst du? Du machst es auch!“   Morisuke öffnete den Mund, um zu widersprechen. Das ist kein–! Er fand die Worte nicht, weil Levs Grinsen ihn ablenkte, und schlussendlich schüttelte er doch nur wieder den Kopf, irgendwo zwischen genervt und resigniert, rutschte von dem Felsen hinunter, auf dem er gesessen hatte und klopfte sich den Staub vom Hosenboden. „Beweg dich, wir müssen weiter.“ Mussten sie strenggenommen nicht sofort, war Morisuke war das Bedürfnis danach vergangen, hier sitzen zu bleiben und Smalltalk zu riskieren. Hieß, er schluderte zwar seine Reinigung, aber schonte dafür seine Denkprozesse, die Lev gerade mit einer Freude durcheinanderbrachte. Immerhin gehorchte Lev und zog seine Schuhe wieder an, trat grinsend an seine Seite.   „Ich bin da, Morochka!“   Mehr aus Reflex überprüfte er doch noch einmal seine Datenbanken. Neben zahllosen, nutzlosen Ansätzen, die im Kontext keinen Sinn ergaben, entdeckte Morisuke einen neuen Eintrag, den er unbewusst (Lev brachte ihn wirklich aus dem Takt!) autorisiert haben musste:   Mein Spitzname. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)