Warte, warte nur ein Weilchen von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 7: Eine neue Perspektive / 09.11.1918 --------------------------------------------- „Lotti ist wahrscheinlich in ihrer Wohnung umgebracht worden!“, rief Anni so eindringlich es ging. Ihr Herz schlug bis zum Hals und die warme, feuchte Luft in der Küche machte es ihr nicht einfacher zu Atem zu kommen. Sofort brach ihr der Schweiß aus. Löb, der gerade Kohle nachgelegt hatte, stemmte sich auf seinen Stock und richtete sich auf. Auch ihre Mutter sah sich um, blass, still, in sich gekehrt, wie sie es immer war. Unter ihren Augen hatten sich tiefe Schatten eingegraben, die Wangen wirkten eingefallen und die vollen Lippen spröde und farblos. So verhärmt hatte Anni sie heute früh nicht zurückgelassen, oder doch? „Was redest du da?“, fragte sie mit brüchiger Stimme und sah auf die Küchenuhr, während sie mit dem Fuß das Schwungrad der Nähmaschine anhielt. „Warum bist du überhaupt schon hier?“ Anni wies nach oben. „Lottis Tür war offen und ich bin in ihre Wohnung gegangen. Im Spülstein ist Blut und die ganze Wohnung ist geputzt …“ „Vielleicht hat sie sich geschnitten“, murmelte Mutter teilnahmslos. Anni nickte, schüttelte dann aber den Kopf. Sie wandte sich an Löb, der nähergekommen war. „Als ich ankam, fuhr gerade ein Lastkraftwagen aus dem Hinterhof. Hinter dem Steuer saß ein Mann mit glühenden Augen …“ Sie unterbrach sich. Es fiel ihr schwer in Worte zu fassen, dass eventuell Wolff und der unsichtbare Mann von der gleichen Art waren. Sie konnte ihn nicht bloßstellen, schließlich war er ein Freund, der Beschützer ihres Zuhauses. „Ich bin mir sicher, dass es der Gleiche war, der uns angegriffen hat. Und ich glaube, dass er gestern Nacht schon bei Lotti war.“ Löb hob die Hand und brachte Anni zum Verstummen. In seinen Zügen lag Angst. „Es sind zwei“, murmelte er tonlos. Anni nickte. „Dachte ich mir fast schon, der, den Herr Wolff verfolgt hat, und der zweite, der es auf Sie und mich abgesehen hatte.“ In einer beinah hilflosen Geste ergriff Löb ihre Schulter und drückte sie. Anni fühlte sein Zittern. Er drehte sich zu Mutter um. „Frau Beckmann, gehen Sie mit Anni zu Familie Tranitz und verlassen anschließend das Haus. Von Stürickow soll kommen und am besten so viele bewaffnete Männer wie möglich mitbringen. Sagen Sie ihm, wir haben es mit dem Gleichen zu tun, der damals Heinrich verstümmelt und Fräulein Driesen ermordet hat!“ Anni wurde es bei den Worten kalt. Halfen Waffen gegen solch einen Gegner? Sie bezweifelte es. „Hier, im Haus, jetzt?“, hauchte ihre Mutter. Ihre Augen weiteten sich. Sie sprang auf, kam um den Tisch herum und umklammerte seinen Arm. „Konrad“, wisperte sie, „wo ist Heinrich? Warum ist er nicht hier?“ Wortlos schüttelte er den Kopf. Wahrscheinlich wusste er nicht, wo Wolff sich aufhielt. Vielleicht hatte er sich auf die Spur des Monsters gesetzt … Anni fühlte sich plötzlich fest von ihr in die Arme geschlossen. Die schiere Geste tat gut, beruhigte sie aber keineswegs. Schutz gab es vor dem Mann nicht. Vorsichtig befreite sie sich und sah ihre Mutter an. „Ich habe die Hoftür geschlossen und die Eingangstür ist auch zu … auch wenn ich nicht sicher bin … einer von ihnen war gestern hier drin, im Flur.“ „Sie wissen es besser, Anni!“ Abfällig schnaubte Löb. „Seine Präsenz ist durch Wand und Türe gesickert, machen Sie sich nichts vor. Mit solchen Kleinigkeiten hält sich ein solches Geschöpf nicht auf. Vor allem, weil es nicht ein Mann, sondern zwei sind.“ „Das habe ich mir schon gedacht.“ Anni griff in ihren Mantelkragen. „Einen hat Herr Wolff verfolgt, der andere griff uns an.“ Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte Anni. „Was, wenn der erste, der durch die Wand kam, Heinrich absichtlich fortgelockt und so lang beschäftigt hat?“ Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Die feuchte Luft nahm ihr den Atem, trotzdem spann sie laut den Gedanken weiter. „Herr Wolff, Heinrich, kam heute früh gar nicht mehr dazu, mich in das einzuweihen, was er erfahren hatte. Lotte hat mich sofort zur Arbeit gescheucht.“ Noch während sie die Idee aussprach, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals: Zweifel an Lotte. Sie hatte willentlich verhindert, dass Wolff seine Erlebnisse aussprechen konnte. Anni biss sich auf die Unterlippe. Was, wenn Lotti schon die ganze Zeit gegen sie gearbeitet hatte? Anni schauderte. Sie war kurz nach den ersten Kindermorden hier eingezogen, hatte in dieser Wohnung freien Zugang überallhin und vermied es Wolff unter die Augen zu treten. Anni hatte nicht vergessen, wie er am ersten Tag ihre Witterung in sich aufgesogen hatte. Das starke Parfum irritierte ihn vielleicht, verwirrte seine Einschätzung. Unsanft löste Anni sich aus Mutters Griff. An diesem Tag war auch noch etwas anderes sehr auffällig gewesen: der Lärm des Lastkraftwagens. Lieferungen kamen morgens, nicht abends. Kannte Lotti die beiden Männer zu dem Zeitpunkt etwa schon? Unsicher schaute sie hinauf. Ein Hauch von Zweifel blieb zurück. Was wenn sie sich irrte und Lotti nichts von den Umtrieben gewusst hatte? Dann konnte es sein, dass Lotti als Mitwisserin aus dem Weg geräumt worden war. Und was, wenn der zweite Mann, nicht der Fahrer, noch oben in der Wohnung gewesen war? Ihre Haut begann zu prickeln. Dann wäre sie die ganze Zeit mit einem Mörder zusammen gewesen. Die Kälte ließ sich nicht mehr vertreiben. „Woher wissen Sie, dass es zwei Männer sind?“, fragte Mutter. „Sie machen Anni Angst. Wer sagt, dass wir es wieder mit den Landsern zu tun haben?!“ Ihre Stimme schnappte über. Annis Blick glitt von den ängstlichen Zügen ihrer Mutter zu Konrad Löb, der ernst und nachdenklich wirkte. „Anni hat recht und Heinrich ist sich sicher, Annemarie“, flüsterte er. „Vielleicht sind es nicht dieselben beiden Männer, aber er hat einen von ihnen heute früh verfolgt.“ Mutter gab einen hohen, hilflosen Laut von sich. Stumm weinte sie. Anni spürte ihr Beben, die tiefsitzende Urangst, die sie wahrscheinlich über Jahrzehnte mit sich geschleppt hatte. Es war besser, wenn sie das Haus verließ, fraglos. Behutsam streifte Anni die schwere Hand ihrer Mutter ab und trat auf den Flur, bevor sie nach oben deutete. „Anni!“ Sie sah kurz zu Mutter, bevor sie den Kopf schüttelte. „Ich muss mehr wissen. Vielleicht ist Lotti ein Monster, vielleicht ein Opfer. Ich weiß es nicht. Aber ich kann nicht tatenlos abwarten.“ Mutter krampfte beide Hände in ihre Bluse. Bitternis verzerrte ihr Gesicht. „Wenn ihr nichts unternehmt, weil ihr beide Angst habt, bitte, aber ich muss die Wahrheit wissen!“ „Anni, nein!“ Ohne auf den Ausruf ihrer Mutter zu hören, fuhr sie herum und eilte zur Tür. „Konrad, halten Sie sie auf!“ Hinter sich hörte Anni Schritte, das Humpeln Konrads. Es war leicht ihm zu entkommen, aber sie zweifelte daran, dass er sie aufhalten wollte. Auch er besaß den verzweifelten Mut, all dem ein Ende setzen zu wollen. Darin waren sie Verbündete. „Hol von Stürickow, Mutter!“, rief Anni über die Schulter, „denn ich bin mir nicht sicher, ob da oben nicht immer noch jemand ist!“ * Musik drang aus der Wohnung. Anni erkannte sofort die zackigen Klänge des Radetzky-Marsches. Die Tür stand wieder offen, nur war das Sonnenlicht gewichen. Schatten lauerten im Flur. Jemand war hier! Vielleicht sollte sie doch einfach laufen und den Hilfskommissar holen. Doch da waren immer noch der Verdacht und zugleich die Angst um Lotti. Hier oben gewannen die Zweifel an der Mittäterschaft ihrer Freundin neue Nahrung. Würde sie es sich je verzeihen, wenn Lotti noch lebte und gerade mit dem Tod rang? Die Antwort lag auf der Hand. Sie trat über die Schwelle. In der Wohnung hatte sich ein weiterer Geruch festgesetzt. Süßliche Schwere, die etwas von vergammeltem Fleisch an sich hatte, lag in der Luft. Kurz schloss Anni die Augen und überlegte, woher sie den Geruch kannte. Da war etwas, ein Moment vor zwei Jahren … Hinter ihr kam Konrad herein. Er sagte nichts. Anni hob die Lider und sah ihn an. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Aber er hielt sich gerade, fest auf den Stock gestützt. In seiner zweiten Hand lag ein Armee-Revolver. Offenbar hatte er doch noch Waffen aus seiner Soldatenzeit übrigbehalten. Anni verdrängte den Gedanken und musterte ihn. Nervös leckte er sich über die Lippen. „Du läufst sofort weg, wenn es gefährlich wird, versprochen?“ In seinen Worten lag eigentlich keine Frage, sondern vielmehr ein Befehl. Still nickte sie. Mit dem Kinn wies sie auf die Küche. Er ignorierte die Geste. „Ich nehme an, du warst in keinem der anderen Zimmer?“ Anni bemerkte ein Zittern in seiner Stimme. Konrad Löb hatte Angst. Aber sollte er als Soldat nicht jeder Art von Feind ins Gesicht lachen können, außer … Wieder sah sie Wolff vor sich. Ohne ihn war Konrad kein strahlender Held, nur ein einfacher Mensch. Der Gedanke tat ihr im gleichen Moment leid, denn schließlich stand er hier, neben ihr. „Nein“, flüsterte sie. „Ich hatte zu viel Angst etwas ganz Furchtbares zu finden.“ Kurz zögerte sie, bevor sie hinzufügte: „Genauso wie Sie.“ „Ja“, hauchte er und schob sich an ihr vorbei. Vorsichtig spähte er in den Querflur. Anni folgte ihm. Im Gegensatz zu vorhin stand die Schlafzimmertür weit offen. Die Musik kam aber aus der Stube. Behutsam zupfte sie an seinem Ärmel. „Die war vorhin noch geschlossen und es war still.“ Ein bewegter Schatten fiel auf die Dielen. Anni zuckte zurück. Wer war das? Konrad löste sich und ging leise weiter. Im Gegensatz zu seinem Freund kam ihr das Geräusch seiner Schritte wie Getrampel vor. Wer immer hier lauerte, musste ihn hören. Annis Herz raste. So leise sie konnte, folgte sie ihm. Mit jedem Schritt wuchs die Sicherheit, einen Fehler zu begehen. Plötzlich trat Lotti auf den Flur und prallte zurück. Erschrocken keuchte sie. In ihrem lockigen Haar und dem viel zu teuren Pelzkragen ihres Mantels glänzten Wassertröpfchen. Sie trug edle, dunkle Lederhandschuhe. Auf ihren geröteten Wangen lag eine feine Schweißschicht, die ihre Haut zum Glänzen brachte. Sie musste sich ziemlich angestrengt haben. Mit einer Hand schlug sie sich auf die Brust und fächelte sich mit der anderen Luft zu. „Habt ihr mir erschreckt!“, stieß sie aus und zwang sich ein halbwegs unbefangenes Lächeln auf die Lippen. Konrad schwieg. Er hielt die Waffe auf sie gerichtet. Der letzte Rest Freundlichkeit wich aus Lottis Zügen. „Wat willste, Landser? Willste mir erschießen?“ „Nein, wir hatten nur Angst um dich.“ Anni zweifelte ihre Worte im gleichen Moment an, in dem sie sie aussprach. Offenbar war sie nicht Opfer, sondern Komplizin gewesen. Wäre das der Moment, um wegzulaufen? Anni starrte die elegante Erscheinung an, zu der in keiner Weise der platte Berliner Dialekt passte. Lotti schien die Veränderung in ihrem Gemüt und ihrer Stimme wahrzunehmen. Diese Frau verhielt sich nicht ängstlich, sondern lauerte … genau wie in der letzten Nacht. Streng zog Lotti die Brauen zusammen. „Ach ja?“ „Meine Angst war wohl überflüssig. Dir geht es blendend.“ Anni straffe sich. Sie löste sich von Konrads Seite und trat auf Lotti zu. „Wo warst du?“ „Wech, kurz wenichstens.“ Ärgerlich verschränkte Lotti die Arme vor der Brust und baute sich in der Schlafzimmertür auf. „Warum frachste?“ „Deine Tür war offen“, entgegnete Anni und versuchte einen Blick ins Schlafzimmer zu erhaschen. Viel konnte sie nicht erkennen, nur einige Koffer, die gepackt worden waren, ein halb offener Schrankkoffer und Kleidung, die auf Boden und Bett verstreut lag. Anni hatte selten so viel Kleidung unterschiedlichster Art gesehen. Einfache Röcke, Schürzen und Blusen lagen zwischen auffallenden Kleidern, wie sie die Filmschauspielerinnen trugen. Dazwischen fanden sich aufreizende Miederwaren und zugleich elegante Abend- und Tagesgarderobe, wie sie wirkliche Damen trugen. Hüte, Handschuhe, Schmuck und Schuhe lagen verstreut. „Du verreist?“, fragte Anni. Mit wieviel unterschiedlichen Persönlichkeiten? Den Gedanken hielt sie besser für sich. „Wat dajegen?“ In Lottis Ton schlich sich blanke Wut. „Wat jeht dich kleene Krabbe des überhaupt an? Ik bin alt jenuch zu tun, wat mer passt, und jerade vor nem Blag vonnem Mörder muss ik mir nich rechterfijen!“ „Das Balg von einem Mörder, wie?“ In Annis Magen kochte Hitze, die ihren ganzen Körper entflammte. „Was geht hier vor sich?!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, stieß sie Lotti zur Seite und drängte sich an ihr vorbei in das Schlafzimmer. Auf dem Boden lagen die einfachen Kleider, die sie in den letzten Wochen so oft getragen hatte. Am Saum eines Blusenärmels hatte sich der Stoff schwarz verfärbt. Anni ging in die Knie und hob sie auf. Auch Brust- und Bauchbereich waren verkrustet. Es sah genauso aus wie die blutige Kinderschürze. Die Tür fiel hinter ihr zu. Anni fuhr herum. Sie war allein in dem Zimmer. Draußen löste sich ein Schuss. Der Knall hing kurz in der Luft. Anni stockte der Atem. Ihr Herz zog sich zusammen. Hatte Konrad auf Lotti geschossen? Ein furchtbares Fauchen und Reißen drang durch das Holz. Jemand wurde gegen die Tür gestoßen. Sie hörte einen Schmerzensschrei. Sie war auch ein solches Wesen! Anni wirbelte herum. Was konnte sie tun, um Konrad zu helfen? Hier gab es nichts, was auch nur andeutungsweise als Waffe getaugt hätte … Das Schloss knackte, als erneut jemand gegen die Tür prallte, und sprang auf. Rittlings stolperte Konrad in das Zimmer und fiel auf den Rücken, wobei er Stock und Revolver losließ. Die Waffe prallte schwer auf, bevor er sie unter sich begrub. Wie eine Katze sprang Lotti ihn an. Ihre Augen glühten, während sie fauchte. Sie hielt die Lippen zurückgezogen. Anni fuhr zusammen, als sie das Tiergebiss erkannte, mit dem sie nach Konrads Hals schnappte. Anni raffte Mantel und Rock, holte aus und trat nach dem Kopf der Frau. Sie spürte Widerstand, hörte ein unschönes Knacken. Lotti heulte auf, nur um sofort noch einmal nachzusetzen. Aber etwas hatte sich verändert. Der Unterkiefer saß schief und die Bänder gaben unschöne Geräusche von sich. Durch ihre Handschuhe hatten sich Klauen gebohrt. Alles Menschliche war aus ihr gewichen. Konrad wehrte sich aus Leibeskräften gegen sie, doch sie war schnell und geschickt … Ihm gelang es, sie am Mantelärmel zu greifen und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er wand sich unter ihr. Dieses Wesen hatte Schwierigkeiten sich mit der Verletzung gegen ihn zur Wehr zu setzen. Sie schnappte und schlug, konzentrierte sich allein darauf Konrads Hände und Arme abzuwehren. Blut rann aus vielen kleinen Wunden in seine Ärmel. Anni musste ihm helfen. Sie sah auf die Bluse in ihrer Hand. Vielleicht konnte sie Lieselotte ablenken. Erneut zerrte er an ihrem Ärmel, sodass der Pelz über ihre Schultern rutschte und sie die Arme kaum noch bewegen konnte. Das war Annis Chance. Sie schleuderte Lotti die Bluse ins Gesicht. Die Frau bäumte sich auf. Im gleichen Moment zerriss der dicke Wollstoff über ihren Armen. Der Fellkragen hing an einer Seite über ihre Schulter. Mühsam befreite sie ihre Hände und zerfetzte den Blusenstoff. Der beste Moment, noch einmal zuzutreten. Anni holte aus und stieß Lieselotte ihren Stiefel vor die Brust. Vor Schmerz keuchend, atemlos, fiel sie zur Seite. Löb befreite sich unter ihr. Blindlings tastete er nach seiner Waffe, ohne sie zu fassen zu bekommen. Er schien zu fürchten, dass etwas Schreckliches passierte, wenn er dieses Wesen aus den Augen ließ. Vielleicht tat er gut daran schnell zu handeln, denn Lotti erholte sich zusehends. Anni wurde nervös. „Konrad, machen Sie endlich!“ Erschrocken sah er sich nun doch um und ergriff den Revolver. Aus dem Augenwinkel bemerkte Anni, wie sich Lotti aufraffte und herumfuhr. Sie verströmte entsetzlichen Verwesungsgeruch. Anscheinend schwitzte sie ihn aus. Sie riss das Maul auf. Schleimfetzen spritzten von ihren Lippen. Im gleichen Moment schoss Löb ihr in den Kopf. Blut spritzte über die polierte Lackwand. Das blonde Haar färbte sich rot. Anni fiel keuchend auf die Knie. Diesen Anblick würde sie nie wieder vergessen. * Von Stürickow klopfte an den Rahmen der Küchentüre, bevor er eintrat. Kurz hob Anni den Blick, bevor sie sich abwandte. Für heute hatte sie genug gehört, gesehen und getan. Auch Konrad regte sich nicht. Er kauerte in seinem Stuhl, beide Hände um die Teetasse gekrampft. „Herr von Stürickow, wann kommt mein Mann frei?“, fragte Mutter, die aus dem Schlafzimmer herüberkam und um ihn herumging. Anni kannte den fiebrigen Glanz in ihren Augen. Natürlich machte sie sich Sorgen, aber nicht nur um die Heimkehr von Vater, sondern auch um diese … Monstrosität. Konrad hatte von zwei Männern gesprochen, einen davon hatte Anni selbst gesehen. Lotti mochte tot sein, aber damit war die Gefahr noch nicht gebannt. Außerdem war Heinrich Wolff bislang nicht nach Hause zurückgekommen. Nach dem, was Anni heute gesehen hatte, wuchs ihre Sorge. Laut Konrad war einer der Männer möglicherweise für das entsetzliche Aussehen seines Freundes verantwortlich. „Sie wissen, dass Johann nie einem anderen etwas antun könnte.“ Mit der Hand wies sie gen Decke. „Fräulein Runge war es doch, oder?“ Der Hilfskommissar beobachtete sie aufmerksam. Nach einem Moment setzte er zum Sprechen an, schloss die Lippen aber wieder, als jemand die Wohnungstür aufschob. Anni stand auf, um besser sehen zu können. Wolff zog den Mantel aus und hängte ihn auf einem Bügel an den Flurschrank. Die Schiebermütze schüttelte er vor der Tür ab. Kleine Tröpfchen stoben auf. Anni bildete sich ein, dass sie einen rosigen, leicht roten Schimmer hatten. Aber vielleicht hatte sie sich getäuscht. Sie kam auf ihn zu. Wasser troff aus seinem zu langen Haar. Er wirkte blass und müde. Anni fuhr zusammen, als sie seine blutigen Ärmel sah. „Was ist passiert?“, stieß sie hervor. Von Stürickow drehte sich zu Wolff um und musterte ihn eine Weile stumm. Er reagierte in keiner Weise überrascht auf die Verletzungen. Wenn Anni es sich recht überlegte, hatte er auch ihre Aussage hingenommen und den unheimlichen Leichnam Lottis nicht weiter beachtet. „Sie haben sein Versteck gefunden, Heinrich?“, fragte er. Arbeitete Heinrich Wolff mit von Stürickow zusammen? Anni wäre nie davon ausgegangen. Aber sie hatte sich daran gewöhnt überrascht zu werden. Warum sollte also ein Maler, der für eine Zeitung zeichnete, nicht auch die Schmutzarbeit für eine Mordbereitschaft erledigen, wenn sie einen Gegner hatte, gegen den sie mit herkömmlichen Methoden nicht vorgehen konnte? „Ja“, murmelte Wolff, „aber er war allein.“ Er hob beide Arme. Erst jetzt sah Anni, dass sie die gleichen Verletzungen aufwiesen wie Konrad. Allerdings entdeckte sie an ihm keine Waffe. Atemlos starrte sie Wolff an. „Aber wie haben Sie das überlebt?“, flüsterte sie. „Konrad musste schießen …“ Wolffs Augen begannen zu phosphoreszieren. Sie schluckte und nickte. Wie hatte sie das nur einen Moment vergessen können? Es musste ein ausgewogener Kampf gewesen sein. „Den zweiten habe ich nicht zu fassen bekommen.“ „Nein!“, stieß Anni aus, „das darf doch nicht sein!“ „Wenn er sich hier blicken lässt, Anni, unser Zuhause bedroht, dann muss er sich seiner eigenen Art stellen. Er weiß, dass er allein keine Möglichkeiten hat.“ Über Wolffs hässliche Züge huschte ein liebes, unsäglich herzliches Lächeln, das seine Augen strahlen ließ. Zweifelnd schüttelte sie den Kopf. „Wie soll ich das glauben?“ „Ich kann es nicht versprechen, aber alles dafür tun.“ Heinrich legte ihr beide Hände auf die Schultern und neigte sich zu ihr. So wie er sie ansah, vermittelte er den Hauch wirklicher Stärke. Anni konnte sich dem Zauber nicht entziehen. In dem Moment vertraute sie ihm blind. Von Stürickow räusperte sich. „Ihr Vater wird auch bald wieder hier sein, Fräulein Anni.“ Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte. „Seien Sie beruhigt, es geht ihm gut.“ Anni konnte seinen Worten nicht wirklich vertrauen. Als Heinrich seine Hände löste, hinterließ er ein kaltes, leeres Gefühl. Sie wich zurück und rieb ihre Haut warm, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Aber er schien nur noch Augen für Konrad zu haben. In Heinrichs Mimik trat ein noch viel intensiveres Gefühl. Anni wusste, dass es nicht ihr, sondern Konrad galt. Wenn sie sich nun küssten, wäre es nicht einmal falsch gewesen. Aber Heinrich gab sich diese Blöße nicht. Wortlos trat er an den Spülstein, krempelte die Ärmel auf und ließ Wasser über die Wunden laufen. Anni biss sich auf die Unterlippe. Alle wussten, was er war: ihre Mutter, der Hilfskommissar, Konrad, wahrscheinlich auch ihr Vater, jeder außer ihr. Warum hatten sie es ihr nicht früher offenbart? Was auch immer er war, Jäger oder Hüter, seine Wesenszüge unterschieden ihn von dem, was Lotti gewesen war. Ein warmes und vertrautes Gefühl ging von ihm aus, ein Gefühl, als sei alles in Ordnung und niemand werde je wieder Angst um seine Kinder haben müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)