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Warte, warte nur ein Weilchen

von

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Haltlos / 09.11.1918

Der Lärm in der großen Maschinenhalle betäubte ihren Kopf gerade ausreichend, um nicht ständig an die Ereignisse der letzten Stunden zu denken. Trotz aller Aufregung und der ungeklärten Fragen, ihrer Verwirrung setzte unaufhaltsam bleierne Mattigkeit ein. Dankbar nahm Anni die Situation an. Die ihr vertrauten, mechanischen Handgriffe hatten etwas beruhigend Normales an sich und machten es ihr einfach …

„Fräulein Beckmann!“

Anni schrak zusammen. Sie blinzelte den Staub aus ihren Wimpern und sah von ihrer Arbeit auf. Durch das Kreischen der Maschinen kamen die Worte verzerrt bei ihr an. Im ersten Moment wusste sie nicht, wer sie gerufen hatte und woher die Stimme kam. Zwischen all den Frauen in Arbeitshosen und Schürzen erkannte sie nur ein paar Hilfsarbeiter, Kriegsveteranen, die hier im Rahmen ihrer körperlichen Behinderungen mit anpacken konnten. Hektisches Winken zog ihre Aufmerksamkeit an. Auf der Metalltreppe zu den Verwaltungsräumen stand ein kleiner Mann im Anzug, der auf sie deutete und erneut mit der Hand wedelte.

„Geh schon Anni!“

Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Henni Dörsam, beide Hände in die Hüften gestützt. Die Vorarbeiterin wirkte nicht gerade gnädig. Sie stand im Gegenlicht, sodass die fahle Wintersonne Eisenstaub in ihrem dunklen Haar zum Glitzern brachte.

Hinter Annis Stirn begann es dumpf zu pochen. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Was wollte Henriette von ihr? Ihr Magen ballte sich zu einem Stein zusammen. Hatte etwas in der Zeitung gestanden? War ihr Name etwa in aller Öffentlichkeit breitgetreten worden? Anni feuchtete sich die Lippen an und schmeckte Metall.

„Geh schon, Mädchen!“, forderte Henni sie auf und legte ihr die flache Hand auf den Rücken.

Unsicher nickte Anni. Sie ließ sich zur Treppe schieben und stieg langsam hoch, dicht gefolgt von Henni, deren Blick im Nacken brannte. Vor dem kleinen Mann im Anzug blieb sie stehen. In seinen runden, etwas zu tief liegenden Augen regte sich nichts. Seine Mimik blieb schlaff und vollkommen ausdruckslos. Sie kannte ihn, hatte ihn schon gesehen, aber er war einer jener Menschen, deren Namen und Aussehen man vergaß, sobald sie die Tür hinter sich schlossen. Rasch drehte er sich um und ging weiter hinauf. Eine der schmutzigen, zur Hälfte verglasten Bürotüren stand offen. Künstliches Licht fiel auf die Galerie. Anni kannte den Ort. Es war das Büro des Fabrikvorstehers. Sie hatte hier vor einigen Jahren ihren Arbeitsvertrag unterschrieben.

In ihrem Bauch zog sich alles zusammen. Mühsam schluckte sie. Hoffentlich wurde sie nicht entlassen. Vater brauchte sie und Mutter verdiente mit ihrer Näherei kaum genug, um die Miete zu bezahlen, vor allem, weil von sechs Untermietern vier ausziehen wollten.

Annis Kehle schnürte sich zusammen. Sie zögerte an der Schwelle, starrte auf die staubigen Dielen und die Stiefelabdrücke der Arbeiterinnen.

„Anni“, flüsterte Henni hinter ihr scharf. Die sachte Berührung wurde zu Druck. Widerwillig betrat Anni das Büro. Hinter dem Schreibtisch saß Otto Gastell , einer der Eigentümer des Werkes. Obwohl er wenig Zeit in der Waggonfabrik verbrachte, war er ihr bekannt. Als Mainzer Politiker setzte er sich für die Belange der Stadt ein. Trotz seines fortgeschrittenen Alters verströmte er Vitalität und Kraft, zugleich wirkte er bedrückt und in Hennis Büro fehl am Platz. Warum saß er nicht in seinem prunkvollen Marmor- und Ebenholzbüro in der Verwaltung? Annis Augen begannen zu brennen. Sie wusste, dass sie ihn anstarrte und es unhöflich war. Trotzdem konnte sie einfach nicht anders. Otto Gastell war doch sicher nicht wegen ihr gekommen, oder doch?

Die Stahlklammer um ihren Hals zog sich zusammen. Sie zwang sich, von seinem nachdenklichen Gesicht zu seinen Händen zu blicken. Er hielt die Arme über verschiedene Zeitungen verschränkt. Anni erkannte die Rhein-Zeitung, das Mainzer Tageblatt und vor allem die Mainzer Volkszeitung. Stand etwa etwas über ihren Vater darin? Sie versteifte sich. Wenn sie deshalb entlassen wurde …

Ihre Knie wurden weich. Sie knickte ein. Hennis große, raue Hand presste sich schmerzhaft in ihre Schulter. Das scharfe Gefühl half ihr auf den Beinen zu bleiben. Neben Gastell stand der kleine Mann und betrachtete sie.

Wie zuvor Hennis Blick begann auch der seine zu stechen. Anni fühle sich durch ihn entblößt. Der Wunsch sich zu bedecken – nein zu verstecken sengte durch ihren Körper. Warum geschah das alles?

Trotz der hämmernden, kreischenden Maschinen war die schiere Stille in diesem Raum unerträglich.

Gastell regte sich plötzlich. Mühsam stemmte er sich an der Tischkante hoch, sodass sie die verknitterten Deckblätter der Rheinzeitung und der Volkszeitung erkennen konnte. Darin stand nichts von Mord und Verbrechen.

König Ludwig III. von Bayern gestürzt las sie und Arbeiter- und Soldatenrat .

Vielleicht hing der Besuch Gastells gar nicht mit ihrem Vater zusammen?

Anni klammerte sich an dem beinah aberwitzig starken Gefühl von erleichterter Hoffnung fest. Herr Gastell sah zu Henni, anschließend zu Anni. Ihr Herz wurde schwer. Das alles konnte nichts Gutes bedeuten.

„Sie sind Fräulein Anna Julie Beckmann, richtig?“, fragte er.

Anni wurde das Gefühl nicht los, als läge etwas Schleppendes, Ermüdetes in seinem Tonfall. Sie zwang sich zu nicken.

„Sie sind die Tochter des Lehrers Johann Matthäus Immanuel Beckmann?“, vergewisserte sich Gastell.

In Annis Hals saß ein Kloß. Mühsam schluckte sie.

„Ja, Herr Gastell, der Gymnasiallehrer Beckmann ist mein Vater.“

Sie brachte es nicht über sich zu fragen, warum sie diesem Verhör unterzogen wurde.

Gastell lächelte kurz, beinah hilflos. Anni spürte seinen Blick. Ihm schien die Situation höchst peinlich zu sein. Hinter ihm löste sich der kleine Mann und trat ebenfalls vor. Er straffte sich und strich mit Daumen und Zeigefinger über seine Oberlippe, als wolle er einen nicht mehr vorhandenen Bart glätten.

„Überall in den großen Städten unseres Reiches kommt es zu Unruhen, liebes Fräulein Beckmann“, sagte er leise.

Seine Stimme klang angenehm normal und weich.

Innerlich atmete sie auf. Es hing nicht mit der Verhaftung ihres Vaters zusammen. Aber warum hatte Gastell sie rufen lassen? Der kleine Mann wandte sich zum Schreibtisch und griff nach einer der Zeitungen. Erneut zögerte er, befeuchtete sich die Lippen und setzte an, schwieg schließlich aber. Anni begann sich unwohl zu fühlen. Wenn es etwas mit dem Arbeiter- und Soldatenrat und den Unruhen zu tun haben sollte, von denen er gesprochen hatte, fragte sie sich, warum Gastell nicht im Hof stand und eine Ansprache dazu hielt. Neben ihr wurde Henni nervös und schnaubte ärgerlich.

„Dein Vater ist ein Kommunist, Anni. Wir wollen sichergehen, dass du sein Gedankengut nicht in die Köpfe unserer Arbeiter und Arbeiterinnen pflanzt“, sagte sie.

Die Worte trafen Anni unvorbereitet hart, wie eine Ohrfeige, zugleich wankte der Boden. Aber dieses Mal empfand sie blanke Wut, die ihren Verstand zu überschwemmen drohte.

„Bitte?!“, fragte sie scharf und entzog sich dem Griff der Vorarbeiterin. „Ich bin nicht mein Vater! Politik interessiert mich nicht, Henriette. Das, was du mir hier vorwirfst, ist Unsinn!“

Ihre Stimme schnappte über.

Gastell räusperte sich. Für einen Moment hatte Anni ihn vollkommen vergessen. Plötzlich hatte er kaum noch den Zauber des besorgten Mannes, vielmehr gerann sein Gesicht zu einer Maske, hinter der sich ein Feigling verbarg.

„Wir wollen Sie nicht entlassen. Es geht uns nur darum, diese augenblicklich schwierige Zeit zu überstehen, ohne dass wir in die Verlegenheit anderer Städte und Werke kommen. Die Menschen beginnen sich nach Züricher Vorbild zu formieren und ich will …“

„Sie wollen keine Tochter eines Kriegsdienstverweigerers, der an die Worte von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg glaubt, das habe ich verstanden.“

Anni trat ihm entgegen und sah zu ihm auf. Gastell betrachtete sie. In seinem Gesicht lag keine Wut, nur eine Ruhe, die er zuvor nicht ausgestrahlt hatte. Wahrscheinlich beruhigte es ihn, dass jemand anderer für ihn die verfänglichen Worte ausgesprochen hatte.

„Herr Bender wird Ihnen den Wochenlohn und die Lebensmittelmarken geben, darüber hinaus erhalten Sie ein Zeugnis, wenn Sie es wünschen.“

Anni kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Also bin ich entlassen?“

Gastell trat einen Schritt zurück, bevor er nickte. „Vorerst.“

*

Vorerst!

Anni trug das Wort auf dem ganzen langen Weg zu Fuß mit sich. Sie wollte nicht mit einer Straßenbahn fahren, an der sie vielleicht sogar die letzten Jahre mitgearbeitet hatte. Allein die Vorstellung, nun ohne Stellung zu sein, machte ihr Angst.

Wie sollten sie nun überleben?

Auf dem letzten Stück zum Kästrich hatten dichte, tiefhängende Wolken das letzte Sonnenlicht vertrieben und es begann zu regnen. Eisige, dicke Tropfen fielen rund um sie nieder, rannen in ihren Kragen und zerplatzten auf ihrem Mantel, nur um sich mit kleinen Perlchen auf der langfaserigen Wolle abzusetzen. Sie fühlte sich elend, fiebrig, müde und krank. Vielleicht hätte sie einfach nur den Mund halten sollen und hinnehmen, dass sie kurzzeitig beurlaubt wurde. Ihre Wut hatte alles kaputt gemacht.

Tränen stachen in ihre Augen und das krampfhafte Schluchzen raubte ihr den Atem. Die wenigen Menschen auf der Straße starrten sie an. Eigentlich wollte sie nichts weiter, als sich verkriechen und am besten einfach aufhören zu existieren. Das alles war unerträglich. Sie hatte ihrer Familie den endgültigen Gnadenstoß versetzt. Ihr fiel ein, dass sie vor einigen Stunden alles dafür gegeben hätte, nicht arbeiten gehen zu müssen. Jetzt war es so und sie fühlte sich wesentlich unzufriedener. Als sie die Kupferbergterrasse erreichte, hatte sich der Regen in Nieselregen verändert, zugleich schienen die Temperaturen gefallen zu sein. Sie fror erbärmlich. Das Wetter passte zu ihrer Stimmung. Unter den gegebenen Umständen konnte und wollte sie ihrer Mutter nicht unter die Augen treten. Vielleicht sollte sie mit Lotti reden. Auch wenn sie sich gegenüber den beiden Männern heute Früh alles andere als damenhaft und vertrauenswürdig aufgeführt hatte, war sie vielleicht der einzige Mensch, der sich einen Moment Zeit nahm, um ihr zuzuhören. Ein Patentrezept für Annis Probleme würde sie sicher kaum aus dem Ärmel zaubern können, aber vielleicht eine Idee, ein einfacher Denkanstoß.

*

Als Anni in ihrer Manteltasche nach dem Wohnungsschlüssel suchte, drang aus dem Innenhof das Geräusch eines schweren Motors. Hinten stand ein Lastkraftwagen, der wahrscheinlich die Fleischerei belieferte. Anni hörte die Stimmen der Gesellen, die sich lautstark unterhielten. Wenigstens dieses Quäntchen Normalität war zurückgekehrt. Von einem Moment zum anderen verwehte das warme, angenehme Gefühl und machte Kälte Platz.

Anni sah das vernarbte Gesicht von Heinrich Wolff vor Augen, dem Mann, dessen Vater die Metzgerei bis zu dem entsetzlichen Hungerwinter vor zwei Jahren gehört hatte. Er war ein guter Mann gewesen wie sein Sohn.

Sie hatte mitangesehen, wie sein Vater an der Angst um seinen Sohn und an Vereinsamung starb …

Ihre Finger schlossen sich um ihr Taschentuch und zugleich um den Schlüssel. Rasch zog sie beides hervor und stopfte das Stück Stoff wieder zurück in ihren Mantel. In einer Wolke aus Wasserdampf rollte der Lastkraftwagen aus der Einfahrt und hielt kurz an.

Annis Haut begann zu kribbeln. Von der Ladefläche des Wagens wehte ein unangenehmer Geruch herüber, den auch die brennende Kohle, der Wasserdampf und der Gestank des heißen Metalls nicht überdecken konnten.

Eine Woge des Unwohlseins überfiel sie. Kurz suchte sie in den Schatten des Führerhauses den Fahrer. Er starrte sie an … Seine Augen phosphoreszierten. Hinter der schmutzverkrusteten Scheibe erkannte sie, wie er seine Lippen zurückzog und ein entsetzliches Gebiss entblößte. Er war wie Wolff … oder sein Mörder. Mutters Angst, Wolffs Nervosität, die Hilflosigkeit Löbs …

Mutter! Annis Brustkorb zog sich zusammen. Ein Beben durchlief ihren Körper. Rasch wandte sie sich ab und verruchte mit zittrigen Fingern den Schlüssel im Schloss zu drehen. Metall knackte. Sie fühlte den Widerstand, bevor die Tür endlich aufsprang und sie sich durch einen Spalt hindurchschieben konnte. Draußen heulte der Motor auf. Das Echo und das Klappern des Kettenwerkes fingen sich im Hinterhof. Es klang unnatürlich laut in ihren Ohren. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte sie in das Hochparterre. Rechtsseitig fiel die Treppe wieder ab. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass die Tür zum Hinterhof offen stand und immer wieder gegen einen großen, angestoßenen Schrankkoffer schlug.

Irritiert blieb Anni stehen.

Zog jemand ein oder aus? Sie verschob den Gedanken und eilte zum Hofausgang. Wider besseren Wissens warf sie die Tür ins Schloss. Durch die Glasscheiben sah sie die Gesellen zusammenzucken. Einem fiel vor Schreck die Schweinehälfte von der Schulter. Erschrocken hob sie die Hand und presste sie gegen die Scheibe.

Was dachten die Burschen von ihr?

Wahrscheinlich hielten sie sie für verrückt. Bei der Vorstellung fühlte Anni sich kindisch. Hatte sie tatsächlich gesehen, was sie glaubte? Sie war übermüdet und viel zu nervös, nach all dem, was passiert war. Rasch wandte sie sich um und machte sich an den Aufstieg.

Als Anni atemlos vor der Wohnungstür stehen blieb, hörte sie die typischen Geräusche von Schwungrad und Pedal der Nähmaschine. Mutter arbeitete in der Küche. Ihr war also nichts geschehen. Es ging ihr gut.

Offenbar hatte sie sich hinausgetraut. Die angenehme Stimme von Konrad Löb drang zu Anni. Sie lauschte. Er redete sanft auf Mutter ein, leider konnte sie seine Worte nicht verstehen. Hinter dem fahl-gelben und weißen Milchglas sah sie Schatten, die vor dem Licht in der Küche huschten. Vermutlich ging Wolff wieder unruhig durch den Raum. Nach all den entwurzelnden Erlebnissen fühlte Anni sich selbst getrieben. Kindsmorde, die Verhaftung, Geschöpfe, die es nicht geben sollte, und schließlich die Entlassung …

Nervös tastete sie in ihrer Tasche nach dem Umschlag der Waggonfabrik Gebrüder Gastell. Das Papier war kalt, trocken, rau. Auf seltsame Weise drängte sich ihr der Vergleich mit der Reaktion des alten Mannes auf, nachdem sie ihn offen angegriffen hatte. Das Wissen über ihn und eine Welt jenseits des Sichtbaren hatte viel verändert.

Annis Blick auf die Realität hatte sich verschoben.

Wann hatte es begonnen?

Sie sah die Stufen hinauf. Neben der kleinen Toilettenkabine fiel blasses Licht durch das Fenster. Das Wetter hatte gewechselt. Ein erneuter Hauch von Sonnenschein kroch über die ausgetretenen Stufen. Wie im Juli, dachte sie. Begann nicht da schon die Veränderung?

Sie erinnerte sich genau an den Tag, als sie das erste Mordplakat gelesen hatte, jener Tag, an dem Lotte, Löb und Wolff eingezogen waren. Sollte das ein Zeichen gewesen sein?

Anni griff nach dem Geländer und stieg die Etage zu Lottis Wohnung hinauf.

Schon von der Treppe aus fiel ihr auf, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Vielleicht war ihre Freundin irgendwo im Haus unterwegs oder sie hatte den Müll nach draußen gebracht.

Behutsam klopfte Anni. Natürlich blieb die Reaktion aus. Mit etwas anderem hätte Anni nicht gerechnet. Trotz allem betätigte sie ein weiteres Mal den Klopfer oberhalb des glänzenden Messingschildes, auf dem Lieselotte Runge stand. Woher nahm Lotti eigentlich das Geld, sich eine Wohnung zu leisten, ohne untervermieten zu müssen?

Diese Frage hatte sich Anni in der kurzen Zeit, die ihre Freundin hier wohnte, öfter gestellt. Letzten Endes arbeitete sie doch ausschließlich für Frauen aus dem Viertel, denen sie das Haar legte. Möglicherweise nahm sie aber auch Aufträge von reichen Frauen an … Aber welche gebildete Dame ließ schon eine freche Berliner Göre an sich heran, die aussprach, was sie dachte? Wer bezahlte ihr den Luxus einer eigenen Wohnung? Anni bemerkte, dass sie die Hand zurückgezogen hatte. Wolffs Zweifel an Lotte hatten sich auf Anni übertragen. Der Gedanke fühlte sich aber nicht annähernd so falsch an, wie sie erwartet hätte. Wahrscheinlich lag es an ihrem Auftreten heute Früh. Irgendetwas hatte sich in Annis Sicht geändert, nichts Großes, dafür aber Tiefgreifendes. Die ganze Zeit hatte sie den Wunsch gehabt, sich ihr mitzuteilen, teilweise so zu sein wie sie. Und nun?

„Lotti?“

Anni lauschte.

Wenn sie die Geräusche des Hauses ausschloss, drang kein Laut aus der Wohnung, nur das Knacken des Holzbodens. Irgendwo über ihr öffnete jemand eine Tür. Die Toilettenspülung dröhnte nach, während neues Wasser gezogen wurde. Ungleichmäßige Schritte näherten sich, unterbrochen von dem Pochen des Gehstockes.

Sie gehörten nicht zu Lotti. Einem Impuls folgend schob Anni die Tür auf und huschte in den Flur. Sie wollte nicht gesehen werden, keine dummen Fragen beantworten, weder wegen Vater noch der Tatsache, dass sie schon zu Hause war. Rasch schob sie die Türe ins Schloss; gerade rechtzeitig, wie sie bemerkte. Tatsächlich trampelte ein Mann die Stufen bis zu Lottis Wohnung und pochte wuchtig gegen die Tür.

„Mädchen, mach auf!“

Tranitz!, schoss es Anni durch den Kopf. Warum kam er zu Lotti? Wollte er das Mietgeld einfordern? Heute war aber der neunte, nicht der erste November. War Lotti im Verzug mit der Miete? Hinter Annis Stirn baute sich Druck auf. Sie verstand gar nichts mehr.

„Ich weiß, dass du da bist, Lotte. Komm, mach auf, lass uns pimpern !“

Sicher konnte er sie durch die Scheiben sehen oder wenigstens ihren Schatten. Die Sonne schob sich durch die Wolken und reflektierte an der geweißten Wand des Hinterhauses, gerade so, als flute pure Helligkeit durch die weit offene Küchentür auf den Flur. Anni drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Herz hämmerte. Sie starrte zur Tür. Tranitz bewegte sich, neigte sich … eine der Scheiben in der Kassettentür war klar. Sicher bemerkte er sie. Vorsichtig glitt Anni an der Wand hinab und kauerte sich in die Ecke, in der Hoffnung, dass er sie nicht bemerkte.

„Du bis da, vorhin war deine Tür offen, Weib! Mach auf!“ Wuchtig trat er gegen die Tür, sodass die Scheiben in ihrer Bleifassung klirrten.

Anni machte sich klein. Die Kälte der Wand durchdrang ihren nassen Mantelstoff. Dicht über ihr knarrten die Federn des Brief- und Zeitungsschlitzes. Unten flog eine Tür auf und der wohlbekannte Schritt von Konrad Löb drang zu ihr.

„Was soll das, Tranitz? Was machen Sie da?“

Der Hauswart stampfte auf.

„Und Sie, Löb?“, bellte er verärgert. „Müssten Sie und der andere Krüppel nicht längst in Ihrer Zeitung sitzen und Ihre Bildchen malen?“

„Kommen Sie runter, Tranitz. Ihre Frau wartet sicher schon auf Sie.“

Wütend knurrte der Hauswart.

„Ich muss noch auf dem Boden nach dem Rechten sehen!“

„Na dann – soll ich Ihnen zur Hand gehen?“, bot Löb an. In seiner Stimme schwang Häme mit.

„Nein, die Hilfe eines Krüppels ist mir nur Last!“

Die Schritte des Hauswarts entfernten sich. Nach einer kleinen Ewigkeit schloss sich auch die Wohnungstür ihrer Eltern.

Anni löste sich.

Durch die verkrampfte Haltung hatten sich ihre Muskeln verspannt. Unsicher stemmte sie sich auf die Füße und wandte sich zur Tür. Das Sonnenlicht fiel ungehindert durch die Milchglasscheiben. Unsicher drehte sie sich um. Was wollte sie doch gleich hier? Mit Lotti reden, sicher, aber sie war nicht da. Warum hatte sie aber die Tür offen stehen lassen? Anni schluckte trocken und ging den kurzen Flur entlang, bis er abknickte. Diese Wohnung glich der ihrer Eltern in der Aufteilung bis aufs Haar, nur wirkte sie so leblos und leer. Bis auf den großen Garderobenschrank zwischen Stube und Schlafzimmer lag nicht einmal ein Läufer auf den Dielen. Der Boden und die dunkel lackierten Wände glänzten. Ein schwacher Geruch nach Lysol hing in der Luft, durchtränkt von Lottis süßem Parfum. Warum diese Putzwut? Irritiert wandte Anni sich zur Küche. Bei Lotti roch es zumeist nach gebratenem Fleisch, oder wenigstens Suppenfleisch und Bauchspeck – wo immer sie ihn herbekam. Doch jetzt stank der Raum nahezu nach dem Desinfektionsmittel. Herd und Tisch waren blankgescheuert und der Boden noch feucht. Neben dem Ofen stand ein leerer Kohleneimer. Weder Töpfe noch Pfannen standen umher. Anni trat an das Küchenbuffet und sah in die einzelnen Fächer. Lottis Porzellan war sauber verstaut. Beruhigt schloss sie die Türen wieder. Auf der Anrichte stand der Brottopf. Wenn auch der gefüllt war, musste sie sich keine Sorgen machen. Vorsichtig hob sie den Deckel an. Weißer Staub wirbelte auf. Instinktiv hielt Anni sich die Hand vor Mund und Nase. Aus zusammengekniffenen Augen schaute sie hinein. Weiß-grüner Schimmel füllte das Innere aus und hatte sich in die Risse des dicken Keramiks gegraben. Was ging hier vor sich? Anni drehte sich einmal im Kreis. Was fiel auf, was war anders als sonst? In der Spüle lag der Putzlappen, aber wo befand sich der Eimer? Langsam trat Anni an das weiße Steinbecken heran. Im Ausguss hatte sich Sand gesammelt, das Wasser war im Begriff zu trocknen. Ein schwach rosiger Schimmer hatte sich um den Siphon gesammelt. Anni streckte die Hand danach aus, zog sie aber gleich wieder zurück. War das Blut? Wie passte all das zusammen? In ihr erwachte irreale Angst. Lotti konnte etwas zugestoßen sein, vielleicht stand deshalb die Türe offen. Vielleicht … war sie dem Kindermörder zum Opfer gefallen! Der Mann war sicher in der Nacht im Haus gewesen! Der Gedanke würgte sie. Aber was, wenn er noch hier war? Nein, unmöglich! Sie hatte ihn mit dem Lastkraftwagen fortfahren sehen. Ihr wurde schwindelig. Mit beiden Händen klammerte sie sich an den Spülstein, um nicht einzuknicken. Das wäre schrecklich. Und sie wollte keine ermordete Lotti finden - wenigstens nicht allein! Löb war im Haus, er und der Hauswart, und Mutter. Sie musste Hilfe holen.



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