Warte, warte nur ein Weilchen von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 5: Lotti / 09.11.1918 ----------------------------- Während Lotti den Topf von der Wand nahm und Wasser aufsetzte, überlegte Anni, ob sie Konrad Löb in der Gegenwart ihrer Freundin auf den Kampf ansprechen sollte. Sie musste reden, sonst brach die Angst aus ihr heraus und erstickte sie. Ein Beben durchlief sie und hinterließ Schwäche. Sicher fühlte sie sich nicht – wenigstens nicht, solang Wolff fort war. Dieser Ort, ihre Heimat, bot keinen Schutz. Vor diesem Geschöpf rettete sie keine verschlossene Tür, keine Waffe, nichts. Nervös drehte sie das Messer in den Händen. Wenn es Männer gab, die man mit Waffen nicht verletzen und mit Wänden und Türen nicht aufhalten konnte, solche, die Wesen wie Heinrich Wolff erschufen, musste sie anfangen, die Welt ganz neu zu betrachten. Der Krieg war schon entsetzlich, aber er fand fast nur auf den Schlachtfeldern statt. Gegner der Heimatfront waren Hunger, Kälte und Armut. Jetzt kam dieser Mann hinzu, der ein grausames Spiel trieb. Sie suchte nach Löbs Blick, doch er beachtete sie gar nicht. Ihm saß der Schrecken in den Knochen. Er starrte Lottis Rücken an, belauerte jede ihrer Bewegungen. Auf Anni machte es nicht den Eindruck, als sei es männliches Interesse an einer Frau; seine Haltung und Mimik sprachen dagegen. Augenblicklich klammerte er sich an seinen Stock, den er über die Armlehnen seines Stuhls gelegt hatte, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Auch er fürchtete sich. Plötzlich schloss er die Lider. Tiefe Bitternis gerann zu Erschöpfung. Er löste eine Hand und fuhr sich über das Gesicht. Anni empfand tiefes, ehrliches Mitleid mit ihm. Er war auf eine solche Situation nicht vorbereitet gewesen und ihm fehlte die stille Nähe Wolffs … Was musste in ihm vorgehen? Die Nähe zu seinem Freund versetzte ihr einen Stich. Geräuschvoll stellte Lotti eine bemalte Porzellantasse vor Löb ab und einen Tonbecher vor Anni. „Leg‘ det Messer endlich hin!“ Erschrocken schob sie ihre improvisierte Waffe von sich. „Jut so.“ Zufrieden lächelte Lotti. Mit einem dankbaren Nicken quittierte Anni die Fürsorge. Lotti erwiderte ihr Lächeln knapp, wandte sich dann aber zum Herd um. „Wat habt ihr zwe beeden da draußen jemacht?“, fragte sie über die Schulter. Ihr aufgelöstes Haar raschelte auf dem kunstseidenen Morgenrock und verfing sich in den Federn. Anni beobachtete ihre Bewegungen, wie sie die angesengten Topflappen nutzte und mit wenigen Handgriffen den Tee im Topf zubereitete. Vorhin war sie bereit gewesen, alles mit Lotti zu besprechen, doch jetzt? Was sollte sie ihr sagen? Es war einfach zu viel passiert. Würde sie überhaupt Verständnis aufbringen? Anni zupfte unschlüssig an ihrem losen Mantelknopf. Langsam drehte Lotti sich um und setzte sich an Annis Seite. Der Druck ihrer Hand war angenehm. Von ihr stieg der Geruch nach Seife, Parfum und Mann auf. „Jeht et um dein‘ Vater?“, fragte sie sanft. Das Gefühl in ihrer Stimme traf Anni und ließ jeden anderen Gedanken verblassen. Tränen schossen in ihre Augen und rannen über ihre Wangen. Sie schnappte nach Luft und fühlte, wie sich ihre Nebenhöhlen verstopften. „Warum hat Herr von Stürickow ihn nur festgenommen?“ Die nasale Aussprache und der Rauch vom Herd raubten ihr fast die Stimme. Mühsam schluckte sie. Lotti griff in Annis Manteltasche und zog ein schmuddeliges Taschentuch heraus. „Da Kleenes.“ Anni griff danach und putzte sich die Nase. Ihr gegenüber rang Löb nach Luft. Soweit Anni ihn durch die Schleier erkennen konnte, massierte er seine Augenlider. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, dass er auf Wolff wartete. Wolff … Von einem Moment zum nächsten war die Angst wieder präsent. Löb vermisste ihn und klammerte sich an das bisschen schwacher Hoffnung. Sacht streckte sie die Hand nach ihm aus. Sie wollte sagen, dass alles gut werden würde. Doch das konnte sie nicht, weil ihr jeder Glaube daran fehlte. Ihre Hand sank herab. „Die Kriminalen ham ja laut jenuch jebrüllt, dass se wat jefunden ham.“ Irritiert durch Lottis Worte musterte sie ihre Freundin, die besorgt ihren Blick erwiderte. „Ne blutje Schürze, wa? Des is nich jut.“ Anni nickte geknickt. Diese Frau lebte im Hier und Jetzt. Ihr konnte sie nichts von den beiden unheimlichen Begegnungen erzählen. Jetzt teilte sie ein Geheimnis mit Löb und bis zu einem gewissen Grad auch mit ihrer Mutter. Der Gedanke an sie löste brennende Wut aus. Erneut vernebelte sich ihr Kopf. Der Druck nahm wieder zu. Behutsam drückte Lotti sie. Die Berührung weckte den Wunsch auf Abstand. Lotti trug tatsächlich nichts unter ihrem Nachthemd. Die ungebändigten Formen hatten etwas Anrüchiges an sich. Vorsichtig versuchte Anni sich aus der Umarmung zu befreien. In Lottis beinah mütterlich aufdringlicher Nähe wurde ihr zu warm. Schweiß rann in ihren Kragen. „Lassen Sie Fräulein Anni atmen“, sagte Löb leise. Es war das Erste, was er seit seinem Kampf aussprach. Seine Stimme besaß keinen Klang. Mühsam atmete er durch: „Ich weiß, dass Sie sich sorgen, aber Anni und ihrer Mutter ist damit nicht geholfen, sondern mit praktischer Ermittlungsarbeit.“ Lotti löste sich unwillig. Sie senkte den Kopf, sodass Anni sich genötigt sah, ihrem Blick zu begegnen. Glücklicherweise sagte Lotti nichts, sondern erhob sich, um Tee in die Tassen zu füllen. Dankbar nickte Anni Löb zu, der traurig lächelte. „Wenn Herr Wolff nicht mehr kommt“, sagte sie leise, „müssen wir, so schnell es geht, zur Gendarmerie.“ Lotti warf Löb einen Blick zu. „Der Herr Wolff is wech?“ Ihre Worte verhallten unbeantwortet, aber sie schien wild entschlossen die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. „Hat er wat mit‘n Morden zu tun? Möchlich wäret ja.“ „Nie!“, stieß Anni hervor. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Löb sprang wütend auf: „Ach seien Sie still!“ Er deutete auf Lotti. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Seine Lippen zitterten. „Heinrich ist einer der sanftesten und friedfertigsten Menschen, die es überhaupt gibt, und ich lasse nicht zu, dass jemand, der ihn überhaupt nicht kennt, ihm solch böse Nachrede anhängt!“ Anni kannte ihn nicht so aufbrausend. Aber in seinen Worten lag alles Herzblut, zu dem Konrad Löb fähig war. Bei der schieren Intensivität der Gefühle fühlte sie ein schwaches Beben in sich. Lotti zuckte nur mit den Schultern. Nahm sie denn gar nicht wahr, wie Löb um die Ehre seines Freundes kämpfte? War ihre Freundin tatsächlich so unsensibel? Kopfschüttelnd griff sie nach ihrer Tasse und betrachtete ihr verheultes Spiegelbild, bevor sie nippte. Wenn der Tee nach irgendetwas schmeckte, nahm Anni es nicht wahr. Sie hatte sich vor fremden Menschen gehen lassen. Dafür würde ihr Vater kaum Verständnis aufbringen. Anni fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen. Hinter ihr hantierte Lotti mit dem Wassertopf. Wasser zischte. Sie ignorierte ihre Freundin und suchte nach Löbs Blick. Er beachtete sie gar nicht, sondern starrte ins Leere. Geistesabwesend leckte er sich über die Lippen. „Also anschweijen müss‘mer uns nich.“ Lotti setzte sich hin. „Wat denkste, Anni?“ „Wovon soll ich was denken?“ Anni wollte nicht sprechen. „Warum dein Vater anjeschwärzt wurde natürlich!“ „Gute Frage.“ Anni knotete den Gürtel auf, legte ihren Mantel ab und presste ihn an sich, in vollem Bewusstsein, nur ein Nachthemd zu tragen. „Vielleicht war es wirklich jemand, der ihn als einen gefährlichen, politischen Querkopf ansieht.“ „Dein‘ Vater?“ Lotte lachte auf. Es klang in keiner Weise belustigt. Irritiert betrachtete Anni ihre Freundin. „Warum …?“ „Der is doch keener vom Spartakus-Aufstand !“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Isser ner andern hinterher jestiejen?“ „Lotti!“, warnte Anni. Allein die Vermutung auszusprechen war wie ein Verrat an ihm. Anni schüttelte sich. Er betrog Mutter sicher nicht. Nein, dahinter steckte etwas anderes. Anni rief sich die letzten Tage vor Augen. Jedes Mal, wenn sie von der Waggonfabrik heimgekommen war, hatte sie auf der Kupferbergterrasse an der Anschlagsäule immer wieder ein neues rotes Mordplakat gesehen und die Instruktionen der Mordbereitschaft gelesen. Wahrscheinlich hatten das alle getan, die hier auf dem Kästrich lebten. Was, wenn der Kindermörder von hier stammte, sie dabei beobachtet hatte? Ihr rann ein Schauder über den Rücken. Anni stellte die Tasse ab und massierte sich die Schläfen. Wer fiel ihr ein, der eine grundlegende Abneigung gegen Vater hegte? Ging es überhaupt um ihn? Anni richtete sich auf. Hatte es dieser Mann nicht vielleicht darauf angelegt, dass Mutter und sie ungeschützt zurückblieben und er sein Werk von vor Jahren vollenden konnte? Immerhin waren die Untermieter ausgezogen und Wolff fortgelockt worden. Nur Löb passte noch auf sie auf … Sie neigte sich zu ihm hinüber. Löb hob den Kopf. Er schien durch sie hindurch zu sehen. Als sie seine Hand zu fassen bekam, lächelte er matt. „Fräulein Anni, wir …“ Lotti hob plötzlich den Kopf und lauschte aufmerksam. Außer dem Feuer im Herd hörte sie nur die ersten Arbeiter und Handwerker. Anni musterte sie befremdet. Als der Schlüssel in der Wohnungstür knackte, zuckte sie zusammen. Anni erhob sich und trat auf den Flur. Wolff kam ihr entgegen. Er wirkte angespannt. Sie konnte nicht anders, als ihn anzustrahlen. Löb hatte recht gehabt. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sein knappes Lächeln tat gut. Mit seiner kalten Hand strich er über ihre Schulter und schob sie in die Küche zurück. Ihn umwehte noch immer die Winterkälte. „Heinrich!“ Über Löbs Züge huschten Erleichterung und zugleich tiefe Sorge. Er stemmte sich hoch und humpelte auf seinen Freund zu. Dicht neben dem Herd blieb Wolff stehen und umarmte seinen Freund fest. „Mein Gott, wo warst du? Ich bin vor Angst um dich fast gestorben“, flüsterte Löb. Für einen Augenblick sah es fast aus, als wolle er Wolff küssen. Anni hätte es in diesem Moment nicht gewundert. Es passte einfach zu der tiefen Sorge, die mehr als Freundschaft nahelegte. Gerade in diesem Moment ließ Löb seinen Freund los und musterte Anni auf abschätzende Weise, als habe sie den Gedanken ausgesprochen. Erschrocken wandte sie sich ab. Erst als er sich wieder hingesetzt hatte, wagte sie den Blick zu heben. Lotti beobachtete. Anhand ihrer zusammengezogenen Brauen dachte sie sich offenbar auch ihren Teil. Still wärmte Wolff seine Hände über dem Herd. In dem Augenblick hätte Anni viel dafür gegeben sein Gesicht zu sehen, aber er präsentierte nur seinen Rücken. „Haben Sie den Mann zu fassen bekommen?“, fragte Anni. Wolff verspannte sich. „Können wir gleich darüber reden?“ Auch in seiner Stimme lag mühsam zurückgehaltene Gereiztheit. Er wollte nicht vor Lotti sprechen. Das verstand Anni wiederum zu gut, andererseits bohrte die Neugier in ihr. Widerwillig nickte sie. „Stör‘ ick?“, fragte Lotti. Löb schwieg, Wolff schüttelte den Kopf. „Ich habe eher den Eindruck, als würde ich stören, Fräulein Runge.“ Fragend sah Anni ihn an. Er schien ihren Blick zu spüren, denn er drehte sich um. „Ne,“, entgegnete Lotti. „Ick hab mir nur erschreckt, Herr Wolff, wie immer.“ Er ignorierte ihre Spitze gegen sein Aussehen. Anni rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Stirn. Sie mochten einander nicht und Wolff traute ihr nicht. Löb schien ihre Nähe auch eher als Bedrohung aufzufassen … Warum? Die beiden kannten Lotti nicht gut, aber sie hatte auch ihm schon die Haare geschnitten und war ein häufiger Gast in der Wohnung. Für einen Moment überlegte Anni, ob sie eine Brücke zwischen den drei unterschiedlichen Menschen schlagen sollte. Aber allein die verhaltene Art Wolffs und das Misstrauen Löbs hielt sie zurück. „Worüber habt ihr euch unterhalten?“, fragte Wolff beiläufig. Löb räusperte sich: „Augenblicklich theoretisieren wir, Heinrich.“ „Weit sin‘ wa ja nich jekommen.“ Anni hörte eine Spur Spott aus Lottis Worten. Allein die Tatsache, dass ihre Freundin die Verhaftung nicht ernst zu nehmen schien, zerrte an ihr. „Wir überlegen, warum mein Vater verunglimpft wurde“, murmelte Anni. Langsam drehte Wolff sich um und lehnte sich gegen den Herd. Bedächtig nickte er, wobei er Lotti beobachtete. Sie schien sich unter seinem Blick nicht wohl zu fühlen. Nervös rutschte sie auf dem Stuhl herum und griff – wie Anni auffiel – zum ersten Mal in den Federkragen ihres Morgenrockes, um ihn zusammenzuhalten. Wolff räusperte sich und massierte seinen Nasenrücken. „Dahinter verbirgt sich Vorsatz, würde ich meinen“, sagte er ernst. „Jemand nutzt den maroden Leumund Ihres Vaters, um seine Mordlust zu verschleiern.“ „Det is doch nich möchlich … Wie soll so jemand damit durchkommen?“ Lotti schüttelte sich. „Wo der Herr Beckmann doch ein so juter Kerl is‘.“ Wolf ignorierte ihre Worte. „Der Kindermörder wird seine Abreise aus der Stadt planen, nehme ich an, sonst hätte er Herrn Beckmann nicht an von Stürickow ausgeliefert.“ Lotti hob die Brauen und murmelte: „Ehrlich? Det wär nich jut.“ „Wenn das wenigstens sicher feststünde …“, sagte Löb und sank nachdenklich in seinen Stuhl. „Hast du …?“ „Nur wird meine Vermutung Ihrem Vater ohne Beweise wenig helfen“, sagte Wolff monoton, ohne auf seinen Freund Rücksicht zu nehmen. Wollte er Löb zum Schweigen bringen? Anni konnte ihn schwer fragen. Ihr Blick glitt zu Löb, der Wolff nicht aus den Augen ließ. Er schien ihn verstanden zu haben. Über seine Lippen glitt ein Lächeln. Verständnis und Zuneigung lagen in seinem Blick. Scharf stach der Gedanke in ihre Brust und breitete sich aus. Am liebsten wollte sie aufspringen und den Blickkontakt der beiden Männer unterbrechen. Sie durfte sich von solchen Dingen nicht ablenken lassen. Mühsam schluckte Anni den Neid und die Eifersucht hinunter. „Bevor Sie zurückkamen“, begann sie mit belegter Stimme, „wollte Herr Löb etwas sagen.“ Tatsächlich löste sich Löb aus seiner Betrachtung und nahm den Faden auf. „Ich wollte im Grunde nichts anderes sagen, als das, was Heinrich bereits angesprochen hatte. Nur bin ich mir sicher, dass sich in dem Zusammenhang Vorsatz verbirgt.“ Wolff fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Seine Lippen zuckten. Offenbar überlegte er, was er sagen wollte. „Herr Beckmann ist ein bekannter Kommunist, jemand, der seine Ansichten in Worte fasst. Er eignet sich also, weil er bereits sehr oft negativ aufgefallen ist und die Gendarmerie generell nach ihrem persönlichen Empfinden handelt.“ Anni hatte von Stürickows Unwohlsein noch in Erinnerung. Wenn Wolff recht behielt, würde er zugunsten von Vater entscheiden und alles in Bewegung setzen, damit ihm nichts geschah. Wolff und Löb wussten das. Lotti schienen sie nicht in ihre Überlegungen miteinbeziehen zu wollen. Vielleicht war es gut, das Spiel mitzuspielen. „Nur wegen seiner politischen Meinung?“, fragte Anni und legte demonstrativ die Stirn in Falten. „Damit hat er keinem geschadet.“ „Aber sich auch nicht geholfen“, widersprach Löb ernst. „Ich verstehe und teile die Ansichten Ihres Vaters. Das weiß er auch.“ „Wat meinen Se denn damit?“, fragte Lotti. Sie betrachtete ihn aufmerksam über den Rand ihrer Tasse hinweg. Löb hob eine Braue. „Fräulein Runge, bitte stellen Sie sich nicht dumm. Sie – als gebürtige Berlinerin – wissen bestens über die politischen Umtriebe zwischen Kommunisten, Nationalisten und Royalisten Bescheid.“ Sie lächelte. „Schon, aber ick find et interessant, wie de Politik hier ausjelecht wird. Des sind doch eher Stammtisch-Parolen un‘ Freizeit-Kommunisten.“ Anni schnaubte. „Mein Vater …“ „Reg dir nich auf, Kleenes“, unterbrach Lotti sie. „Ick weß doch, wie viel Herzblut dein Vater fürn Kommunismus hat.“ Die Worte trafen trotz des gutmütigen Tons, den sie anschlug. Anni presste die Kiefer aufeinander. Sahen die Leute ihn wie Lotti, also als armen Irren, der immer auf verlorenem Posten gegen Militär, Gendarmerie und Nationalisten stand? Ein Don Quichotte, der gegen Windmühlen anritt. Sie senkte den Kopf. „Er ist also das Bauernopfer“, nahm sie Wolffs Gedanken wieder auf. „Jemand, der sich eine Blöße gegeben hat“, bestätigte er, während er langsam er zu dem Stuhl neben Löb schritt und sich niederließ. „Durch seine Bekanntheit in der Gendarmerie eignet er sich dafür. Ich glaube nicht, dass die Tat als solche gegen ihn persönlich geht, Anni. Vielmehr bin ich sicher, dass jemand seine Möglichkeiten zu nutzen weiß und Beckmanns Leumund radikal ausnutzt.“ Anni fiel auf, dass Wolff beide Hände zu Fäusten geballt hatte. Die Knöchel traten weiß hervor. Trotz der tiefsitzenden Wut wirkte er erschöpft und fahl. „Wie kann ich das beweisen?“, fragte sie. Er schloss kurz die Augen und wiegte den Kopf. „Wir müssen die Person finden, die die Kinderschürze versteckt hat – bevor sie sich absetzt.“ Anni feuchtete ihre Lippen an. „Aber wer würde das machen, Herr Wolff? Ich meine, es müsste doch jemand sein, der hier lebt und unsere Verhältnisse gut kennt, jemand, der in der Wohnung verkehrt.“ Oder, fügte sie wortlos hinzu, jemand, der unsichtbar ist und sich Zutritt überallhin verschaffen kann. Allein bei der Vorstellung wurde ihr kalt. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und warf ihr einen warnenden Blick zu, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. „Ja, jemand, der hier immer ein- und ausgehen kann und die Örtlichkeit gut kennt.“ Automatisch warf Anni Lotti einen Blick zu, den ihre Freundin ignorierte. Gefesselt betrachtete diese Heinrich Wolff. „Wenn ich keinen Mörder finde, keine Beweise …“ Anni vergrub sich in den Tiefen ihres Mantels. „Sie wissen“, murmelte sie, „was man mit vermeintlichen Mördern macht.“ „Ja“, bestätigte Wolff, wobei er sich nach vorne neigte. „Umso wichtiger ist es, dass wir beweisen, dass Ihr Vater nichts mit diesen Vorgängen zu tun hat.“ Er lächelte. Es tat gut zu sehen, dass er auf ihrer Seite war. „Und wie sollen wir das angehen?“, platzte es aus ihr heraus. Im gleichen Moment biss sie sich auf die Zunge. Wolff sah auf den Flur hinaus. „Sehr bald in jedem Fall. Die Person, die Ihnen und Ihrer Familie gefährlich geworden ist, lauert nur auf eine weitere Chance.“ „Das eben?“, begann Anni stockend und sah aus dem Augenwinkel zu Lotti. Sollte sie die Frage stellen? Ihr wurde kalt. „Das war der wahre Mörder, nicht?“ Wolff schwieg. Geschmeidig erhob er sich und schob eine Hand in die Hosentasche. „Ich hole die Zeitungen der letzten Tage, Anni, Sie überlegen sich, wer in den letzten Wochen – seit dem Verschwinden der ersten Kinder - in dieser Wohnung war, und Konrad wird uns sicher seine Hilfe nicht verwehren, oder?“ „Und wer jeht für de Anni arbeiten?“, fragte Lotti, während sie das Kinn mit der Hand abstützte und Wolff in die Augen sah. Anni behielt ihn ebenfalls im Blick, in der Hoffnung, dass ihm eine gute Ausrede einfiel, damit sie nicht in die Fabrik gehen musste, aber er schwieg. In seinen Zügen regte sich nichts. Lotti löste sich betont überzeugt aus ihrer Position und stand auf. „Schön dass Se Sprüche reißn wie de Kriminale, aber det hilft de Anni nich. De Kleene muss aufe Arbeit.“ * Wie Lotti auf ihre ganz eigene, sehr berlinerische Weise betont hatte, musste Anni sich wohl oder übel auf den Weg zur Arbeit machen, ganz gleich, wie wichtig es ihr gewesen wäre Mutter zu schützen und sich noch einmal mit Wolff auszutauschen. Nach all dem, was innerhalb der letzten Stunden geschehen war, würde sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können. Als Anni sich in ihrem Zimmer umzog, schlief Mutter oder gab wenigstens vor zu schlafen. Sie hatte sich zur Wand gedreht und die Decke hochgezogen. Dennoch sah Anni die Stiefel und den graubraunen Wollrock. Es schien, als warte sie nur darauf, dass Anni ging. Auch wenn ihr nicht ganz klar war, weshalb Mutter sich auf diese eigenartige Weise gab, anstatt ihrer Angst eine Stimme zu geben, glaubte sie doch ein klein wenig zu begreifen. Es lag an den Kindsmorden, die ihr vor Augen hielten, wie viel Glück sie damals gehabt haben musste, aber auch an Wolffs grausamen Tod und seiner Wiederauferstehung. Der Schnittpunkt all der Ereignisse musste das Geschöpf sein, was durch verschlossene Türen drang, unsichtbar und unstofflich. Anstatt darüber sprechen zu wollen, verschloss Mutter ihr Wissen in sich, was der ganzen Situation den Anstrich von tiefem Misstrauen verlieh. Der Gedanke tat weh. Natürlich standen sie sich nicht auf die gleiche Weise nah wie Marie Engel und ihre Mutter, aber Anni hatte sich wenigstens gewünscht … was eigentlich? Vertrauen, Offenheit, ein paar klärende Worte? Die Wahrheit aus ihrem Mund wollte Anni hören, nicht von Konrad, der sie herausschrie, weil er sie nicht ertrug. Als sie die Knöpfe ihrer Bluse schloss, wandte sie sich zu Mutter um. Obwohl sie ruhig dalag, konnte Anni ihre ungleichmäßigen Atemzüge hören. „Warum versteckst du dich?“, fragte sie. Die Stille im Raum wurde nur vom Rascheln des Stoffes und den Luftzügen unterbrochen. Natürlich hatte sie nicht mit einer Antwort gerechnet. Vermutlich traf sie nicht den richtigen Ton. Anni versuchte es mit einer anderen Taktik. „Ich weiß alles von Konrad.“ Kurz sah sie zu Mutter, die sich nicht bewegte. Verzagt ließ Anni den Kopf hängen. „Dein Verhalten hilft Vater nicht.“ Das war immer einer der wunden Punkte, Mutters Angst. Immerhin drohte ihm durch die häufigen Festnahmen die Entlassung als Lehrer. Nun würde er ganz sicher die Schule verlassen müssen. Es war eine der vielen Konsequenzen, die sich Anni langsam offenbarten. Trotzdem hielt Mutter an sich. Ihre Angst hing greifbar in der Luft und versetzte Anni erneut in Anspannung. Konnte Anni sie wirklich allein lassen? Zögernd schloss sie die Haken an ihrem dicken Rock und legte die Schürze an, bevor sie sich das kinnlange Haar richtete. Über den fleckigen Spiegel behielt sie Mutter im Blick. Sie lag zusammengekauert, verkrampft in den Laken. Langsam trat Anni an das Bett heran und streichelte Mutter über die Wange. Fiebrige Wärme stieg auf. Etwas in Anni brach. In diesem Augenblick wurde der Wunsch, die Bruchstücke ihres gemeinsamen Lebens zusammenzufügen, zu einem unausweichlichen Zwang. Rasch löste Anni sich von ihr und trat auf den Flur. Aus der Küche drang der Geruch nach Lottis Parfüm und heißem Tee. Offenbar hatte ihre leicht bekleidete Freundin sich eingenistet. Durch einen Türspalt sah sie die blonden Löckchen auf dem rosafarbenen Kunstseidenstoff. Lotti saß offensichtlich am Tisch und frühstückte. Sie war die Einzige. Löb schien sich nicht gerührt zu haben und Wolff … Er öffnete die Tür und vertrat Anni den Weg. Irritiert hielt sie inne und sah zu ihm auf. Er versuchte aufmunternd zu lächeln. Es misslang. Wie gerne hätte sie mit ihm gesprochen, gefragt, was er herausfinden konnte, ob er die Unterkunft des Unsichtbaren ausgemacht hatte, aber Lotti wandte sich um. „Wat kiekste?“, fragte sie mit gutmütigem Lächeln. „Ab uffe Arbeit!“ Wolff rollte die Augen. Wortlos reichte er ihr ein in Tuch eingeschlagenes Päckchen. „Was ist …?“ Anni unterbrach sich. Unter ihren Fingerspitzen fühlte sie die weiche Brotkrume. „Danke“, flüsterte sie und nickte ihm zu, zögerte aber. „Hatten Sie Erfolg?“ Er nickte unmerklich. „Können wir uns später darüber unterhalten, Anni? Ich habe viele Informationen für Sie, wichtige, über die ich jetzt nicht sprechen kann.“ Die Worte durchdrangen Anni bis ins Innerste. Informationen, er hatte vielleicht Erfolg gehabt! „Annchen!“, rief Lotti scharf. Ihrer Stimme fehlte jede Freundlichkeit. „Trödel nich!“ Bevor Anni dem brennenden Bauchgefühl nachgeben konnte, strich Wolff über ihren Arm. „Passen Sie auf sich auf“, sagte er. Die Eindringlichkeit in seiner Stimme ließ sie schaudern. Knapp nickte sie und huschte an ihm vorbei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)