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Warte, warte nur ein Weilchen

von

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Ein kleiner Wahrheitssplitter / 09.11.1918

Löb saß in dem einzigen Küchenstuhl, der Armlehnen besaß, sodass er sich daran hochstemmen konnte. Anni musterte ihn vom Herd aus. Die Küche war das Herz des Haushalts und neutraler Boden für alle Untermieter. Hier fühlte sie sich sicher. Löb räusperte sich, bevor er umständlich seine Strickjacke abstreifte und sich über die Knie legte. Erneut suchte er ihren Blick. Eine stumme Aufforderung lag darin. Anni begann sich unwohl zu fühlen.

Rasch ging sie in die Knie und öffnete die Ofenklappe. Vermutlich erkannte er die Geste als das, was es war; eine Flucht vor dem offenen Gespräch.

Tatsächlich begann das Feuer in sich zusammenzufallen, sodass sie ein Brikett nachlegen musste. Als sie den Riegel verschloss, begann die Stille zu dröhnen. Das unangenehme Schweigen verdeutlichte Löbs Erwartungshaltung. Wie sollte Anni ihm all das erklären, was sie erlebt hatte? Etwas daran war widerlich, unnatürlich und obszön. Langsam stemmte sie sich hoch und lehnte sich wieder gegen den Herd. Wenn Löb wenigstens in einer anderen, engeren Beziehung zu ihr stünde, wäre vielleicht vieles anders, aber im Grunde waren sie Fremde, die höflich zueinander waren, unter einem Dach lebten, aber wenig Berührungspunkte aufwiesen. Gegenüber Lotte oder Wolff wäre sie eher bereit gewesen davon zu erzählen … oh wäre ihre Freundin doch wenigstens hier!

Hinter ihr brutzelte der Rest Wasser im Topf. Einen Augenblick später klapperte das leere Gefäß über dem Ofenring. Mit einem Handtuch nahm sie ihn von der Feuerstelle und hängte ihn vorsichtig an dem Wandhaken auf. Eine der hellblauen Fliesen knackte und bekam einen weiteren Riss.

„Anni, bitte reden Sie mit mir.“

In seiner Stimme lag ein leises Flehen, sodass sie sich umwandte. Vorsichtig sah sie unter ihren Wimpern zu ihm hinüber. Er hatte gesagt, dass es zwischen Wolff und ihm keine Geheimnisse gab. War Löb überhaupt bewusst, wie sein Freund vorhin reagiert hatte? Konnte es sein, dass …

„Heinrich hat Gefahr gewittert“, sagte Löb, während er beide Hände auf seiner Jacke niederlegte.

„Gewittert“, wiederholte sie betont. Löb verzog keine Miene. Anni behielt ihn im Blick.

„Was ist er?“, fragte sie leise.

„Es ist nicht an mir über ihn und das zu sprechen, was passiert ist“, entgegnete er tonlos. „Das muss Heinrich Ihnen selbst erklären.“

„Am 23.12.1916 hieß es, er sei auf die gleiche Weise umgebracht worden wie ein Fräulein …“ Anni fiel er Name nicht mehr ein.

„Driesen hieß sie“, half Löb aus. Er atmete stockend ein, wirkte sehr blass und auf eigenartige Weise schuldbewusst. Sein Blick perlte zu Boden. Anni spürte, dass sie das Gespräch an sich gerissen hatte.

„Gab es einen Zusammenhang zwischen ihrem Tod und Wolffs?“

Über Löbs Züge huschte ein trauriges Lächeln. „Ja“, sagte er leise. „Das alte Fräulein war unsere Professorin. Wir haben bei ihr Kunst studiert.“ Seine Stimme war leiser geworden. Er schien in die Vergangenheit zu blicken. Mit unverhohlenem Schmerz in der Stimme fügte er mehr zu sich selbst hinzu: „Das arme, alte Fräulein in ihrer menschunwürdigen Dachkammer …“ Er hob den Kopf. „Sie hat Jahrzehnte Kinder und Jugendliche unterrichtet; genaugenommen hat sie uns Studenten nur betreut, während unsere Professoren im Feldeinsatz waren. Niemand hat ihr dafür gedankt. Und schließlich ist sie auf unwürdige Weise umgekommen.“

Die Leidenschaft in seiner Stimme berührte Anni. Trotzdem wollte sie dem Gefühl nicht nachgeben. Sie legte die Stirn in Falten. „Ist Fräulein Driesen auch zurückgekommen wie Heinrich Wolff, tierhaft?“ Die Frage fiel ihr leichter als erwartet. Wolff, dachte sie, seltsam wie genau der Name bei ihm zutrifft.

Verblüfft schüttelte Löb den Kopf. „Aber nein! Von diesem zierlichen alten Vögelchen war nichts mehr übrig!“

Anni biss sich bei der Wortwahl auf die Lippe. Ihre Vorstellung erschuf ein Monster, was einen Kanarienvogel aufs Grausamste zerfetzte, sodass die Federn aufstoben und die Knochen knackten. Rasch sperrte sie den Gedanken in eine dunkle Schublade zurück.

„Wie …“, begann sie mit schwankender Stimme. Ann räusperte sich. „Wie konnte Wolff zurückkommen? Überall, in allen Zeitungen stand, dass beide zerrissen wurden.“

Löbs Kiefermuskeln arbeiteten.

„Das … nein, das kann ich Ihnen nicht sagen!“, entgegnete er bestimmt.

„Aber warum? Ich weiß doch schon so viel.“

Er schwieg einen Moment. Sein Blick richtete sich nach innen. Über seine Mimik huschten Gefühle, die Anni kaum verstand. Schmerz, Leid, Wut, Angst … Plötzlich straffte er sich.

„Ich kann es Ihnen vielleicht mit Heinrichs Worten erklären, aber die ergeben auch für mich keinen Sinn.“

Irritiert schüttelte Anni den Kopf. „Wieso?“

„Weil er selbst nie begriffen hat, was mit seinem toten Körper vor sich gegangen ist. Verstehen Sie?“

Anni sah zu ihm. Seine Augen waren groß und rund.

„Niemand war da, um ihm zu erklären, was ihn zurückgeholt und verändert hat. Keiner war da, um ihm zu sagen, wo seine Grenzen lagen und was er anrichten konnte. Er war allein mit dieser Last.“

Anni sank ein Stück in sich zusammen. Diese Antwort wog schwer und half nicht weiter. Still nickte sie. Vielleicht war es besser das Thema fallen zu lassen. Aber ihre Gedanken kreisten um die Geschehnisse.

Es gab menschliche Hunde wie Wolff und unsichtbare Männer. Wenn solche Geschöpfe tatsächlich Bestandteil einer grauen, trostlosen Welt voll Hunger und Kriegstoten waren, warum änderten sie nicht das Schicksal aller? Es lag schließlich in ihrer Macht. Der Gedanke verblasste.

„Glauben Sie an einen Mann, der durch feste Materie gehen und mich berühren kann, ohne dass ich ihn sehe?“

Löb senkte den Blick. Er schien zu überlegen. „Ich glaube, es verhält sich anders. Er kann nicht durch Wände gehen, aber der Effekt stellt sich uns so dar.“

„Wirklich?“, entfuhr es ihr. Hitze durchströmte sie. „Dann wissen Sie, was das war. Wie kann ich mir das Phänomen sonst vorstellen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Das kann ich Ihnen nicht erklären, weil ich es mir selbst nicht richtig vorstellen kann.“

Enttäuscht sank sie zurück. Irgendetwas störte sie an der Aussage. Es klang wie eine Ausrede. Wahrscheinlich wusste er ganz genau, wie dieses Geschöpf durch die Tür gekommen war, aber er wollte oder konnte es aus irgendeinem Grund nicht in Worte fassen. War sie der Wahrheit zu nah gekommen? Anni verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn sie mehr verriet, brachte sie ihn vielleicht dazu genauer zu werden. „Ich habe den Mann gefühlt und gerochen, einmal konnte ich ihn sogar schlagen, er war also körperlich vorhanden.“

Sie beobachtete ihn. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Anscheinend ging ihre Taktik nicht auf. Er hielt sich bedeckt.

„War er hier in der Wohnung, oder habe ich mir das alles nur eingebildet?“, fügte sie hinzu.

„Er war hier“, entgegnete Löb schlicht. Plötzlich fühlte sie ein Flattern in ihrem Bauch. Kribbelnd durchströmte sie das Gefühl. Diese Aussage öffnete eine ganze Welt neuer Hypothesen. Annis Blickwinkel schien sich unendlich zu erweitern. Welche Möglichkeiten hatte ein solches Geschöpf im Zusammenhang mit den Morden und den Anschuldigungen gegen ihren Vater? Sie spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Neue Anspannung durchfloss sie. Rasch zog sie sich ihren Stuhl heran und setzte sich.

„Kann es also sein, dass jemand hier war, ohne dass wir ihn bemerkt haben … jemand, der diese blutverkrustete Schürze hiergelassen und danach auf der Gendarmerie Anzeige gegen meinen Vater gestellt hat?“

Ein Beben folgte ihren Worten.

Löb musterte sie einen Moment, sah dann aber an ihr vorbei ins Leere. Er schien nachzudenken.

„Es ist doch möglich, oder?“, rief sie.

„Das kann ich nicht sicher sagen.“

Das klang wieder nach einer Ausrede. Warum wich er ihren Fragen aus? Wollte er sich schützen?

„Herr Löb, bitte. Sie sagen, es gibt zwischen Ihnen und Herrn Wolff keine Geheimnisse, aber Sie weichen meinen Fragen aus und all Ihre Antworten klingen wie eine Schutzbehauptung.“

Anni rückte an den Tisch heran und legte die geballten Fäuste auf der Tischplatte ab.

„Ich muss meinem Vater helfen, ihn entlasten und wenn mir niemand hilft, werde ich versuchen allein Beweise für seine Unschuld zu finden!“

Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit wieder zurückgewonnen. Er hob beide Hände und schüttelte abwehrend den Kopf.

„Tun Sie das nicht, Anni. Diese Art von Neugier endet tödlich!“

In seiner Stimme schwang ein hoher, fast hysterischer Unterton ehrlicher Angst mit. Sie schauderte. Vermutlich war Heinrich Wolff genau deshalb gestorben und als fremdartiges Geschöpf wiedergekehrt. Plötzlich wurde ihr klar, dass Löb zwar alles wusste, aber seinen Freund tatsächlich nicht verstand. Er hatte sich in einer Weise verändert, die ein Mensch nicht erfassen konnte. Aber vielleicht verstand sie Wolff. Anni empfand keine Angst mehr vor ihm, nur Sicherheit, wenn er in der Nähe war, das Vertrauen, was man in … sie scheute den Gedanken in ein Wort zu fassen, aber er drängte sich auf: Es war dasselbe Gefühl, wie wenn sie nachts allein mit einem großen, starken Hund durch einen Wald ging. Sie konnte sich blind auf seinen Schutz verlassen.

Löb musste ihr mehr sagen, vielleicht begriff sie Wolff auf ihre ganz eigene Art: intuitiver, weniger von alten Gefühlen getrübt, die ihn beeinflussten. Nervös sah sie zur Seite. „Ich möchte nur wissen, ob ein Mensch …“

Das war kein Mensch!, mahnte ihr Verstand.

„Kann ein solches Wesen“, korrigierte sie sich, „diese Fähigkeiten haben und gefälschte Beweise hinterlegen?“

Löb wand sich. Er wirkte gequält. Nach einem Moment entgegnete er: „Diese Frage müssten Sie Heinrich stellen.“ Er machte eine Pause, schüttelte dabei den Kopf: „Aber ich glaube eher, dass jemand hier war, den Sie, Ihre Mutter oder einer von uns Untermietern eingelassen hat.“

Zweifelnd hob Anni eine Braue. „Sie versuchen meinen Verdacht zu zerstreuen.“

Er wiegte den Kopf. „Ich meine es ernst. Man muss keine besonderen Fähigkeiten haben, um Beweise unterzuschieben.“

„Trotzdem wäre es sehr einfach schon, weil die Schürze im Schlafzimmer meiner Eltern gefunden wurde und dort niemand Zutritt hat.“

„Erschlagende Logik“, gestand er. Löb schluckte und strich sich das Haar zurecht. Anni kam es vor, als nutze er die Zeit, um sich seine Worte harmonisch und beruhigend zurechtzulegen. Im Moment mochte sie seine Gegenwart gar nicht, weil er ganz anders reagierte als Wolff. Löb umging den Kern der Sache.

„Dennoch sollten Sie sich nicht darauf versteifen, Anni.“

Er befeuchtete sich die Lippen. Ohne es zu wollen, suchte sie bei ihm nach verlängerten Eckzähnen, fand aber keine. Dieser Mann war beinah enttäuschend menschlich.

„Überlegen Sie selbst, wer außer uns Mietern Zutritt zu dieser Wohnung hat.“

Alles in ihr wehrte sich gegen die Vorstellung einen menschlichen Gegner zu haben.

„Daran glaube ich einfach nicht.“

„Trotzdem, überlegen Sie“, beschwor er Anni.

Seufzend schloss sie die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen. Also bitte, wenn er unbedingt danach verlangte …

„Lotte ist oft bei uns. Sie macht allen Frauen die Haare.“ Vermutlich hörte er ihren Unwillen heraus; gut so!

„Und wer noch?“, fragte Löb geduldig. „Vergessen Sie nicht, dass Heinrich und ich viel unterwegs sind und kaum etwas von den Vorgängen hier mitbekommen.“

Langsam richtete sie sich auf und hob die Lider.

„Auch ich komme erst abends nach Hause“, erinnerte sie ihn.

Auffordernd nickte er ihr zu. „Trotzdem haben Sie einen besseren Überblick. Sie müssen sich doch nur vor Augen rufen, wer in den letzten Monaten hier ein- und ausgegangen ist …“

„Sie und Herr Wolff.“

Er zuckte kurz, blinzelte. Seine Lippen klafften auf. Offenbar hatten ihre Worte etwas zu hart getroffen.

„Entschuldigen Sie, ich wollte damit nicht sagen, dass ich einen Verdacht gegen Sie hege.“

Er nickte. „Aber es drängt sich auf, weil wir eingezogen sind, als die Kindermorde begannen und Heinrich Ihnen unheimlich war.“

Die Schärfe in seinen Worten spiegelte wider, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Versehentlich schuf sie mit dem Satz eine Kluft zwischen Löb und sich. Das hatte sie nicht gewollt. In ihrer Brust zog sich alles zusammen.

„Unheimlich schon“, beeilte sie sich zu sagen, „aber ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet ihn zu verdächtigen.“ Sie wich seinem Blick aus. „Ich weiß auch nicht warum. Eigentlich ist er Soldat und wird viele Menschen getötet haben, aber Kinder?“ Anni schüttelte den Kopf. „Dazu ist er viel zu …“

„Treu“, fiel Löb ihr ins Wort. Sie hob den Blick, um zu sehen, wie er die Lippen verzog. Es stimmte. Mit einem Wort hatte er ausgedrückt, wie sein Freund war.

Schwach nickte sie. „Stimmt.“

Mühsam ruhig holte Löb Luft. Er schien sich wieder zu fangen.

„Vielleicht haben Sie recht, Anni. Aber trotzdem können wir nicht pauschalisieren. Die Person, die ihren Vater angezeigt hat, hegt sicher persönliche, sehr weltliche Gründe.“

„Jemand wie der Soldat gestern Abend, dieser Goemann?“

Über Löbs Mimik huschte ein Schatten. „Es würde zu ihm passen, aber er wohnt nicht im Haus und es ist sehr unsicher, dass er jemand hier kennt, der Ihrem Vater diese Schürze untergeschoben haben könnte.“

Anni kniff die Augen zusammen. Goemann hegte eine persönliche Abneigung, war dazu in der Lage und hatte vorhin Gelegenheit gehabt.

„Bei der Durchsuchung vielleicht?“

Löb zog die Brauen zusammen.

„Das würde bedeuten, dass er den Fetzen bei sich getragen haben muss und unbeobachtet von Lohmann und dem Hilfskommissar gehandelt hätte.“

„Warum nicht?“, fragte Anni. „Vielleicht ist die Schürze nicht von Emilie Jost und das Blut stammt von einem Tier, nicht von einem Menschen.“

„Gut argumentiert, aber schlecht durchdacht.“

Irritiert hob Anni beide Hände. Löb winkte ab.

„Dazu hätte er die Schürze bei sich tragen müssen. Wann war er allein im Schlafraum Ihrer Eltern?“

„Max Lohmann war bei ihm.“ Anni seufzte. Um den Beweis zu verstecken, hätte er allein sein müssen und ein wenig Zeit gebraucht. Damit hatte Löb zweifelsfrei recht. Es war mühselig, sich darüber Gedanken zu machen. Ohne genauer darüber nachzudenken, sagte sie: „Der Hauswart.“ Im gleichen Moment bemerkte sie, dass sie den Verdacht gegen eine Person aussprach, der sie wenig Sympathie entgegenbrachte. Rasch fügte sie hinzu: „Womit ich nicht sagen will, dass Herr Tranitz sich mit seinem Nachschlüssel Zugang zu unserer Wohnung verschafft hat.“

In ihren Ohren klangen die Worte wie eine halbherzige Entschuldigung. Der Mann war widerlicher. Er stieß sie in jeder Weise ab. Tranitz trug die Brillantine der letzten Jahre im Haar und roch nach Schweiß, Tabak, den Medikamenten seiner Frau und billigem Rasierwasser. Löb schwieg. Wieder sah er an ihr vorbei. Hörte er überhaupt noch zu, oder befand er sich in seiner eigenen Gedankenwelt?

„Glauben Sie, dass mein Vater töten kann?“, fragte sie unvermittelt, um ihn aufzuschrecken.

Ohne zu zögern, schüttelte Löb den Kopf.

„Ich glaube, dass er keine Waffe – gleich welche – nutzen könnte, selbst wenn sein Leben davon abhinge.“

Erleichtert lächelte sie. Immerhin hörte er ihr noch zu. „Glauben Sie deshalb an seine Unschuld, oder nur weil Herr Wolff es tut?“

Löb richtete sich etwas bequemer auf seinem Stuhl ein. Warum brauchte er so lang, um darauf zu antworten? Anni behielt ihn genau im Blick.

„Heinrich und ich waren Schüler bei ihm. Wir beide kennen ihn seit langem – eigentlich unser ganzes Leben. Ein Mensch wie er nutzt ausschließlich Worte zum Kämpfen.“

Er betrachtete seine Hände.

„Ihr Vater ist ein Kommunist, jemand, der den Lehren von Karl Liebknecht folgt.“ Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu. „Er war es, der Heinrich zu einem überzeugten Anhänger des Sozialismus und Kommunismus gemacht hat.“

„Aber warum ist Wolff dann in den Krieg gezogen?“

Löb wies auf sich. „Weil ich mich freiwillig gemeldet hatte und er nicht von meiner Seite weichen wollte.“

Treu, dachte Anni, so treu wie ein Hund.

Jetzt wusste sie viel über die stillen, nicht ausgesprochenen Verbindungen zwischen Vater und den beiden Männern, aber sie wusste noch immer keine Person zu benennen, der einen Vorteil aus dem Beweisstück ziehen konnte. Sie blinzelte, stützte sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab und sah auf die angerostete Blechuhr über der Balkontür zum Hinterhof. Wolff war seit fast einer Stunde fort, um den Unsichtbaren zu verfolgen. Langsam begann sie sich Sorgen zu machen. „Wo bleibt Herr Wolff?“

„Er verfolgt die Person, die Sie gehört und wahrgenommen haben.“ In Löbs Stimme schlich sich leichte Unsicherheit.

„Er ist schon so lange fort“, flüsterte Anni.

Er drehte sich im Stuhl um, zog aber zur Sicherheit seine eigene Taschenuhr. Zwischen seinen Brauen entstand eine tiefe Falte.

„Hat er eine Chance gegen den unsichtbaren Mann?“, fragte sie leise.

„Ich bin mir nicht sicher, Fräulein Anni.“

Die Worte blieben kalt in der Luft hängen. Schaudernd betrachtete sie ihn. „Was meinen Sie?“

Er zögerte. Anscheinend überlegte er, ob er weiterreden solle. Nach einem Moment sagte er: „Wie Sie erraten haben, ist 1916 bereits etwas Ähnliches passiert.“ Mit dem Kopf nickte er in Richtung der Stube. „Heinrichs Verletzungen stammen schließlich nicht aus dem Krieg, sondern von dem Angriff von … etwas.“

„Etwas?“, wiederholte sie misstrauisch. „Hat ihn dasselbe Geschöpf angegriffen und zerrissen?“

Unsicher wiegte Löb den Kopf, als wolle er der Frage erneut ausweichen. Nach einem Moment nickte er.

„Es ist etwas Unmenschliches“, sagte er und fügte hinzu: „Die Art Sie zu bedrängen hat mich entsetzlich stark an Heinrichs Erlebnisse erinnert und die Tötung der Kinder entspricht dem Tod von Fräulein Driesen.“

Die Worte sengten unter Annis Haut bis in ihre Fingerspitzen. Sie federte vom Stuhl hoch.

„Ihnen ist bekannt, was – vielleicht sogar wer – die Morde begeht, und sie speisen mich damit ab, dass ich mir Gedanken machen soll, wer im Haus ein Problem mit meinem Vater haben soll?!“

Ihre Stimme klang viel zu laut in der ruhigen Wohnung.

„Ich nehme es nur an, sicher bin ich nicht“, wehrte er ab.

„Warum sagen Sie nicht, was Sie denken? Weshalb lenken Sie immer wieder ab?“

„Weil ich weder Heinrich noch Ihnen glauben möchte, dass ein solches Geschöpf noch einmal hier“, er rammte seinen Finger auf den Tisch, „an ein und demselben Ort Jagd machen kann, ohne aufgehalten zu werden!“ Er ballte die Faust und schlug auf die Platte. „Ich will es nicht glauben …“

Die Intensität in seiner Stimme ließ nach. Nach einer Weile flüsterte er: „Es ist einfach nur eine Vermutung.“

„Eine Vermutung?“ Anni presste die Lippen aufeinander. „Sie haben Angst vor der Wahrheit, weil Sie wissen.“

Er verdrehte die Augen und setzte zum Sprechen an. Anni stand auf. „Hören Sie, Ihr Freund Heinrich begibt sich in große Gefahr, weil er an dasselbe glaubt wie ich; und Sie tragen dieses Wissen mit sich herum, leugnen es aber. Warum nennen Sie sich einen Freund meines Vaters, wenn Sie nicht die Kraft aufbringen, über Ihren Schatten zu springen? Sie müssen es nur von Stürickow sagen!“

Löb schüttelte den Kopf. „Nein, das ist unmöglich.“

„Herr …“

„Anni, bitte, sei still Kind.“

Mutter?

Anni hatte sie nicht kommen gehört. Sie war lautlos über den Flur in die Küche getreten. Unsicher sah Anni sich nach ihr um. Obwohl ihre Mutter erschöpft wirkte, schien sie zu wachsen. Ihre Präsenz füllte die Küche zur Gänze aus. So stark hatte Anni sie nie zuvor erlebt.

„Herr Löb … Konrad … Ist es wirklich, wie Sie sagen?“, fragte Mutter. Sie trat näher an den Tisch.

„Solang Heinrich nicht wieder hier ist, kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten, Frau Beckmann.“

„Konrad, bitte!“ In ihrer Stimme lag Schärfe.

Er konnte ihrem Blick nicht standhalten. Seine Kiefer mahlten. Anni bemerkte, dass die Lippen ihrer Mutter zu zittern begannen.

„Wie damals bei Heinrich und Fräulein Driesen?“, fragte Mutter.

„Vielleicht. Es wäre … gut möglich.“ Löb sprach leise. Auch er schien erschüttert, als realisiere er erst jetzt, welche Konsequenzen die Erlebnisse des Abends und der Nacht in sich trugen. Mutter senkte den Kopf. Unsicher griff sie in ihren Rockstoff und vergrub ihre Finger. „Nicht wieder diese grausamen Verbrechen! Sind es wieder die beiden Landser, die Zwillinge?“

Zwillinge, Landser? Anni verstand nicht, wagte aber nicht zu sprechen.

Erneut hob Löb die Schultern. Er flüsterte: „Heinrich glaubt nicht daran. Es sind andere Jäger.“

Jäger … Mutter gegenüber sprach er aus, wie sich diese Geschöpfe nannten. Anni empfand den Namen als passend, aber zu lapidar.

Mutter wandte sich zum Gehen, blieb aber stehen. „Heinrichs Ausbleiben macht mir Angst, Konrad.“

Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, das im Knacken des Herdfeuers unterzugehen drohte.

„Das macht mir auch Sorgen“, murmelte Löb.

In seinem Tonfall lag tiefes Gefühl. Seine Maske begann Risse zu bekommen. In ihm wühlte Angst. Um wen, konnte Anni nicht erfassen. Umständlich stemmte er sich hoch und stützte sich schwer auf den Tisch. Anni bemerkte, dass er unbewusst an seiner Unterlippe nagte. Wie bei von Stürickow stellte sich nervöse Unruhe ein. Sein Adamsapfel sprang über dem Hemdkragen. Anni trat zu ihrer Mutter.

„Was verschweigst du mir?“

„Schlimme Dinge, mit denen du nie in Berührung kommen solltest“, entgegnete ihr Mutter, wobei sie zärtlich über Annis Haar strich. Tränen standen in ihren Augen. Das tiefe Gefühl wirklicher Liebe überflutete Annis Herz. Fest umarmte sie ihre Mutter und vergrub den Kopf an ihrem Hals. Aber der Moment war vorüber. Ihre Mutter entzog sich. Vorsichtig befreite sie sich und wich zurück. Sie sah Anni nicht in die Augen, sondern richtete den Blick zu Boden. „Halt dich aus diesen Dingen heraus!“

„Bitte?!“ Anni fühlte sich, als verlöre sie den Boden unter den Füßen. Ihre Mutter drehte sich um und ging zum Schlafzimmer. „Ich muss aufräumen.“

Fassungslos starrte Anni hinter ihr her.

„Mutter …“, flüsterte sie. Ihrer Stimme fehlte jedwedes Volumen. Sie eilte auf den Flur, nur um zu sehen, wie Mutter die Tür hinter sich schloss. Für Sekunden konnte sie nur die abgegriffene Porzellanklinke anstarren. Auf der anderen Seite klang ersticktes Schluchzen. Ihre Mutter weinte wieder. Woher kam nur diese Verzweiflung? Sah sie nicht, dass Löb und Wolff halfen? Annis Kopf füllte sich mit wattiger Leere. Hilflos ließ sie die Schultern sinken und ging in die Küche zurück. Löb stand im Eingang und beobachtete sie. Als er seine Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück, hielt dann aber inne.

„Woher weiß sie von allem?“, fragte Anni.

Löb betrachtete sie einen Augenblick, bevor er mit fester Stimme entgegnete: „Weil sie den Monstern als Kind entkommen ist und sie dafür Heinrichs Mutter geholt haben. Jahre später haben ihn die beiden Landser auch noch bekommen. Und es war Ihre Mutter, Anni, diese stille, verängstigte Frau, die ihn nach seinem Tod und seiner Verwandlung als eine der Ersten gesehen hat. Sie hat sich zusammen mit seinem Vater und mir um ihn gekümmert und bemüht ihm Halt zu geben. Das alles hat sie getan, weil sie für Heinrich und mich ein Engel ist, Kind.“

Fassungslos schloss Anni den Mund und versuchte die Worte in eine verständige Reihenfolge zu bringen. Mutter war diesen Jägern schon begegnet, hatte Wolff geholfen und war für ihn dagewesen … Sie blinzelte. Die Schwere ihres Herzschlages erschütterte sie bis in die Fingerspitzen.

Mutter, dachte sie und liebte sie im gleichen Moment mit brennender Intensität.

„Ich will helfen, besonders Herrn Wolff“, sagte sie fest.

„Sie wissen nicht, worauf Sie sich einlassen.“

Löb lächelte matt, ohne dass die Grimasse seine Augen erreichte. Alle Herzlichkeit fehlte. Er sorgte sich. Warum unternahm er nichts? Wolff war ihm wichtig. Die beiden Männer kannten sich seit langen Jahren und sie waren zusammen im Krieg gewesen. Anni schob sich an Löb vorbei und trat zum Küchenbuffet . In der Schublade lag ein langes, scharfes Ausbeinmesser. Das war die einzige Waffe, die sie im Hause hatten.

„Wohin wird Wolff gegangen sein?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

„Bleiben Sie hier, Anni“, bat Löb tonlos.

„Wohin?“, drängte sie und wandte sich zu ihm um. Er ballte die Fäuste und presste die Lippen aufeinander. „Wohin ihn sein Instinkt treibt.“

„Sie sind in Sorge um ihn“, sagte Anni.

Mit der Hand schützte sie die lange, glatte Schneide des Messers, während sie wieder auf den Flur trat. Hinter sich hörte sie Löb, der ihr folgte. Er humpelte bis zur Tür.

„Wann bin ich kein Kind mehr und es wert nicht mehr im Dunkeln gelassen zu werden? Ich kann auch helfen!“, sagte sie laut genug, um es ihre Mutter hören zu lassen. Die erhoffte Reaktion blieb aus, nur die Geräusche von Schranktüren und Schubladen wurden lauter.

Löb antwortete nicht, wirkte aber konzentriert, als höre er etwas, das Anni entging. Ein kleines Stück Ärger verschwand. Auch sie begann zu lauschen. Was nahm er wahr? Draußen knarrten Dielen. Die Metallkante einer Stufe knackte. Schlich jemand durch das Treppenhaus?

Alarmiert suchte Anni nach seinem Blick, doch der konzentrierte sich. Löbs Hand lag auf der Klinke. Langsam drückte er sie herab.

„Ist das klug?“, wisperte Anni.

Er zuckte die Schultern, hob zugleich aber seinen Stock, bevor er die Wohnungstür öffnete und in die Dunkelheit spähte. Das Geräusch war fort. Anni stockte der Atem. War der unsichtbare Mann zurück?

Sie schaute an Löb vorbei. Der geringe Lichthof der Beleuchtung reichte kaum aus, um mehr als den ausgetretenen Dielenboden vor der Fußmatte zu erkennen. Von unten wehten Kälte, Feuchtigkeit und der Geruch nach Kohlen durch den Treppenschacht nach oben. Jemand hatte sicher Hoftür oder Keller offen gelassen. Auf diesem Weg konnte jeder ins Haus kommen, wann immer er wollte. Anni fühlte, wie ihr die Angst in den Verstand kroch und sie unsicher machte. Sie krampfte eine Hand um das Messer und hielt es nach vorne gestreckt. Um besser sehen zu können, kniff sie die Augen zu Schlitzen zusammen. Löb nahm ihr die Helligkeit. Selbst wenn sich jemand vor der Toilette in der Zwischenetage versteckt hätte, wäre er wie unsichtbar gewesen. Hörbar schluckte Löb. „Heinrich?“, fragte er gedämpft. Seine Stimme bebte. Er, der Soldat, fürchtete sich, erkannte Anni. Aus seinen Zügen sprach Angst: nicht um sie, um seinen Freund.

Vorsichtig schob Anni sich an ihm vorbei und Fuß um Fuß auf den Podest, näher an den Lichtschalter. Ihr Atem bildete kleine Dampfwölkchen. Sie streckte den Arm aus und tastete über die lackierten Holzbohlen und den kleinen Sims bis zu dem schwarzen Drehschalter. Plötzlich begann ihr ganzer Körper zu kribbeln. Jemand starrte sie von der Zwischenetage aus an, sah auf sie herab. Eine Berührung, sanft wie ein Streicheln und kalt wie totes Fleisch, streifte sie an der Hand, die nach dem Licht tastete. Sie zuckte zurück. Dicht an ihrer Seite fühlte sie einen warmen, menschlichen Körper. Aus der Dunkelheit hauchte ihr jemand feuchtwarmen, fauligen Atem ins Gesicht.

Es passierte wieder! Der Unsichtbare war da!

Dicht vor ihr beschrieb Löbs Stock einen Bogen. Er schubste sie gegen die Wand und stellte sich vor sie. Anni roch seinen sauren Angstschweiß. Er holte erneut aus. Obwohl er mit der Kraft eines Boxers zuhieb, schlug nicht einmal der Stock auf dem Boden auf. Instinktiv machte sie sich klein und tauchte unter Löbs Ellbogen hinweg, als er ausholte. Sie hörte sein angestrengtes Keuchen und Stöhnen.

Was attackierte ihn? Konnte er seinen Gegner sehen? Wusste er, mit was er es zu tun hatte?

Seine Furcht war real gewesen! Allein diese Sicherheit drückte auf ihr klares Denken. Die Welt verengte sich auf seine Verteidigung … Anni umklammerte das Messer, mit dem sie nichts anfangen konnte. Vor ihr rang Löb mit dem unsichtbaren Mann. Wenn sie die Panik zuließ, würden sie hier sterben und der Mörder entginge ungesehen seinen Häschern. Anni wandte sich auf dem engen Raum um, immer gewahr einen Schlag einzustecken. Sicher konnte sie Löb nicht helfen, wenn sie den Lichtschalter erreichte, aber Helligkeit vermittelte Sicherheit. Sie streckte sich. Mit ihren Fingerspitzen erreichte sie die schwarze, gewölbte Dose und versuchte den Widerstand in Bewegung zu setzen. Ein Stoß traf sie zwischen die Schultern. Der Schmerz war nicht stark und drängte sie in die richtige Richtung. Erleichtert drehte sie den Hebel um seine Achse. Dünnes Licht tauchte den Treppenabsatz in blasse Helligkeit. Sie tauchte unter Löbs Armen hinweg und wich zurück. Wieder lag der Hauch von Blut in der Luft. Anni kniff die Augen zusammen. Er fuchtelte nicht mit dem Stock, sondern stemmte sich mit aller Kraft gegen seinen Widersacher.

Plötzlich gab es für ihn keinen Widerstand mehr. Wuchtig traf er das Geländer. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen setzte sich in Vibrationen fort, sodass Anni es bis in die Knochen wahrnahm. Sie hörte das Echo schnell flüchtender Schritte in den unteren Etagen.

Die Hoftür wurde aufgestoßen. Stimmen hallten hinauf.

Aus dem Erdgeschoss brüllte Tranitz: „Was soll das?! Das ist Ruhestörung!“

„Bei Gott, was ist hier los?“, rief eine helle Frauenstimme. Anni sank gegen die Wand und blendete die Menschen um sich aus. Ihr Herz pochte schmerzhaft hart und schwer. Keuchend wischte sie mit dem Handrücken über die Stirn. Ihre Knie zitterten. Sie spürte die Übermüdung und Erschöpfung als schwaches, beständiges Zu-Boden-Ziehen. Aber war es vorüber? Sie wollte es nicht beschwören. Löb wandte sich zu ihr um. Schweiß tropfte aus seinem Haar. Er atmete schwer und zitterte. An seinen Schläfen pochten Adern. Das Flackern seines Blickes verdeutlichte seine Angst. Schwer stützte er sich auf seinen Stock und drehte sich noch einmal im Kreis.

„Gehen Sie nach drinnen, Anni, verschließen Sie die Tür und bleiben Sie bei Ihrer Mutter“, flüsterte er.

Tiefe Schatten unter den Augen und seine eingefallenen Wangen unterstrichen den Ernst ihrer Lage. Anni schluckte trocken.

„Was haben Sie vor?“

„Heinrich …“, begann er, brach aber ab. Er presste die Lippen aufeinander und senkte den Kopf.

War er tot und der Unsichtbare eben zurückgekehrt?

Annis Brust verkrampfte sich. Wolff war doch selbst ein Raubtier, wie konnte ihn also in solches Geschöpf umbringen? „Sie denken, dass er …“

Entsetzt schüttelte Löb den Kopf. „Davor möge Gott sein! Nein, Anni, Heinrich lebt, sicher.“

Lügner, dachte sie. Seine Stimme klang viel zu aufgeregt, viel zu ängstlich. Er versuchte sich einfach nur selbst zu überzeugen. Trotzdem verstand sie ihn.

Über ihnen knarrten Stufen, seidiger Stoff raschelte und Lotte pfiff schief durch die Zähne. Zugleich schwang die Tür der Nachbarwohnung auf.

„Ach, die Dirne“, schnappte Frau Ullmann.

Anni, spürte ihre Blicke. Sprach sie von Lotti oder … Fassungslos wandte sie sich zu der alten Frau um. Was dachte sie nur?!

Bevor Anni etwas sagen konnte, warf die Alte ihre Tür ins Schloss.

„Mach dir nix draus, Kindchen. Det is nur de Neid.“

Anni spähte an Löb vorbei. Auf der Treppe stand Lotti im kunstseidenen Morgenrock, von dessen Kragen roséfarbene Federn aufwehten. Ihr helles, aufgelocktes Haar bildete eine zerzauste Korona um ihren Kopf. Auf ihren geröteten Wangen klebten Reste ihres Puders. Das Lippenrot hatte sie weitestgehend abgeküsst. Trotzdem stand sie da wie die Heldin eines Filmstreifens. Anni kannte reichlich Plakate von Fern Andra oder Henny Porten , in denen sie aus den Glaskästen der Lichtspielhäuser auf die graue Masse herablächelten. Genauso wirkte Lieselotte Runge auf sie: wunderschön, aber auf bizarre Weise unecht.

Als habe Lotti den Gedanken mitbekommen, löste sie sich aus ihrer Pose und kam die Treppen herab. Ihre Mimik veränderte sich. Anni glaubte etwas Warnendes aus ihrem Blick zu lesen. Tatsächlich kamen einige der Mitbewohner langsam die Treppen hoch.

„Wollen wer de Wölfe unterhalten? Nee, nich, oder?“

Sie schob Löb an der Schulter in die Wohnung. Anni spürte ihren Griff am Handgelenk. Lottis lange Nägel schnitten in ihre Haut. Der Schmerz drang heiß in ihr Bewusstsein. Noch bevor Anni sich widersetzen konnte, warf Lotti die Tür hinter sich ins Schloss.

„Was soll das?“, fragte Löb scharf. Er fasste in Worte, was Anni dachte. Vollkommen unbeeindruckt stemmte Lotti beide Hände in die Hüften und hielt seinen Blick fest. Mit dieser Haltung drückte sie herausfordernde Entschlossenheit aus. Ihr Morgenrock klaffte auf, sodass Anni ihre wohlgenährten Rundungen unter dem dünnen Nachthemd sah. Von ihr stieg ein eigenartiger Geruch auf, etwas das … sie erinnerte … Der Gedanke verflog. Fest stand nur, dass sie Männerbesuch hatte. Sie war ein sehr leichtlebiger Mensch.

Löb trat an Lotti heran und wollte sie zur Seite schieben. Annis Freundin wich vor ihm zurück und schüttelte den Kopf. „Ihr bleibt ma besser hier.“

Mit einer Kopfbewegung wies sie auf Anni.

„Wegen mir?“, fragte sie und folgte dem Blick ihrer Freundin. Erst jetzt fiel ihr das Messer auf.

„Wenn de anderen de Kriminalen holen, sollte keiner det Ausbeinmesser gesehen haben“, erklärte Lotti. Ihre Stimme klang schrill und zugleich lag in der Aussage so viel Weitsicht, dass Anni beinah ihre improvisierte Waffe fallen gelassen hätte. Das Messer hatte sie vollkommen vergessen – und nein, damit half sie ihrem Vater sicher nicht.

„Gut so.“ Zufrieden nickte Lotti, bevor sie Löb betrachtete. „Se sehn jarnich jut aus.“ Mitleidig schüttelte sie den Kopf. „Denn kommen Se ma mit, junger Mann.“

Ohne zu zögern, schob sie sich an Löb vorbei und ging mit schwingenden Hüften vor ihm her zur Küche.



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