Warte, warte nur ein Weilchen von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 3: Angriff / 09.11.1918 ------------------------------- Im geringen Restlicht der Gaslaterne zeichneten sich die Schatten der dünnen Gardine und des Fensterkreuzes auf den Dielen ab. Der beständig kühle Luftzug bewegte den leichten Stoff. Während des strengen Winters vor zwei Jahren hatte sich das Holz verzogen. Anni zog die Decke höher und schmiegte sich enger an ihre Mutter. Die Körperwärme tat gut. Unruhiger, schwerer Atem verriet ihr, dass Mutter eingeschlafen war, aber schlecht träumte. Durch die Wand hörte Anni, wie der Regulator zur vollen Stunde schlug. Sie zählte mit. Beim fünften Schlag hatte sie das Gefühl zu verzagen. Der Morgen kam, unbarmherzig und damit die Arbeit in der Waggonfabrik. Alles in ihr wehrte sich dagegen. Wenigstens heute Früh wollte sie bei Mutter bleiben. Gaben ihr die äußeren Umstände nicht das Recht dazu? Klug war es nicht, mit der Verhaftung hausieren zu gehen. Es konnte Anni die Stelle kosten. Sie schloss die Augen und lehnte sich an. Mit sanften, kleinen Bewegungen streichelte sie die Schulter ihrer Mutter. Wie lang ließ sich verheimlichen, dass Vater festgenommen worden war? Nicht lang, schließlich redeten die Leute. Aber vielleicht reichte die Zeit, um Vaters Unschuld zu beweisen … Aber wie? Innerhalb einer Stunde hatte sich ihr gesamtes Leben verändert. Die Uhr in der Stube tickte lauter, wenigstens kam es Anni so vor. Sie schluckte verkrampft. Anni stemmte sich ein Stück weit hoch und betrachtete die zusammengekauerte Silhouette ihre Mutter. Zärtlich streichelte sie ihr über das Haar. Erschöpft wie Mutter gewesen war, hatte sie sich nicht von Rock und Bluse befreit, sondern angekleidet zu Anni gelegt. Bis vor einer Weile hatte sie geweint; selbst bei der stupiden Arbeit des Aufräumens, nachdem die Soldaten von Stürickow gefolgt waren. Jetzt hatte sie keine Tränen mehr. Dennoch waren ihr Gesicht gerötet und die Augen verquollen gewesen. Was ging in ihr vor sich, abgesehen von der Scham, die sie empfand? Sie sprach nie viel, behielt ihre Gedanken immer für sich. Hatte sie Angst, dass Vater nicht mehr nach Hause kam? Fürchtete sie sich vor der Einsamkeit? War sie schwach oder stark? Anni wurde schmerzhaft bewusst, dass sie den Menschen, der sie geboren hatte, nicht einmal einzuschätzen vermochte, obwohl sie die vier Kriegsjahre alle Facetten von Angst, Erniedrigung und Entbehrung gemeinsam durchgestanden hatten. Warum gewann ihre Mutter erst jetzt einen greifbaren, realen Stellenwert? Anni schluckte trocken und streichelte ihr über die Wange. Wie hatte sie diese Frau all die Jahre nur unterschwellig wahrnehmen können? Sie war kein prägender, starker Mensch wie Vater, aber sie war da, lebte, liebte und litt. Anni sah plötzlich wieder ihre Mutter vor sich, die Wolffs Hand umklammerte, sich an ihn lehnte … ihre Freude über seine Heimkehr … Liebte sie ihn? Um Annis Herz schloss sich eine Stahlklammer. Aber warum beweinte sie Vaters Festnahme? Welche Art von Hilfe und Nähe erhoffte sie sich von Wolff? Und warum hatte er gesagt, dass alles gut werden würde? Anni verstand das Bündnis zwischen ihren Eltern und Wolff nicht. Welches Geheimnis hüteten sie? Anni schüttelte den Gedanken ab. Mutter fest in die Arme zu schließen, schien ihr in dem Moment das einzig Richtige. Sie musste ihr zeigen, dass sie auch in der Familie nicht allein war. Gemeinsam fanden sie sicher einen Weg Vater nach Hause zu holen. Trotzdem würde sich vieles ändern. Dafür musste Anni kaum Fantasie aufbringen. Die meisten Untermieterinnen sahen sie seit dem Abend mit anderen Augen, das stand außer Frage. Nachdem Frau Gabriel angekündigt hatte mit Marie bei einer Bekannten zu nächtigen und unter den gegebenen Umständen auszuziehen, folgten die beiden anderen Damen ihrem Beispiel. Allein bei dem Gedanken regte sich das innere Beben in Anni. Heiße Wut flammte in ihr. Diese Frauen waren sich sicher mit einem Mörder unter einem Dach gelebt zu haben. Wahrscheinlich waren sie froh, nicht auch umgebracht worden zu sein. Innerlich sträubte Anni sich gegen die Verlogenheit und Angst der vier Frauen. Bislang hatte sie den Eindruck gehabt mit wunderbaren Menschen zusammengelebt zu haben. Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit gaben zumeist den Ton an. Die Frauen waren glücklich gewesen ein Zimmer in einem Lehrerhaushalt zu bekommen, in dem ein Mann auf sie aufpasste. Sie hatten vier Kriegsjahre gemeinsam durchlebt und waren ein fester Bestandteil von Annis Alltag geworden, und nun das? Es kam ihr wie Verrat vor, Feigheit und … Wuttränen schossen Anni in die Augen. Marie hatte die Möglichkeit erhalten, unter Vaters Aufsicht zu lernen, und durfte Klavierstunden nehmen, die ihr nie in Rechnung gestellt worden waren. Ebenso genoss die alte Frau Janzig Vorteile, denn sie konnte zusammen mit Anni und Marie Hausmusik machen und dazu singen. Mutter teilte mit Frau Engel die Arbeit und ihr Entgelt. Warum wandten sich diese Menschen jetzt ab? Zogen sie denn nicht einmal in Erwägung, dass sich die Polizei irrte? Zornig wischte Anni sich über das Gesicht und schloss die Augen. Für einen Moment tat es gut, nur auf die Stille zu lauschen. Eine Tür knarrte im Hof. Anni schlug die Lider auf. Schwach drang Licht zu ihr hinauf. Neben der Fleischerei wurde der Verschlag geöffnet. Offenbar war es bereits so weit und der alte Scherenschleifer Seibert machte seinen Wagen fertig. Sie hörte die Achse knarren und das Rumpeln der Holzräder auf dem Steinpflaster, als er ihn nach draußen zog. Trockener Husten begleitete ihn bei seiner Arbeit. Einen Moment später winselte sein Hund. Schritte hallten in der Torfahrt nach und die gedämpften Stimmen der Metzgergesellen fingen sich im Hinterhof. Einer rief Seibert einen Gruß zu, während der Schlüssel im Schloss mehrfach knackte. Langsam erwachte der Kästrich zum Leben. Anni kniff die Augen zusammen. Wie würde es ihrem Vater gehen? Von Stürickow hatte ihn in einer der Mainzer Gendarmerien in Untersuchungshaft nehmen lassen, was immer das bedeutete. Anni wusste nur, dass sie und Mutter ihn vorerst nicht besuchen durften. Allein diese Sicherheit hatte in ihr nachhaltige Nervosität ausgelöst. Allerdings fehlte ihr eine klare Vorstellung von dem Unterschied zwischen Haft und Untersuchungshaft. Und wenn kein Wunder geschah und er entlastet wurde, stand ihm unweigerlich die Todesstrafe bevor. Der Gedanke erschütterte sie. Bis zu einem gewissen Grad wusste sie um diese Konsequenz, aber bislang hatte sie vermieden, so weit zu denken. Vater konnte nicht töten. Das wussten sie alle, aber wahrscheinlich besaß nicht einmal die Zusicherung von Stürickows ausreichendes Gewicht. Ihr Herz wurde schwer. Sie spürte, wie ihr jeder Atemzug schwerfiel. Erneut sammelten sich Tränen in ihren Augen. War es das, was Mutter befürchtet hatte? Sicher half sie keinem, wenn sie weinte. Mühsam würgte Anni den Schmerz hinunter. Leider hörte ihr Körper in keiner Weise auf Vernunft. Ihre Fantasie formte Bilder von engen Kadern, harten Bänken und Pritschen, von Ketten und bewaffneten Soldaten. Alle Farbe wich aus ihrer erdachten Szene und hinterließ triste, graue Mauern, einen Richtblock und tauenden, schmutzigen Schnee, der sich … rot verfärbte! Anni fuhr keuchend hoch. Wie hoch war die Gewissheit, dass dieses Szenario eintrat? Was taten die Soldaten und der Hilfskommissar mit Vater? Würde von Stürickow seine eigene Meinung ignorieren? Was geschah, wenn er Vater zu einem Geständnis zwang? Wahrscheinlich übernahm von Stürickow die schmutzige Arbeit nicht selbst, sondern überließ es den Soldaten des Hilfskorps, solchen wie Goemann. Sie hatte nicht vergessen, wie dieser Kerl mit seinem Kameraden Lohmann umgegangen war. Das Bild des vollkommen durcheinandergebrachten Schlafzimmers schob sich in ihre Vorstellung. Die aus den Schränken gezogenen Laden und die zerwühlte, zertrampelte Wäsche. Selbst die Unterkleidung ihrer Mutter war vor diesen Männern nicht sicher gewesen. Ihr widerstrebte der Gedanke. Ekel zog ihr den Magen zusammen. Das widersprach allem, was gut und richtig war. Wenn man mit einem Mörder so verfuhr, mochten solche Methoden recht und billig sein, aber ihr Vater konnte bestenfalls den Rohrstock schwingen. In Annis Glieder kribbelte es. Sie konnte nicht abwarten und auf Besserung seines Schicksals hoffen, sondern musste handeln. Aber was konnte sie tun? Sie war vielleicht mit fünfzehn Jahren eine junge Frau, aber niemand nahm sie ernst. Die Vorstellung raubte ihr alle Kraft. Warum konnte sie nicht so stark und frech sein wie Lotti? Ihr hörten die Männer zu. Niemand ging an ihr vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Sie verschaffte sich mit ihrem schnoddrigen Berliner Dialekt Gehör. Anni straffte sich. Vielleicht half Lotti ihr. Ganz sicher würde sie sich gegen diese Ungerechtigkeit einsetzen wollen. Die Idee begann Anni zu gefallen. Vor allem würde Lotti ihre Sorgen verstehen. Sie kannte und mochte Vater schließlich auch sehr. Wenn sie sich für ihn aussprach … Annis Tränen versiegten. Sie schmiegte ihre Wange in das Haar ihrer Mutter. Behutsam glitt Anni vom Bett. So leise wie möglich schlüpfte sie in ihre Stiefel und zog sich den Mantel über. Als sie das Zimmer verließ und auf den Flur hinaustrat, hörte sie Stimmen. Löb und Wolff waren wach. Wahrscheinlich diskutierten sie die Situation oder überlegten, ob sie sich nicht auch ein neues Zimmer suchten. Allein durch die Vorstellung breitete sich Enttäuschung in ihr aus. Sollte sie vorsichtig lauschen? Nein, sie wollte nichts von dem hören, was sie sich vorstellte. Mutter vertraute blind auf Wolff und ein Leben ohne Konrad Löb war eigentlich nicht mehr denkbar. Seine Gegenwart machte Anni glücklich. Doch das war nicht der passende Moment für ihre heimlichen Gefühle zu Löb. Anni schenkte der Stubentür einen letzten Blick, betrat den Hauptflur und wandte sich zum Eingang. Mit einem Knacken des Bakelit-Schalters ging das Treppenhaus-Licht an. Erschrocken fuhr Anni zusammen. Nirgends hatte sie eine Tür schlagen hören. Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Schritte blieben aus. Wer war das? Draußen begann die Glühbirne zu flackern, sodass das unruhige Muster der Glasfacetten über die ausgetretenen Dielen huschte. Anni kniff die Augen zusammen. Als sie die Lider hob, schien die fahle Helligkeit konstant durch die Scheiben. Und es war unnatürlich still, als wäre die Zeit zwischen dem Ticken des Regulators stehen geblieben. Niemand ging oder kam … Auch in der Wohnung regte sich nichts. Die Stille besaß etwas Erstickendes. Trocken schluckte sie und legte die Stirn in Falten. Außer Seibert hatte noch kein anderer sich auf den Weg zur Arbeit gemacht. Ihr rann ein Schauder über den Rücken. Vor der Tür huschte etwas durch das Licht. Erschrocken blinzelte sie. Auf ihren Unterarmen richteten sich die Härchen auf. Hatte sie sich das eingebildet? Ein Schatten legte sich über die Bleinähte des Rautenmusters. Sie glaubte, einen Mann zu sehen. Anni fuhr zusammen. Wer war das?! In der Luft lag ein Gemisch aus kaltem Rauch, Schweiß, schal-süßem Parfum und etwas Fremdem, Metallenem, das in einen dumpfen, zugleich abstoßenden Geruch überging. Die Präsenz schien Holz und Wand zu durchdringen und sich hier zu manifestieren. Immer dichter zog sich der Gestank zusammen, bis sie nur noch die Luft anhalten konnte. Langsam machte sie einen Schritt zurück. Etwas strich mit rauen Fingern an ihrer Wange entlang … Anni fuhr keuchend zurück. Sie wollte schreien, konnte es aber nicht. Ihre Stimme versagte. Heiser keuchte sie. Erneut berührte sie die Hand. Instinktiv schlug sie zu, ohne Widerstand zu spüren. Die Berührung war kalt gewesen und hatte eine feuchte Spur auf ihrer Haut hinterlassen. Heißer, fauliger Atem streifte sie. Ekel kroch ihre Kehle hinauf und ihr Magen hob sich. Sie wischte mit dem Ärmel über ihr Gesicht. Zähe Flüssigkeit hatte eine blasse Spur auf der dunklen Wolle zurückgelassen. Die Konsistenz war klebrig. Wieder hatte sie den schalen Geruch in der Nase. Zittrig sah sie sich um. Das alles war unmöglich! Warum bekam ausgerechnet Wolff die Gefahr nicht mit? Warum?! Etwas sog ihren Geruch ein, schnüffelte … Sie stieß die Arme vor, nur um noch einmal den Versuch zu machen zu schreien. In der Stube hörte sie, wie jemand aufsprang. Anni sah sich panisch um. Kam Hilfe? Aus dem Raum drang ein tiefes, kehliges Knurren. Kleidung raschelte. Wo blieb Wolff? Erneut tasteten Hände über ihr Gesicht und krallten sich in ihren Kragen. Sie schlug um sich und wirbelte herum. Alles in ihr schrie, ohne dass ein Laut über ihre Lippen kam. Zum ersten Mal bemerkte sie Widerstand. Sie fühlte rauen Stoff, Wolle und nasses Leder. Dann, von einem Moment zum anderen, gingen ihre Schläge ins Leere. Wieder flackerte das Treppenhauslicht. Gleich würde es verlöschen und dann – was dann? War sie sein Opfer? Nein! Sie spannte sich, bis jeder Muskel brannte, und neigte den Kopf. Die Luft roch nicht mehr nach diesem Mann. War er fort? Nervös befeuchtete Anni die Lippen. Sie tastete um sich, ohne ihren unsichtbaren Angreifer zu spüren. Sichernd sah sie zur Stubentür … Hatte Wolffs schiere Präsenz ihren Gegner vertrieben? Annis Herz schlug hart. Ihr wurde schwindelig. Mühsam rang sie nach Atem. Langsam drehte sie sich im Kreis. Nichts. Sie wandte sich zur Eingangstür um und trat näher. Unter ihr knarrte das alte Holz. Anni hielt die Luft an und blieb stehen. Ihre Haut begann zu kribbeln. Überall dort, wo er sie berührt hatte, spürte sie nur noch betäubende Kälte. Starker Schwindel erfasste sie. Annis Knie wurden weich. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Mantelkragen und zog ihn über dem Hals zusammen und ließ sofort wieder los. Durch die Enge fiel ihr das Luftholen zu schwer. Anni lehnte sich gegen die Wand und atmete mehrfach gezwungen ruhig durch. Erneut fragte sie sich, ob es vorbei war. Sie streckte die Hand aus und fuhr durch die Luft. Nirgends stieß sie auf Widerstand. Erleichtert sank sie in sich zusammen. Sie musste mit jemandem darüber reden, aber wer glaubte ihr? Wolff, aber er würde kaum mit ihr darüber sprechen wollen. Dazu war er zu verschlossen und machte um sich und seine Natur ein zu großes Geheimnis. Anni stöhnte auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Lotti fiel ihr wieder ein. Aber so bodenständig wie sie war, würde sie vermutlich nur lachen. In ihrer Welt gab keine unsichtbaren Männer – oder doch? Anni wollte den Gedanken von sich schieben, aber etwas daran war zu sperrig, um sich davon zu lösen. Welche Möglichkeit hatte jemand, den man nicht sah? Sie fuhr zusammen. Was, wenn auf dem Weg die blutige Kinderschürze ins Schlafzimmer gekommen war? Nein, das war Unsinn – oder? Sie biss sich auf die Unterlippe. Plötzlich zeichnete sich ein Schatten jenseits der Tür ab und kam rasend schnell auf das Glas zu, nur um mit der flachen Hand gegen den Holm zu donnern. Alle Scheiben klirrten in der Bleifassung. Holz und Schloss gaben ein lautes Knacken von sich. Entsetzt schrie Anni auf und duckte sich in Erwartung eines weiteren Angriffs. Ihr Atem stockte. Der Geruch nach frischem Blut lag in der Luft, sodass sich ihr Magen hob. Draußen polterte etwas Schweres die Treppen hinab. Im gleichen Moment verlosch das Licht. Hilflos würgte Anni. In ihrer Brust verkrampfte sich etwas, lähmte sie, zugleich nahm das Kribbeln zu. Die Stubentür wurde aufgerissen. Anni hob den Kopf. Wolff eilte zu ihr und zog sie auf die Füße. Beschützend schloss er sie in die Arme. Endlich war er da. Erleichtert schmiegte sie sich an ihn. Unter seinem Schutz wich die Angst. Anni rieb ihre Wange an seiner Brust und er ließ es geschehen. Zum ersten Mal empfand sie Vertrauen. Wahrscheinlich war es dasselbe Gefühl, was ihre Mutter veranlasst hatte, seine Hand zu ergreifen und sich anzulehnen. Mit halb geschlossenen Augen sog sie seinen Duft ein. An ihm haftete der Geruch von Seife, Löbs Aroma, aber auch etwas Schalem. Es erinnerte sie schwach an das, was sie bei dem Unsichtbaren wahrgenommen hatte. Ähnlich, aber trotzdem anders. Wolffs Körper verströmte überraschende Wärme. Unsicher, zögernd, strich er über ihr Haar. Die Berührung tat gut. Anni entspannte sich. Aus seiner Brust kam ein kaum wahrnehmbares Grollen. Es klang beinah wie das Knurren eines großen Hundes. Irritiert hob sie den Blick. Spürte er noch immer Gefahr? Seine Züge waren ein Kraterfeld aus Licht und Schatten, sodass sie nicht einschätzen konnte, was sie ausdrückten. Er starrte zur Tür. Wieder phosphoreszierten seine Augen. Er fletschte die Zähne. Er hatte verlängerte, spitze Fänge – ein richtiges Wolfsgebiss! All die schrecklichen Narben und sein unheimlicher Blick verblassten angesichts dessen. War das etwa der wirkliche Heinrich Wolff? Ein hoher, hysterischer Schrei klang in ihren Ohren nach. Hatte sie ihn ausgestoßen? Anni stieß die Hände vor und brachte einen Schritt zwischen sich und das Geschöpf. Wolff wich zurück und drehte den Lichtschalter an. Der böse Spuk endete. Vor ihr stand nur Heinrich Wolff, der Mensch. Seine Brust hob und senkte sich hektisch. Die Helligkeit enthüllte sein ernstes, entstelltes Gesicht und in seinem halboffenen Mund erkannte sie helle, gesunde Zähne, nichts, was ihr Angst machte. Ihm fielen zerzauste Locken in die Augen. Nachlässig strich er sie sich zurück. Seine Lippen zuckten. Er wollte etwas sagen, schwieg aber. Mit einer Hand machte er eine besänftigende Geste. Anni kniff die Augen zusammen. Sie hatte das Gefühl, dass er genau wusste, was sie gesehen hatte. Er wollte es nicht so weit kommen lassen. Aber nun hatte sich der Schleier ein weiteres Stück gehoben. Irgendwann würde er ganz zerreißen und sie wissen, was Wolff war. In seinem Blick lag ein stummes Flehen. Fürchtete er von ihr verraten zu werden? Anni warf einen Blick zu ihrem Zimmer. Es war ein Wunder, dass Mutter nach dem Schrei weiterhin schlief. Ein schwaches Huschen unter dem Türspalt verriet Bewegung. Leise knarrten Dielen. Mutter war wach, lauschte, wagte aber nicht sich zu zeigen. Verwirrt schüttelte Anni den Kopf. Geriet ihre Welt jetzt endgültig aus den Fugen? Fürchtete Mutter das Monster in Heinrich Wolff? Unsicher betrachtete Anni ihn. Obwohl er noch immer an der gleichen Stelle stand, wirkte er zutiefst besorgt. Langsam schloss er die letzten Hemdknöpfe und zog seine Hosenträger über die Schultern. Hatte er deshalb so lange gebraucht? Immerhin trug er keine Nachtkleidung mehr. Behutsam wagte Wolff einen Schritt auf sie zu. Unwillkürlich sog Anni die Luft ein. Das zischende Geräusch klang ungewöhnlich laut, genau wie in dem Moment, als die Uhr aufgehört hatte zu ticken. Aber der Eindruck drohender Gefahr fehlte. Wahrscheinlich – nein, ganz sicher - war Wolff ihr Freund, ein Beschützer. Trotz allem wollte sie nicht, dass er näherkam. Wolff hielt inne und senkte den Kopf. Helle Locken fielen ihm in die Stirn. Als er den Blick hob, sah er aus wie ein geprügelter Hund. „Etwas hat mich berührt …“, hörte sie sich selbst sagen. Ihre Stimme klang ungewöhnlich hoch und kraftlos. Sie räusperte sich und zwang sich zur Ruhe: „Draußen stand jemand.“ „Ich weiß“, entgegnete er schlicht und sah an ihr vorbei zur Wohnungstür. Wolff löste sich. Lautlos huschte er über die Dielen, dicht an ihr vorbei, sodass er Anni streifte. Erneut nahm sie wieder den eigentümlichen Geruch von ihm und Löb wahr. Fast, als wären sie ein Mensch, schoss es ihr durch den Kopf. Wie nah mussten sie sich kurz zuvor gekommen sein? Ihr rann ein Schauder über den Rücken. Allerding beachtete er sie nicht, sondern blieb an der Tür stehen. Kurz hielt er inne, sog die Luft ein und schloss die Lider. Was nahm er wahr, das ihr entging? Sie legte die Stirn in Falten. Plötzlich presste Wolff die Lippen aufeinander und löste sich. Er hob die Lider. Wieder phosphoreszierten seine Augen. Langsam gewöhnte sie sich an diesen Anblick. Er würde sie beschützen. Anni fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und lächelte zuversichtlich. Wolff kniete nieder und zog seine Stiefel an. „Was haben Sie … wahrgen… gerochen?“, korrigierte sie sich. Wolff schwieg. Als er sich erhob, schenkte er ihr einen offenen, freundlichen Blick. Zwischen ihnen gab es immer weniger Geheimnisse. Er legte ihr seine Natur in die Hände, begann zu vertrauen. Die aufkeimende Gewissheit verlieh ihr Mut. Sie straffte sich und sah ihm in die Augen. „Sie haben seine Witterung aufgenommen?“ Er öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Anni sah ihm an, dass er nachdachte. Langsam nickte er. Trotzdem blieb er ihr die Antwort schuldig. Rechnete er damit, dass sie die Wahrheit nicht verkraftete? Anni streckte die Hand aus, um ihn festzuhalten, bevor er sich wieder abwandte. Geschmeidig wich er ihr aus. „Sie sind kein einfacher Mensch mehr“, sagte sie leise, aber scharf. Sie wollte, dass er ihren Ärger wahrnahm. Ihre Worte prallten an ihm ab. Aus dem Flurschrank zog er Jacke und Mütze. Ärgerlich ballte sie die Fäuste. „Ich weiß, dass Sie seit dem Winter 1916 anders sind. Der Angriff hat Sie nicht nur entstellt, sondern zu etwas Unmenschlichem gemacht.“ Noch immer schwieg er, beobachtete sie aber. Anni hätte damit gerechnet, dass sie durch ihre klaren Worte die Kluft zwischen ihnen verstärkte, aber er lächelte beinah erleichtert. „Wenn Sie den letzten Rest Angst vor mir verlieren und Äußerlichkeiten ignorieren lernen, Anni, werde ich Ihnen alles erzählen, mein Ehrenwort darauf.“ In Annis Gliedern begann es zu kribbeln. Alles in ihr schrie nach der Wahrheit. Sie wollte beteuern, dass sie ihm vertraute, aber ein kleiner Rest Furcht stach immer noch in ihr. Hilflos hob sie die Schultern und ließ schließlich den Kopf hängen. Dabei war sie sicher, dass Wolff nur die besten Absichten hegte. Dicht vor ihr blieb er stehen und strich ihr über den Arm. Gequält lächelte sie. „Ich vertraue Ihnen.“ „Sie verlieren Ihre Scheu und den Ekel. Und den Rest des Weges zu wirklichem Vertrauen schaffen wir beide auch noch.“ Was er sagte, nein vielmehr der Ernst in seiner Stimme verlieh den Worten Gewicht. Anni versuchte den harten Kloß im Hals zu schlucken. Als er sich erneut spannte und an ihr vorbeisah, kehrte die Nervosität zurück. Hinter sich hörte Anni den unregelmäßigen Schritt nackter Füße, der von Löbs Hinken stammte. „Konrad, kümmerst du dich bitte um Fräulein Anni?“ In Wolffs Stimme lag neue Anspannung. Ein scharfer Stich durchdrang ihre Brust. Auf ihren Unterarmen bildete sich Gänsehaut, die sich rasend schnell ausbreitete. „Sicher.“ Er klang gefasst, verantwortungsvoll … Anni zweifelte daran, dass er selbst bewaffnet ein ausreichender Schutz für Mutter und sie war. Wer immer sie angegriffen und diese Wohnung markiert hatte, würde sich weder von Türen noch Waffen aufhalten lassen. Unruhig trat sie vor und griff nach Wolffs Hand. „Das eben war vielleicht der Kindermörder!“ Warum fasste sie ihre diffuse Angst in solche Worte? Anni suchte nach seinem Blick. Still musterte er sie. Wolff schien über ihre Worte nachzudenken. Nach einem Moment nickte er. Die Sicherheit der Reaktion erschreckte Anni. „Darauf gibt es keinen Hinweis“, warnte Löb. „Seid bitte vorsichtig mit solchen Hypothesen.“ Um Wolffs Mundwinkel zuckte ein Muskel. „Ich muss die Spur aufnehmen, solange er sie nicht verwischt hat, Konrad. Danach habe ich hoffentlich ausreichend Sicherheit.“ Wolff lächelte herzlich und warm. Anni spürte, dass es nicht ihr galt. So vertrauensvoll und liebevoll verhielt er sich ausschließlich Löb gegenüber. Wolff wurde wieder ernst. Er ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. Sacht strich er mit dem Daumen über Annis Haut. Die Berührung brachte den Boden unter ihr zum Wanken und ließ ihre Haut kribbeln. Dieser Mann war eine einzige Kontroverse. Erst jetzt bemerkte sie ihre hektische Atmung. Hatte der unheimliche und trotzdem so nette Wolff sie in diesen Zustand versetzt? Sie kniff die Augen zu Schlitzen, um dem Druck hinter ihren Schläfen standzuhalten. Trocken schluckte sie. „Fräulein Anni“, sagte Löb hinter ihr. Schärfe lag in seiner Stimme, die sie nicht bei ihm kannte. Für eine Weile hatte sie ihn vollkommen vergessen. Langsam drehte sie sich um. Er stand im Hausmantel hinter ihr. Soweit sie es beurteilen konnte, trug er keine Schlafanzughosen. Als der Stoff auseinanderklaffte, fiel ihr die lange, blasse und hässliche Narbe an seinem Schienbein auf. Der Knochen sah seltsam deformiert aus, als wäre er vielfach gebrochen und falsch zusammengewachsen. Ihre Wangen wurden heiß und die Hände feucht. Nervös sah sie zur Seite. Löb legte ihr eine Hand unter das Kinn und drückte sacht ihr Gesicht hoch, sodass sie ihm in die Augen schauen musste. Weshalb brachte er sie in solch eine peinliche Situation? „Was treiben Sie in Nachthemd, Mantel und Schuhen auf dem Flur?“, fragte er streng. „Das kann nicht im Sinne Ihrer Mutter sein.“ „Ich …“, begann sie, verstummte aber. Was sollte sie sagen? Das Wissen, das sie mit Wolff teilte, wollte sie nicht an Löb weitertragen. Er brachte vielleicht kein Verständnis auf oder wusste nicht mit der Situation umzugehen. Was, wenn er nichts von Wolffs Natur ahnte … Das milde Lächeln auf seinen Lippen erschreckte Anni. Offenbar hatte sie ihren Gedanken laut ausgesprochen. Sie fuhr sich mit den Fingern über den Mund. „Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Was Heinrich weiß, ist auch mir bekannt.“ Seine Betonung lag definitiv auf keine Geheimnisse. „Es …“ Sie leckte sich über die Lippen und verfluchte sich zugleich. Wieder wusste sie nichts Kluges zu sagen. Gegenüber den beiden Männern fühlte sie sich so hilflos wie ein Kind. Wolff regte sich hinter ihr. Anni spürte ihn nah an ihrer Seite. Ein seltsames Ziehen und Kitzeln durchzog ihren Körper. Das Gefühl machte sie nervös. Sie versteifte sich. Als er die Tür öffnete, um in das Treppenhaus zu treten, hinterließ sein Verschwinden eine Leere, ganz ähnlich wie in dem Moment, als von Stürickow ihren Vater verhaften ließ. Im gleichen Moment durchzuckte sie reale und greifbare Angst. Hilflos begegnete sie Löbs Blick, der mit einer Kopfbewegung auf die Stube wies. „Würden Sie mich begleiten, Fräulein?“, fragte er. Anni zögerte. Sie warf einen Blick zu ihrem Zimmer am Ende des Blindflurs und lauschte, in der Hoffnung ihre Mutter zu hören. Tatsächlich vernahm sie die leisen, angestrengten Atemzüge von ihr. Sie lauschte, hielt sich aber aus allem heraus. Weshalb sie das tat, verstand Anni nicht. Es war vollkommen unlogisch und entsprach in keiner Weise dem typischen Verhalten ihrer Mutter. Aber was war noch normal? Zum Abendessen hatte sich Annis Welt verändert und ihr Zuhause würde nie wieder das werden, was es bis zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Sie straffte sich. „Es wäre ratsam, wenn Sie sich ankleiden“, sagte sie und hielt seinen Blick fest. „Ich empfinde es nicht als schicklich mit Ihnen in Ihrem Schlafzimmer die Situation zu besprechen.“ Löb nickte. In seinem Blick lag Samt. Ihre Knie wurden weich. Mit klopfendem Herzen murmelte sie: „Können wir danach in die Küche gehen - bitte?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)