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Warte, warte nur ein Weilchen

von

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Die Verhaftung / 08.11.1918

Anni wollte nicht aufschauen. Vor den Untermietern waren ihr die immer wiederkehrenden Verhaftungen Vaters wegen seiner kommunistischen Umtriebe peinlich. Die Blicke der Frauen brannten auf ihrer Haut. Innerlich stöhnte Anni und verfluchte seine mangelnde Vorsicht. Unter dem Tisch trat Marie ihr gegen das Schienbein. Der Schmerz war nicht schlimm, aber sie zwang Anni aufzusehen. Überdeutlich wies sie mit dem Kopf zu Vater, zog die Brauen zusammen und bildete stumm Worte mit den Lippen, die Anni nicht begriff. Für einen Moment hasste sie ihre Freundin. Wie konnte Marie es wagen, sie auch noch darauf hinzuweisen?

Vater lachte leise auf und tupfte sich mit der Serviette über die Oberlippe, um die letzten Tropfen Suppe aufzunehmen. Sein Stuhl kratzte über den Steinboden, als er sich zurücklehnte. Herr von Stürickow, der Hilfskommissar der Mordbereitschaft, räusperte sich, um die Aufmerksamkeit Vaters auf sich zu lenken, erreichte aber nur, dass Wolff, der sich bislang ausschließlich auf seinen Suppenteller konzentriert hatte, in seinem Stuhl aufrichtete. Er hatte den Löffel sinken lassen und sich dem Hilfskommissar zugewandt. Still beobachtete er den Beamten. Von Stürickow begegnete seinem Blick, wandte sich aber rasch ab. Auch er ertrug das entstellte Gesicht nicht lang.

„Finden Sie nicht, dass Ort und Zeitpunkt alles andere als ideal gewählt sind?“, fragte Wolff scharf. Schatten bildeten sich in den Furchen um Nase und Mund. Drohend zog er die Brauen zusammen. Sein vernarbtes Gesicht gewann etwas Dämonisches. Löb räusperte sich neben ihm. Ob es Zustimmung oder Warnung sein sollte, verstand Anni nicht, aber innerlich stimmte sie ihrem unheimlichen Mitbewohner zu.

Der alternde Beamte ignorierte beide Männer, obwohl die stille Wut und kühle Präsenz Wolffs sicher auch für ihn überdeutlich spürbar waren.

„Nehmen Sie die Verhaftung nicht zu leicht, Herr Beckmann“, sagte von Stürickow mit für Anni ungewohnter Strenge in der Stimme. Ihr Vater hob eine Braue und richtete sich am Esstisch etwas gerader auf. Langsam wandte er sich zu dem Hilfskommissar, während Mutter immer weiter in sich zusammensank. Sie fürchtete die skeptischen, lauernden Blicke der Untermieter. Konrad Löb, der Anni gegenübersaß, räusperte sich erneut. Über seine Züge huschte Sorge. Anni versuchte anhand der Mimik ihres Vaters zu erraten, was er dachte. Nahm er ernst, was von Stürickow sagte? Um seine Lippen zuckte ein Muskel. Er legte den Löffel ebenfalls zur Seite und drehte sich im Stuhl zu dem Hilfskommissar um. „Warum?“, fragte er nicht ohne Spott. „Sie sind uns ein lieber Bekannter geworden, Herr von Stürickow. Ich rechne eigentlich täglich mit Ihrem Besuch, lasse sogar meine Frau immer noch ein Tässchen Wasser mehr in die Suppe beifügen, damit das Essen auch für Sie reicht.“

Schlug er nicht etwas über die Stränge?, überlegte Anni.

Die Bekanntschaft der beiden war von politischen Diskrepanzen, aber auch einem gewissen Grad der Vertrautheit im Umgang miteinander geprägt. Irgendwann würde sich von Stürickow die kleinen Gemeinheiten verbitten.

Der Hilfskommissar ließ den Kommentar an sich abperlen. Trotz allem wirkte er angespannt. Das war nicht dieselbe Art von Besuch. Stumm nickte er zur Wohnungstür, beide Hände fest in den Manteltaschen vergraben. Anni folgte der Bewegung. Im schwachen Flurlicht bemerkte sie Bewegung im Eingang. Dielen knarrten, als zwei Soldaten des Hilfskorps eintraten. Sie bauten sich demonstrativ auf. Ihr Anblick hatte etwas Unverhältnismäßiges angesichts des Besuches von Herrn von Stürickow. Mutter schnappte hörbar nach Luft. Irritiert drehte Anni sich im Stuhl um, nur um zu sehen, wie Frau Engel Marie etwas ins Ohr flüsterte und auch Frau Gabriel sich zu ihrer Tochter neigte. Ihnen war anzusehen, was sie dachten. Blanke Missgunst sprach aus ihren Gesichtern – oder schlicht die Angst um ihren Ruf. In den letzten Jahren war von Stürickow ein häufiger Gast gewesen, was daran lag, dass Annis Vater seine politische Nähe zu den Kommunisten seit einigen Monaten vertieft hatte. Deswegen ließ ihn von Stürickow von Zeit zu Zeit abholen und auf der Gendarmerie vernehmen. Innerhalb des letzten Jahrs hatte sich daraus eine gewisse Routine entwickelt, die Anni seitdem begleitete. Von Stürickows Besuche waren nie angenehm, aber dieses Mal wirkte der Hilfskommissar verändert – und er kam mit Soldaten. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ihr lief ein Schauder über den Rücken. Von Stürickow reagierte auffallend nervös, was nur den Schluss zuließ, dass er etwas tun musste, was ihm widerstrebte. Ihm war es bereits beim Eintreten nicht möglich gewesen, Vater in die Augen zu sehen, und auch jetzt stand er mit gesenktem Blick neben dem Tisch und knetete seine Finger. Annis Vater ließ sich durch seine Gegenwart nicht beeindrucken, sondern stopfte seine Pfeife und streckte die Beine unter den Küchentisch.

„Anni, biete dem Herrn Hilfskommissar doch bitte auch eine Tasse Tee an“, Vater unterbrach sich und wies auf die unterdessen fünf Soldaten aus dem Hilfskorps. „Ich weiß nur nicht, ob die Teeblätter für Ihre Herren Kollegen ausreichen, mein Lieber.“

Von Stürickows Blick flackerte. Mit einer behandschuhten Hand strich er sich über die feuchte Stirn. Trotz der Wärme, die durch die hohe Anzahl der Personen in der Küche gesteigert wurde, war er nicht bereit, Hut und Mantel abzulegen. Seine Mundwinkel zuckten. „Lassen Sie das Beckmann!“, schnappte von Stürickow. Zum ersten Mal suchte er Vaters Blick, presste zugleich aber die Kiefer aufeinander. Er fürchtete sich vor etwas … Anni zupfte an ihren Knöpfen. Der Kragen ihrer Bluse fühlte sich zu eng an. Auch Mutter konnte den Blick nur schwer von dem Hilfskommissar nehmen. In ihren Augen standen Tränen. Sie empfand tiefe Scham und fürchtete die Meinung ihres Umfeldes. Wahrscheinlich würde sie in den kommenden Tagen nur unter Zwang die Wohnung verlassen, immer mit gesenktem Blick. Möglicherweise hatte sie recht. Auch wenn der Krieg die Leute veranlasste nach einer Republik zu verlangen, hatte sich die Situation in den letzten Jahren unmerklich, aber unaufhaltsam zugespitzt. Die Kampfhandlungen mochten auf den Feldern erlahmen, nicht aber im Land. Nationalisten und Royalisten trafen auf Kommunisten. Anni spürte ihre eigenen Gedanken wie ein bleiernes Gewicht. Vater wurde zu wagemutig, dessen war sie sicher. Trotzdem hielt sich sein positiver Ruf im Kästrich. Unter dem Tisch streckte Anni den Fuß aus, bis sie Widerstand fühlte. Mutter hob den Blick. Mit einem Lächeln und Zwinkern versuchte Anni sie aufzumuntern. Leider verlor sie rasch die Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Langsam wandte sich Anni wieder zu dem Hilfskommissar. Von Stürickow schien an etwas zu ersticken. Das Selbstbewusstsein ihres Vaters raubte ihm die Sicherheit.

„Mich hat die Mordbereitschaft beauftragt, Herr Beckmann“, sagte von Stürickow. In Annis Kehle bildete sich ein Kloß. Worauf spielte er an? Ihr Vater betrachtete den Hilfskommissar offen verwirrt. „Und was wollen Sie hier?“

„Sie sind verdächtigt, seit Juli dieses Jahres die Kinder Zelmer, Urban, Meier, Seiler und das Geschwisterpaar Jost entführt und umgebracht zu haben, Beckmann.“

Die Pfeife schlug auf der Tischplatte auf. Krümel des Tabaks verteilten sich auf dem zerkratzten Lack.

„Was?“ Alle Kraft wich aus ihrem Vater. „Das kann nicht ihr Ernst sein, Herr von Stürickow. Wer …?“

Mit einer knappen Handbewegung brachte ihn der Hilfskommissar zum Schweigen, sagte aber nichts. Sein Blick glitt zu Wolff. Nervös feuchtete er die Lippen an. Anni starrte ihren unheimlichen Untermieter an. Seine Mimik hatte sich verfinstert. Er erwiderte den Blick des Hilfskommissars. Um seinen Mund zuckte ein Muskel. Was erwartete von Stürickow von Wolff? Anni verlor den Gedanken sehr schnell wieder, als ihr Vater auflachte. Der Laut klang falsch, eindeutig nervös, fand Anni. Mutter schluchzte erstickt auf. Es waren die einzigen Geräusche in der Küche. Wütend schlug von Stürickow auf die Tischplatte. „Das ist kein Spaß, Beckmann.“

Das aufgesetzte Lachen verschwand sofort. Mutter zuckte zusammen und duckte sich instinktiv. Ihr blasses Gesicht hatte sich rot verfärbt. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor und liefen über ihre eingefallenen Wangen. Mit zitternden Lippen versuchte sie etwas zu sagen, aber ihre Stimmbänder verweigerten den Dienst. Die Hilflosigkeit, mit der sie sich umsah, traf Anni. Ängstlich griff Mutter nach Wolffs Hand, der sie unbewusst drückte, ohne sie anzusehen. „Heinrich“, wisperte sie, „wie konnte es so weit kommen?“

Frau Engel regte sich. In ihrem Blick lag Fassungslosigkeit, aber auch Unverständnis. Sie starrte auf die beiden Hände, die nicht ineinander liegen sollten. Das blinde Vertrauen von Mutter in ihn hatte eine vielleicht gefährliche Offenheit angenommen … Andererseits brauchte sie Halt und niemand schien ihr Leid wahrzunehmen, lediglich Wolff und Anni. Vorsichtig streckte Anni beide Hände über den Tisch. Mutter bemerkte es. Haltsuchend griff sie danach. Als sie Vater betrachtete, gruben sich tiefe Linien in ihre Züge. Plötzlich löste Mutter ihre Finger. Annis Herz zog sich zusammen. Trotz der Distanz zu ihr wollte sie nicht sehen müssen, wie Mutter unter Schock und Schmerz in die Knie gezwungen wurde.

Verhaftet wegen Mordes … Der Hilfskommissar beobachtete ihren Vater mit sorgengefurchter Stirn, ohne sich Annis Aufmerksamkeit bewusst zu werden.

„Herr von Stürickow, wer behauptet so etwas?“, fragte sie. Überrascht über die Kraft in ihrer Stimme und die Lautstärke, die sie in der Küche entwickelte, schrak sie zusammen.

„Das darf ich Ihnen leider nicht sagen, Fräulein Beckmann.“

Seine Worte klangen bedauernd, ehrlich, zugleich konnte sie von Stürikow nicht begreifen. Die Hilflosigkeit in ihr wandelte sich zu blankem Zorn, die Kälte zu einem Brennen in ihrer Brust.

„Warum schützen Sie einen Lügner?“, schnappte sie, sich darüber bewusst, dass sie jede Höflichkeit fahren ließ. Aber weshalb durfte jemand einen unschuldigen Mann anklagen und im Schatten bleiben? In der schlichten Handlung lag elende Feigheit. Von Stürickow sah ihr die Wut an. Er räusperte sich. Für einen Moment wirkte er verärgert, doch er beließ es bei einer hochgezogenen Braue.

„Fräulein Anni!“, mahnte Frau Engel scharf. Anni ignorierte die alte Frau und stand auf. So fiel es ihr leichter, von Stürickow auf Augenhöhe zu begegnen. „Sie kennen meinen Vater. Er kann kein Kind töten, schließlich ist er Lehrer.“

Nach einem tiefen Atemzug senkte der Hilfskommissar den Kopf. „Es gibt schwere Anschuldigungen, Indizien. Immerhin waren es Geschwister der Jungen aus seiner Schulklasse.“ Ärgerlich schüttelte er den Kopf. „Aber ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig!“

Anni knirschte mit den Zähnen. Sollte sie sagen, was sie von dieser Antwort hielt?

„Anni!“, wisperte ihre Mutter atemlos. Flehen klang in ihrer Stimme mit. Die Sorgenfalten in dem Gesicht vertieften sich. Unsicher fuhr sie sich mit einer Hand durch die Locken und knetete den Saum ihrer Schürze, als brächte ihr der Stoff Halt … Was immer Anni sagte oder tat, es würde sich nachteilig auf die Situation auswirken. Diese Sicherheit nahm ihr die Kraft. Erschöpft sank sie auf den Stuhl und rang mühsam nach Luft. Ihre Gefühle rückten ab und hinterließen einen eigenartigen Schwebezustand. Erst als ein Beben durch den Dielenboden ging, fing sie sich wieder.

Zwei Soldaten waren eingetreten und flankierten Vater. Einer von ihnen packte seinen Arm und zerrte ihn grob aus dem Stuhl. Er wehrte sich nicht. Noch immer lähmte ihn das Entsetzen. Unbeholfen stolperte er und knickte ein. Einer der beiden Soldaten griff nach seinem Ellbogen, um ihn zu stützen.

„Danke“, stammelte Vater. Sein Blick geisterte durch den Raum, fand nirgends Halt. Schließlich ließ er den Kopf hängen. Immer wieder schüttelte es ihn.

„Geht es?“, fragte der groß gewachsene Soldat. Seine Stimme klang kaum über das Flammenpochen im Herd hinweg. Sorgenvoll betrachtete er Annis Vater. Jede Reaktion blieb aus. Diese Niedergeschlagenheit brachte in Anni etwas zum Klingen. Unruhe erwachte in ihr. Sie biss sich auf die Unterlippe. Was konnte sie tun?

„Herr von Stürickow“, begann sie erneut, doch dieses Mal wusste sie nicht, was sie ihm sagen wollte. Der Hilfskommissar schnaufte ärgerlich. In seinem Gesicht zuckten Muskeln. Er wies auf ihren Vater: „Fesseln sind nicht notwendig“, murmelte von Stürickow. Anni starrte auf die schmalen, verkniffenen Lippen des Hilfskommissars. Er litt. Von Stürickow wusste, dass Vater unschuldig war. Unbeholfen wandte er sich an Mutter. „Frau Beckmann, ich …“ Seine Stimme versagte. Rasch verließ er die Küche. Anni sprang auf und wirbelte herum. Sie klammerte sich an die Stuhllehne.

Das musste ein Albtraum sein. Ihr Vater liebte das Leben, allein deswegen hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die Jungen in seiner Schule vor den Kriegswerbern zu bewahren. Schließlich glaubte er trotz der vier furchtbaren Kriegsjahre mit jeder Faser seines Herzens an die Menschlichkeit. Töten konnte er nicht. Langsam hob Anni den Blick. Das künstliche Licht unter der Decke brannte in ihren Augen und reflektierte auf den weiß lackierten Möbeln. Energisch blinzelte sie und kniff die Lider zusammen. Hinter ihr schluchzte Mutter auf und pochte mit der Faust zum wiederholten Mal auf den Tisch. Anni hörte, dass sie kaum Luft bekam.

„Warum …?“, fragte ihr Vater dumpf, als er in den Flur gebracht wurde. Der kleinere der beiden Soldaten half ihm in die abgetragene Jacke und legte ihm den Schal um den Nacken. Er blieb ihm eine Antwort schuldig.

„Er kann nicht töten“, sagte Anni mit Nachdruck. „Jeder, der das behauptet, ist ein Lügner.“ Die Soldaten sahen zu ihr. In dem Blicken beider zeichnete sich Mitgefühl ab. Dennoch schwiegen sie. Offenbar hielten sie es auch nicht für möglich.

Warum sagten sie es nicht? Wieso ließen sie zu, dass er mitgenommen wurde?

Anni warf Wolff einen Blick zu, in den Mutter ihr Vertrauen setzte. Er hatte sich ebenfalls erhoben, die Fäuste geballt und den Kopf geneigt. Unter seinem zu lang gewachsenen Haar bemerkte Anni wieder die phosphoreszierenden Augen.

„Von Stürickow!“, rief er scharf. „Beckmann war es nicht!“

Der Hilfskommissar begegnete seinem Blick sehr ruhig. Ihm entging offenbar das grauenhafte Aussehen, das Lauern …

Anni atmete scharf ein. War Wolff als Soldat nicht zu solchen Taten fähig? Das Raubtier in ihm schien aber niemand zu bemerken – warum nicht?! Anni wurde schwindelig.

Von Stürickow räusperte sich. „Uns fehlen Beweise, die der Aussage widersprechen, Wolff.“

„Dann strengen Sie sich an und gehen nicht den bequemsten Weg, Mann!“

Der Hilfskommissar straffte sich.

„Heinrich“, wisperte Löb. Er griff nach dem Arm seines Freundes und zerrte an ihm, bis Wolff nachgab und sich wieder in den Stuhl fallen ließ. Seine Anspannung wich nicht.

Würde er sich für Vater einsetzen, wenn er mehr wüsste, vielleicht selbst etwas damit zu tun hätte? Sicher nicht. Aber warum reagierte er so? Wegen Mutter, oder weil er Vater mochte?

Anni schloss die Augen. Aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern drang Rumpeln, als würden Waschtisch oder Kleiderschrank verschoben. Sie riss die Augen auf. Glas klirrte und knirschte unter einem Stiefel. Wie konnten diese Männer nur so brutal und herabwürdigend vorgehen? Am liebsten hätte sie geschrien und sie alle aus der Wohnung vertrieben. Der Wunsch steigerte sich zu einem rasenden Feuer in ihrer Brust. Dennoch kam nur ein hilfloses Krächzen über ihre Lippen. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was die Untermieter dachten. Sicher wurden auch ihre Zimmer durchsucht. Das hier war kein Zufluchtsort mehr. Wie zur Bestätigung stöhnte Vater gequält. Anni fing seinen brennenden Blick ein. Er wirkte zutiefst gedemütigt. Auf einem Anschlagplakat hatte sie vor zwei Jahren die Zeichnung eines Mannes mit der gleichen Mimik gesehen. Da war es der Feind gewesen, der von den Kaiserlichen Truppen niedergerungen wurde. Anni presste die Lippen aufeinander. Sie konnte sich nicht von ihm abwenden. Vater wirkte winzig und grau zwischen den beiden Männern in ihren militärisch gegürteten, schwarzen Mänteln und den Pickelhauben.

Ihre Brust tat weh, zugleich begannen ihre Augen zu brennen. Einen Moment später verschwamm ihre Sicht. Warum begann sie jetzt zu weinen? Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wangen. Allein für Mutter musste sie dieselbe Stärke und Strenge haben wie ihr Vater, sonst würde sie verzweifeln. Mühsam straffte sie sich und blinzelte die Tränen weg. Ihr Vater bemerkte es nicht. Er war viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Anni bemerkte den bedauernden Blick des großen, rotgesichtigen Soldaten. So viel Wärme und Verständnis lagen darin. Er wollte nicht hier sein, keinen Unschuldigen verhaften. Er wusste … Etwas sehr Schweres kippte im Schlafzimmer um, sodass ein Stoß durch die Dielen ging. Anni zuckte zusammen und versteifte sich.

„Herr von Stürickow, ich habe was gefunden!“, brüllte ein Soldat. „Das könnte das beschriebene Kinderkleid von dem Mädel sein!“

Mutter keuchte und vergrub den Kopf an Wolffs Schulter. Im gleichen Moment sprang Marie auf, sodass ihr Hocker nach hinten kippte und gegen die Ofenklappe schlug.

Der Hilfskommissar regte sich nicht. Auch seine Augen hatten sich geweitet. Er hielt die Hände zu Fäusten geballt.

Mühsam räusperte er sich. Sein Adamsapfel sprang über dem Hemdkragen. Auch er suchte Wolffs Blick. Was wollten alle von ihm? Anni krampfte beide Hände um die Lehne und grub die Finger in den Lack. Splitter platzten ab und bohrten sich unter ihre Nägel. Der Druck in ihrem Kiefer nahm zu und schoss scharf in ihre Schläfen. Schließlich ging es um Vater, nicht Heinrich Wolff! Am liebsten hätte sie ihr Unverständnis laut hinausgeschrien, aber was half es jetzt, hier und in dieser Situation?

Sie ließ ihren Halt los. Auf unsicheren Füßen trat sie auf den Flur. Hinter sich hörte sie von Stürickow, der sie überholte. Rasch schob er sich an ihr vorbei ins Schlafzimmer. Wieder brach Glas. Langsam ging sie weiter. In der Küche wurden Stühle zurückgeschoben und die Untermieter drängten auf den Flur. Vorsichtig spähte Anni um die Ecke in das elterliche Schlafzimmer. Die Kommode mit der eingelassenen Marmorwaschschüssel stand von der Wand abgerückt, die Schubladen lagen auf dem Boden. All die saubere Wäsche lag über Bett und Boden verteilt. Der Spiegel des Frisiertischs lehnte ausgehakt an der Wand und – soweit Anni sehen konnte, hatten die Soldaten den Boden des Kleiderschranks aufgestemmt. Von Stürickow vertrat Anni den Weg und nahm ihr die Sicht.

Aus der Stube klang ein vielstimmiges Aufdonnern der Klavierseiten. Anni fuhr zusammen und wirbelte herum. Wer wagte es ihr Klavier zu entweihen?! In der doppelflügligen Tür lehnte ein Soldat des Hilfskorps. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und knirschte angestrengt mit den Zähnen. Schweiß lief unter seiner Pickelhaube über sein Gesicht und versickerte in seinem dichten, rotblonden Bart. Von ihm stieg feuchte Hitze auf. Anni schob sich an ihm vorbei und spähte in den Raum. Fast hätte sie erwartet, wieder aufgehalten zu werden, doch er ließ sie gewähren. Ein anderer Soldat hatte den Korpus des Klaviers geöffnet und sich mit einer Hand auf die Tasten gelehnt. Immer wieder drangen Töne aus dem polierten Holzkasten. Annis Wut loderte auf. „Was tun Sie da mit meinem Klavier?!“

„Suchen!“, entgegnete der Soldat, ohne sich umzudrehen. Ihm war die Anstrengung in der Stimme anzuhören, während er weiter zwischen den empfindlichen Seiten herumfingerte.

Sie wagte einen Schritt in den Raum, nur um mit einem weiteren Soldaten zusammenzustoßen, der neben der Tür gekauert hatte und sich gerade aus der Hocke erhob. „Verzeihung“, sagte der Mann unsicher. Anni warf ihm – wie sie hoffte – einen vernichtenden Blick zu, den er mit schüchternem Lächeln hinnahm. Sie bemerkte, wie umständlich er die riesige Zeichenmappe von Wolff oder Löb verschnürte, nur um sie an ihren Platz hinter der Nähmaschine abzustellen. Er fühlte sich unwohl. Sie kniff die Augen zu Schlitzen. Sein Gesicht kam ihr bekannt vor. Leider entglitt ihr der Gedanke sofort wieder, als er sich umdrehte und der gegeneinander gelehnten Gemälde von Löb und Wolff widmete. Behutsam hob er die auf Holzrahmen aufgezogenen Leinwände an.

„Was machst du da?“, schnauzte ihn sein Kollege an. „Lässt du dich etwa von so einem Backfisch verschrecken?“

„Was erlauben Sie sich, Sie Flegel!“ Annis Stimme überschlug sich. „Sie trampeln durch unsere Wohnung und benehmen sich, als wären Sie im Feld. Lassen Sie das, verstanden?!“

„Goemann, Lohmann!“ Von Stürickow betrat die Stube und stemmte die Hände in die Hüften. Obwohl er ein kleiner Mann war, standen beide Soldaten von ihm stramm. „Benehmen Sie sich gegenüber Fräulein Beckmann anständig oder ich lasse Sie beide verwarnen.“

Anni wirbelte wieder zu ihm herum, sodass ihr langer Rock schwer mitschwang. Er nickte ihr knapp zu und ging. Obwohl der Hilfskommissar ihr geholfen hatte, richteten sich ihre Gefühle auch oder im Besonderen gegen ihn. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie die Kisten mit den Tubenfarben und die Spachtel zu Boden polterten. Wolff würde sicher zornig werden. Er achtete sehr genau auf sein Handwerkszeug. Seitdem die beiden Männer wieder Zivilisten waren, arbeiteten sie als Zeichner und Karikaturisten bei einer Zeitung. Anni seufzte.

„Entschuldigung“, murmelte der schüchterne Mann. Lohmann hatte von Stürickow gesagt. Anni musterte den jungen Mann über die Schulter. Max Lohmann, sie erinnerte sich wieder an ihn. Er war einer der schlechten Schüler ihres Vaters, der oft hier war, um seine Strafarbeiten abzuholen. Ihn hatte Vater vor drei Jahren auch nicht vor dem Feld bewahren können.

Lohmann senkte den Kopf. Seine Lippen zuckten. Er schien zu wissen, dass sie ihn erkannt hatte. Natürlich war es ihm nicht recht hier zu sein. Er wollte unter diesen Umständen sicher keinem Beckmann unter die Augen treten. Unsicher begegnete er Annis Blick, während er die Farbtuben aufsammelte.

„Es tut mir wirklich leid“, flüsterte er mit fast mädchenhaft heller, schwacher Stimme. Sein Kamerad – Goemann – zog die Brauen zusammen. Alle Verachtung, zu der er fähig zu sein schien, fing sich in seiner Haltung. „Weibischer Drecksack.“

Annis Wut reichte leider nicht mehr, etwas gegen ihn zu sagen. Während das brennend starke Gefühl aus ihr floss, blieb Unsicherheit übrig. Sie wusste nicht, was sie gegen die Solddaten unternehmen konnte.

Dielen knarrten. Anni roch Konrad Löbs Rasierseife und spürte die tierhafte Nähe von Heinrich Wolff. Hilfesuchend sah sie zu ihnen. Die beiden Männer standen dicht nebeneinander und spähten hinein.

Anni erinnerte sich an das Gefühl, als ihr Vater die Stube an Wolff und Löb vermietet hatte. Sie wollte es damals einfach nicht glauben. Der schiere Gedanke, weitere Stücke ihres Heims an andere abzutreten und selbst zu Gästen in der Wohnung zu werden, hatte sie damals entsetzt. Heute war es anders. Allein wegen der angenehmen Gesellschaft des charmanten Konrad Lob wünschte Anni sich die Wohnsituation nicht anders. Und nun verwüsteten Soldaten diesen Raum …

Anni bemerkte, dass Konrad Löb seinen Gehstock fast wie einen Knüppel umklammert hielt und anhob. Seine Kiefer malten und in seinen Augen stand blanke Wut. Heinrich Wolff beobachtete jeden Handgriff. In seinem Gesicht zuckten Muskeln, doch er wirkte teilnahmslos gegenüber seinem Freund.

„Sind Sie beide bald mit Ihrem Zerstörungswerk fertig?“, fragte Löb gepresst. „Oder wollen Sie weitermachen? Sie haben noch ein paar feuchte Bilder nicht ruiniert.“

Entschuldigend zuckte Lohmann mit den Schultern.

„Wir müssen nach Beweisen suchen. Es tut mir wirklich leid.“

Löb verkrampfte sich, machte einen Schritt auf den jungen Mann zu … Wie zufällig legte Wolff seine große Hand über die seines Freundes und drückte sie sacht herab.

„Das bringt nichts, Konrad“, murmelte er. „Goemann macht das mit Absicht. Er ist ein Schwein. Du kennst ihn.“

„Das Narbengesicht hat recht, Löb“, bestätigte Goemann spöttisch, der sich vom Klavier ab- und den für die Nacht vorbereitet Betten zuwandte. Ohne Zögern riss er die Laken aus den Sofaritzen, wobei er beiden Männern einen angewiderten Blick zuwarf.

Was wollte er damit andeuten? Anni verstand nur, dass er seine beiden ehemaligen Kameraden beleidigte.

Sie ballte die Fäuste. Dem konnte sie nicht länger zuschauen. Rasch huschte sie auf den Flur und blieb an der Schlafzimmertür stehen. Von Stürickow hatte die Tür angelehnt. Mit der flachen Hand wollte Anni sie aufstoßen, aber etwas blockierte von innen, sodass sie nur einen Streifen Licht und die Schulterpartie des Hilfskommissars sah.

„Herr v…“ Jemand legte sanft seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie. Sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte.

„Machen Sie sich nichts aus Goemanns Art, Fräulein Anni“, sagte Löb leise. So beruhigend die Worte klangen, so deutlich hörte sie seine unterdrückte Wut – oder war es Hass? Ein warmes Gefühl erwachte und erkaltete sofort wieder. Unter anderen Umständen hätte diese kurze Nähe etwas Wunderschönes und Bezauberndes an sich gehabt. Jetzt empfand sie nichts, nur Widerwillen. Anni wollte gerade unter seinem Griff wegtauchen, als von Stürickow mit einer schwarz verkrusteten Kinderschürze in der Hand aus dem Schlafzimmer kam. Er hielt den Blick gesenkt, wandte sich in den Raum und sagte: „Durchsucht alles gründlich. Ich brauche mehr als das Stück Stoff. Ich will richtige Beweise haben!“

„Hah!“, stieß Goemann aus. „Jetzt geht der Pauker ins Loch!“

„Halten Sie den Mund!“, schnappte von Stürickow. Seine Stimme erinnerte an das Grollen in einer Hundekehle. Trotz der Rüge verschwand das gehässige Grinsen nicht aus Goemanns Zügen. Von Stürickow wandte sich an Anni. Sein Zögern war Unsicherheit und Angst. Der Hilfskommissar sah zu Boden. Warum besaß er nicht den Anstand, ihr in die Augen zu schauen? Nach einem Moment hob er den Kopf, sah aber zu den beiden Männern hinter ihr. Etwas wie Erkenntnis und tiefe Sorge lag darin, versickerte aber hinter einer Maske. Welche Gefühle sich in seiner Mimik widergespiegelt hatten, konnte sie nicht sagen, aber er hatte jede noch so kleine Empfindung verbannt. Unmerklich nickte er. Unsicher sah Anni über die Schulter, obwohl sie zu wissen glaubte, wem die Geste galt. Aus Wolffs Zügen sprach tiefe Wut. Er knirschte mit den Zähnen. Erst als er Annis Starren bemerkte, begann er sich zu beruhigen. Ein aufmunterndes Lächeln quälte sich auf seine Lippen. „Alles wird gut“, wisperte seine Stimme in ihrem Kopf. Anni war sicher, dass niemand ihn hörte, nur sie. Er sprach ausschließlich zu ihr. Aus irgendeinem Grund erschreckte es sie nicht mehr. Alles war bei diesem Mann möglich. Langsam trat von Stürickow an die Wohnungstür und befahl: „Führt Beckmann ab!“



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