Momentaufnahmen von -Kiara ================================================================================ Kapitel 2: Realisation ---------------------- Guten Morgen!! Alles gut bei dir? Hast du heute etwas vor? Kurz nachdem Judai aufgewacht war, hatte er sich sein Handy gegriffen und diese Nachricht eingetippt. Nach wenigen Sekunden plöppte das graue Doppelhäkchen neben dem Text auf und verkündete, dass die Nachricht erfolgreich übermittelt wurde. Jetzt musste er nur noch darauf warten, dass Yusei sie las. Inzwischen hatte sich Judai angewöhnt seinen elektronischen Alleskönner überall mit hinzunehmen. Er war immer am Mann. Um bloß keine Rückmeldung zu verpassen. Der Kontakt zu Yusei hatte sich in den letzten Wochen erheblich eingeschränkt. Er hatte viel zu tun mit seinem Praktikum und war quasi Tag und Nacht beschäftigt. Judai hoffte, dass er an einem Sonntag bestimmt mal Zeit hätte. Für irgendwas. Beim Frühstück lag das Handy neben ihm, im Badezimmer, beim Zocken - egal, wo er war. Ab und zu leuchtete es mit einer neuen Benachrichtigung auf, doch dabei handelte es sich nur um Kommilitonen und dem Gruppenchat für die Filmabende. Die Sonne war inzwischen untergegangen und Judai saß auf seinem Bett und las Comics. Plötzlich ertönte das altbekannte Pfeifen aus dem elektronischen Gerät an seinen Füßen und löste in Judai eine pavlovsche Reaktion aus. Hastig griff er nach seinem Handy und starrte auf die neue Nachricht. Sorry, Handy lag Zuhause. Alles gut, wollt mich aber jetzt schlafen legen. Gute Nacht. Judai starrte noch eine längere Weile auf das helle Display. Darauf hatte er den ganzen Tag gewartet? Hallo - Tschüss? Wütend warf er das Handy in seine Decke und schlug ins Kissen. Er war frustriert. Und sauer auf sich selbst. Er wusste selbst nicht, was er sich erhofft hatte. Je später es wurde, desto unwahrscheinlicher war eine Antwort gewesen. Dass trotzdem eine gekommen war, hatte ihn gefreut. Sie hätten sich zumindest so unterhalten können. Doch dieses Gespräch war zu Ende, bevor es überhaupt angefangen hatte. Wieso ärgerte ihn das so? Wieso war er so erpicht darauf mit ihm zu reden? Wieso vermisste er ihn so? Bei keinem seiner anderen Freunde hatte er je dieses Gefühl gehabt. Auch wenn sie sich Wochen nicht gemeldet hatten. Das war immer okay. Und das hier machte ihn fertig? Plötzlich lief es Judai eiskalt den Rücken hinunter, als er realisierte, was dies wohl zu bedeuten hatte. Hatte er sich etwa-? Nein, unmöglich. Er war doch nur-… oder? Wie betäubt stand er auf und torkelte rüber ins Wohnzimmer, wo Johan sich gerade eine Serie ansah. „… Johan?“, setzte er leise an. Dieser sah auf, bemerkte den völlig entgeisterten Blick seines Freundes und schaltete den Fernseher augenblicklich auf Standby. „Was ist los?“, fragte er besorgt und klopfte auf den freien Sofaplatz neben ihm, auf dass Judai sich zu ihm setzen solle. Judai folgte seiner stummen Aufforderung und ließ sich in die Polster sinken. „Hast du schonmal so hoffnungsvoll darauf gewartet, dass eine Person sich meldet nur um letztendlich völlig frustriert und enttäuscht zu sein, wenn sie sich nach Stunden meldet und dich gleich wieder abwimmelt?“ Johan zog leicht belustigt eine Augenbraue hoch. „So, wie wenn ich dich frage, wo du bist und du abends antwortest ‚vor der Haustür‘ oder wie?“ 
Sein Mitbewohner schaffte es nur zu häufig, sein Handy ständig zu überhören oder vergaß es gar ganz Zuhause, welches ein Erreichen erschwerte. „Nein.“ Judai schüttelte benommen den Kopf. „Ich meine… ‚Guten Morgen! Wie geht’s? - Gut, ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht.‘ So halt“, zitierte er grob das heutige Gespräch. Mild hob Johan die Schultern. „Naja, kommt vor. Und deshalb bist du jetzt traurig?“ Er legte einen Arm und Judai und drückte ihn sanft. „Ja. … schon“, nickte Judai matt. Er wusste ja selbst, dass es normalerweise kein Grund für diesen Stein auf seinem Herzen war. Er zeugte immerhin selbst nicht von einem guten Beispiel, was die zeitnahe Beantwortung von Nachrichten anging. Da warteten Kommilitonen und Kumpanen auch gut und gerne mal ein-zwei, manchmal sogar drei Tage auf Antwort. Besonders wenn sich Judai in einem neuen Spiel festgebissen hatte. „Das nennt sich Liebeskummer“, bemerkte Johan sachlich. Kein Wort ging über Judais Lippen. Johan hatte in den letzten Wochen und Monaten so oft Andeutungen in die Richtung gemacht. Eigentlich, vom allerersten Tag, als Judai im Zug zu Uni seinen Ausstieg verpennt und Yusei getroffen hatte. War es so deutlich gewesen? Immerhin waren Judai seine Gefühle überhaupt nicht bewusst gewesen. Klar, Yusei war ein guter Freund und er mochte ihn echt gerne. Vom ersten Tag an. Aber es war ihm nie vorgekommen, dass er für Yusei anders empfand, als für Johan. Sie waren nunmal seine besten Freunde. Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Und sie konnten gemeinsam eine Menge Spaß haben. Deshalb schienen ihm die Sticheleien immer recht haltlos. Da hätte Johan auch genauso gut behaupten können, Judai würde ihm schöne Augen machen. „Und ich will dich dieses Mal wirklich nicht damit aufziehen“, fügte Johan ruhig hinzu.
 „Ich war noch nie verliebt“, gestand Judai trocken. „Was mache ich jetzt?“ „Noch nie? Warst du letztes Jahr nicht mit diesem einen Mädel zusammen?“, hakte Johan unsicher nach.

 „Ja, schon. Ich dachte aber man verliebt sich erst danach… während man in der Beziehung ist.“ Johan nickte knapp. „Das erklärt, warum sie so schnell wieder vorbei war.“ Tatsächlich hatte dieser Versuch einer Beziehung gerade einmal knapp vier Wochen überlebt, bevor sie sich ächzend selbst in die Grabstätte legte. Das Mädchen hatte Judai mutig, das musste man ihr lassen, ihre Liebe gestanden und im selben Atemzug gefragt, ob er mit ihr gehen wollen würde. Das Problem war allerdings, dass Judai nicht so recht wusste, was dies beinhaltete und was denn überhaupt die allgemeinen Anforderungen an so eine Beziehung waren. Man war halt befreundet, dachte er sich. Und das Mädchen war ihm sehr sympathisch. Also warum nicht? Er hatte ihr zugesagt und sie damit direkt zu den rosaroten Wolken hoch katapultiert. In den darauffolgenden vier Wochen war das Mädchen - wie konnte man es diplomatisch ausdrücken - sehr motiviert. Äußerst bestrebt. Sie hing an Judai und textete ihm ansonsten in jeder freien, wachen Minute. Es störte Judai nicht. Allerdings hatte er keine großartige Lust eine ähnliche Motivation an den Tag zu legen. Es war für sie beide die erste Beziehung. Judai hatte keine Ahnung, was man da machte. Dafür hatte das Mädchen eine lange Liste an Dingen, die sie abarbeiten wollte. 
 Da wurde in den ersten Tagen schon Händchen gehalten und gemeinsam viel Zeit verbracht, gezockt und gequatscht und gelacht. Alles nicht so wild. In der zweiten Woche wollte sie das mit dem Küssen ausprobieren. Also taten sie es. Judai verstand den Hype darum nicht. 
 In der dritten Woche war sie umso anhänglicher, teilweise im wahrsten Sinne des Wortes, klebte an seinem Arm und wollte im Grunde die ganze Zeit nur kuscheln und rumschmußen. Judai stellte heraus, dass es dabei schwierig war zu zocken.
 In der vierten Woche fragte sie Judai immer wieder, ob er nicht zu ihr wolle. Ihre Eltern seien nicht da, sie könnten sich einen Film angucken, er könnte bei ihr übernachten und… naja, sie erzählte irgendwas von einer Pille, die sie jetzt jeden Tag nahm und er sich keine Sorgen machen müsste. Zwar verstand Judai nicht alles, aber eins wurde ihm definitiv bewusst: Das war alles nicht so schön, wie er immer von anderen hörte. Es schien ihm, als sei er verpflichtet diese Dinge mit ihr zu tun, weil es sich so gehörte und nicht, weil er Lust darauf hatte. Und das machte ihm keinen Spaß. Also beendete Judai die Beziehung nach einem Monat mit einer wortkargen Erklärung. Er wollte keine haben, wenn die immer so unbehaglich waren. „Also?“ Judai sah ratsuchend zu Johan auf. „Wie… wie geht es jetzt weiter?“ Der Angesprochene wiegte nachdenklich den Kopf. „Das kann ich nicht vorhersehen. Wirst du es ihm sagen?“ Judai stieß einen Schwall Luft aus. Sollte er es Yusei sagen? Er war überfragt. Eigentlich wusste er gerade überhaupt nichts mehr. „Was, wenn ich es tue?“, fragte er kleinlaut nach. „Das hängt ganz von euch ab.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)