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2nd Season: Russian Diaries

von

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Rostelecom Cup – Ich liebe Umarmungen!

Rostelecom Cup, 25. November – 26. November, Moskau
 

Wir reisen, Tatjana und Dr. Tschekowsky mit eingerechnet, zu siebt zum Rostelecom Cup an. Auch Yurio und Mila wollen mit von der Partie sein, wenn Viktor im letzten Vorentscheid des Grand Prix antritt, allerdings befinden sie sich nicht mit uns im offiziellen Bereich, sondern sitzen normal im Publikum.

Zu meiner und Viktors Überraschung sind wir nach dem Kurzprogramm von Yurio zu seinem Großvater zum Essen eingeladen worden. Viktor hat die Einladung heute morgen auf sein Handy bekommen und meinte völlig perplex zu mir, dass das ja fast einem Ritterschlag gleich käme und was um alles in der Welt wir falsch gemacht haben, um zu dieser Ehre zu kommen. Nun gewusst habe ich es zwar nicht, aber nach einem kurzen Blick auf Yurios Instagram hatte ich eine starke Vermutung.

Yurio hat Otabek ebenfalls nach Moskau eingeladen; offiziell deswegen, damit dieser live dabei sein kann, wenn sich entscheidet, ob er seinen Finalplatz behalten kann oder nicht. Inoffiziell gehe ich davon aus, dass Yurio einfach Zeit mit Otabek als einem Freund verbringen will. Leider hat Yurio sich vor dem Skate America mehr als einmal eindeutig zweideutig ausgedrückt, sodass es von Viktors Seite aus ständig Sticheleien auf den Blondschopf gehagelt hat. Daraus resultierend bin ich über den groben Ablauf in Amerika wohl informiert geblieben, aber Viktor war nicht eingeweiht worden und das rächte sich.

Yurio hat mich für seine Verhältnisse regelrecht mit Fotos zugespammt, allerdings mit der Drohung, kein Einziges davon Viktor zu zeigen oder weiterzuleiten. Weil ich Viktor kenne und Yurio den Spaß mit Otabek nicht verderben wollte, habe ich mich an die Anweisung gehalten, aber im Endeffekt hat es nichts geholfen. Die Informationen sind auf Umwegen doch bei Viktor angekommen, denn Otabek ist zwar kein Freund großer Worte oder reger Emotionen, aber das ein oder andere Foto hat er natürlich auch auf seinem Instagram-Account hochgeladen. Diese waren zwar weniger expressiv als die, die Yurio mir geschickt hatte; aber enthielten dennoch jene subtilen Nuancen, die unheimlich interessant für diejenigen sind, die wissen, sie zu deuten. Und Viktor wusste das viel zu genau.

Es war nur ein Foto von ihren Getränken bei Starbucks. An sich nichts Besonderes oder Auffälliges, schließlich waren wir auch schon oft zusammen mit Yurio bei Starbucks. Die Besonderheit lag im Detail. Otabek hatte einen dunkeln Mokka, Yurio einen hellen. Schön daran zu erkennen, weil die Getränkekürzel und die Namen auf die Becher geschrieben werden. Ich glaube, Otabek war sich gar nicht bewusst, wie viel diese beiden Kaffeebecher aussagen würden und er konnte auch nicht wissen, dass Viktor über einen sechsten Sinn und eine viel zu blühende Fantasie verfügt. Denn Yurio trinkt normalerweise keinen Kaffee und hasst generell alles, was mit Kaffee in Berührung gekommen ist. Folglich musste Viktor, der Yurios Gemotze schon viel zu oft miterlebt hat, nicht mal mehr nachdenken, um zu erraten, wie der Hase lief. Yurio tat mir wirklich leid, von Viktor so über den Fortschritt seines „Dates“ zugetextet worden zu sein, aber ich musste so lachen... Ein Foto und die ganze Mühe war umsonst. Ein liebevolles „F*** you!“ gefolgt von allerlei aussagekräftigen Smileys hat dem Ganzen für Viktor noch das Krönchen aufgesetzt und brachte Yurio noch mehr Sticheleien ein.

Dass Yurio jetzt Viktor direkt angeschrieben und eingeladen hat, war daher genau das Richtige. Es wirkt wie ein Maulkorb, weil Viktor gar nicht weiß, was er davon halten soll, sodass er in seinem Kopf schon die bizarrsten Szenarien sieht, warum Yurio ausgerechnet uns beide dabei haben will, wenn Otabek zu ihm und seinem Großvater zu Besuch kommt. Wahrscheinlich gibt es nicht mal einen besonderen Grund. Nur eben den, dass Viktor nicht weiß, was er denken soll und still ist. Und da hat Yurio ihn eindeutig überlistet.
 

Im Vergleich zur Atmosphäre in Paris ist die Stimmung in Moskau bei dem heutigen Vorentscheid nahezu entspannt und wird beherrscht von der Ordnung der vergangenen Jahre: Viktor wird wie immer gewinnen, der Rest ist beinahe schon egal und darüber sind sich alle unausgesprochen einig. Bei den Läufern, die sich nicht um Sieg oder Niederlage kümmern müssen, sorgt das für eine merkwürdig lockere Einstellung im Bezug auf das Endendergebnis. Einzig Seung-Gil Lee und Michele Crispino wirken nervös und angespannt, denn für sie besteht immer noch die Möglichkeit einer Finalteilnahme. Es wird ein ganz knappes Rennen, wer dieses letzte, verbliebene Ticket bekommt, das im Moment noch ich innehabe. Die besten Chancen hat Seung-Gil, dem ein dritter Platz genügen würde. Michele bräuchte für ein sicheres Ticket mindestens den zweiten Platz; der dritte würde nur reichen, wenn er Otabeks Bestleistung überbietet, an der auch ich gescheitert bin. Für mich reicht es nur noch, wenn Seung-Gil vierter und Michele fünfter werden würden. Aber in Anbetracht ihrer heutigen Konkurrenz ist das schwer vorstellbar, denn die übrigen drei Läufer liegen weit hinter ihnen und von Viktor brauchen wir erst gar nicht anzufangen.

Als der Rostelecom Cup startet, vermittelt die erste Gruppe an Läufern den Eindruck, auf Klassenfahrt zu sein. Michele Crispino ist als Erster der zweiten Gruppe an der Reihe, danach Seung-Gil Lee, als letztes Viktor. Auf den Fernsehbildschirmen kann ich Sara Crispino bei ihrem Bruder stehen sehen, aber irgendwie suchen ihre Augen ständig den Kontakt zu dem Koreaner – und das erfolglos. Seung-Gil blendet einfach wieder alles aus, wie immer. Wenn mir das nur auch mal so leicht fallen würde...!

Der Kameraausschnitt auf dem Bildschirm vor mir wechselt und ich sehe, dass Viktor mit dem Aufwärmen begonnen hat. Diesmal darf ich nicht mit nach draußen in die eigentliche Eishalle und muss im Hintergrund bleiben, denn im Gegensatz zu den Russian Nationals gab es im Vorfeld keine Möglichkeit für mich einen Backstagepass zu organisieren. Ich bin weder offizieller Teilnehmer des Rostelecom Cups, noch hab ich in irgendeiner Art und Weise Berechtigung, hier zu sein und mich als mentale Unterstützung in den offiziellen Bereich der Eishalle durchzuschleusen, wäre im Vorfeld nur ein gefundenes Fressen für die Journalisten gewesen.

Mein Blick wandert unwillkürlich zu dem improvisierten Ausweis, den man mir beim Einlass gegeben hat. Viktor hat meine Anwesenheit mit Trainingszwecken begründet, aber ich bin mir relativ sicher, dass das vom Hallenpersonal niemand geglaubt hat. Schließlich waren wir bei Nationals schon zusammen hier. Sie wollten vielmehr ihrem Nationalhelden die Bitte nicht abschlagen und so gab es nach einigem Hin und Her ein Stück Papier in Schutzhülle zum Umhängen für mich. Die einzige Bedingung für diese Ausnahmeregelung war, dass ich mich nur Backstage bewegen und nicht in die eigentliche Halle treten darf. Spätestens ab dann muss auch Viktor bemerkt haben, dass man den eigentlichen Sinn und Zweck erraten hatte, denn wenn ich nur über die Fernseher zuschauen könnte, würde das wohl kaum irgendeinen Trainingszweck erfüllen. Da wäre es schlauer gewesen, mich ins Publikum zu setzen, denn zum Fernsehen hätte ich auch zuhause bleiben können.

Also sitze ich alleine auf einem Klappstuhl in einem der Flure und beobachte Micheles Programm auf dem Fernsehbildschirm vor mir. Ich soll mich so unauffällig wie möglich verhalten und auch nicht durch irgendwelche Kamerabilder laufen, was jedoch schwierig ist, denn Viktor ist seit unserer Ankunft in Moskau von Kameras, Fotografen und Fans umschwärmt wie von Motten, die um das Feuer fliegen. Es ist für mich schon traurige Routine geworden, dass sobald Viktor als Läufer antritt, keine Chance mehr besteht, irgendwie an ihn heranzukommen. Ein gewisser Abstand ist nötig, um ihm dennoch nah sein zu können, auch wenn das mit einer gewissen Widersprüchlichkeit einhergeht.

Zu meiner großen Erleichterung fallen die Punkte zum Ende von Micheles Programm nicht so hoch aus wie erwartet. Der Italiener ist in der Kür weitaus stärker als im Kurzprogramm und die Chance, dass er so unter meiner Leistung bleibt, ist etwas gestiegen. Genau andersrum verhält es bei Seung-Gil, der im Kurzprogramm die besseren Punkte erzielt und der nach seiner Performance mit einer Personal Best von 94,67 Punkten auch derzeit auf dem ersten Rang liegt. Noch.

Viktor steht bereit, das Eis zum zweiten Heimspiel der Saison zu betreten. Yakov redet noch mit ihm und hält dabei all die Dinge in den Händen, die bei den Nationals noch ich getragen habe. Als Viktor die Füße schließlich aufs Eis setzt, beginnt das Publikum augenblicklich laut zu klatschen und zu johlen. Und die überschwängliche Euphorie hat auch einen konkreten Anlass, denn Viktor trägt zum ersten Mal in dieser Saison seine Schlittschuhe mit den goldenen Kufen. Er hat es vorher zwar nicht explizit angekündigt, aber das ist seine Art subtil zu zeigen, dass er den Weltrekord im Visier hat und in ein paar Sekunden den ersten, ernsthaften Versuch zur Rückeroberung unternehmen wird. Mit dieser Vermutung bin auch nicht alleine, die goldenen Schlittschuhe werden von Fans und Presse auf genau dieselbe Weise interpretiert und entsprechend zelebriert.

Gleicht gilt es... Viktor hat so hart dafür gearbeitet, so viel Zeit geopfert... Es muss einfach klappen. Ich bin noch viel unruhiger als bei seinen Läufen zuvor, obwohl ich das Programm mittlerweile auswendig kenne... Yurio ist bestimmt nicht minder nervös. Bisher kam er mit Arabesque nicht über 111,45 Punkte hinaus, die Viktor bereits bei der Premiere zu Beginn der Saison überboten hatte. Wenn der Rekord gleich eingestellt werden würde, dann käme das einem Ausnahmezustand gleich.
 

Viktor nimmt seine Position auf dem Eis ein und ich halte den Atem an.

Meine Lippen berühren den Ring an meinem Finger und auch wenn ich ihm nichts mehr auf den Weg geben konnte, in Gedanken bin ich immer bei ihm. Das Eis ist bei ihm. Es wird ihn tragen, ich bin mir sicher.

Gib dein Bestes, Viktor.

Es beginnt von Neuem.

Viktor dreht die ersten Pirouetten und ich starre ohne zu blinzeln auf das Geschehen vor mir. Unfähig mich davon abzuhalten, nestele ich unruhig an meinen Jackenärmeln. Mein Bein wippt auf und ab, während ich die Performance verfolge. Viktors Ausdruck heute ist anders als der, den ich bisher gesehen habe; er ist wehleidiger und es greift sofort auf mich über... Er läuft mit so viel Stolz, Grazie und dennoch so sehnsüchtig... Gleich der erste Sprung... Mein Herzschlag beschleunigt sich weiter, der Flip ist durch und das Publikum feiert, aber der Jubel wirkt seltsam leise und von weit her. Mein Blick wird leer und plötzlich bin ich wie weggetreten.
 

Als die Lautstärke zurückkehrt und ich durch das tosende Geschrei der Zuschauer aus meiner Trance gerissen werde und wieder realisiere, wo ich bin, erinnere ich mich gar nicht mehr, die Performance zu Ende gesehen zu haben. Aber sie ist zu Ende; Viktor steht gerade vom Eis auf, um sich bei den Zuschauern und der Jury zu bedanken. Der Kommentator ruft ins Mikrofon und der Beifall reißt nicht ab. Ich bin ziemlich verwirrt. Meine Hände sind eiskalt und in meinem Kopf formieren sich erste, wirre Gedanken. Was war das? Hat Viktor den Rittberger besser gesprungen, so wie Yakov das wollte? Ist die Dreifachkombination geglückt? Ich starre wieder auf den Bildschirm. Yakov und Viktor sind auf dem Weg zum Kiss & Cry... Viktor hält einen Olaf-Plüschie... Sie setzen sich und warten. Worauf nochmal?... Ach ja, die Punkte... Der Rekord. Stimmt. Yurios Rekord... lag bei wie vielen Punkten nochmal...? 118,56 Punkten...
 

„The score for Victor Nikiforov...“
 

Die Anzeigetafel zeigt 119,03 Punkte.
 

Nach einer Sekunde der Schockstarre bricht unter den Zuschauern die Hölle los und auch ich springe ungläubig von meinem Stuhl auf. Yakov ist ebenfalls aufgesprungen; er reißt beide Fäuste in die Luft als Zeichen des Sieges, dann drückt er Viktor an sich, der selbst völlig fassungslos daneben steht. Die Lautsprecher wirken plötzlich wie Megafone, so laut schreit der Kommentator:
 

„Ist das zu glauben, meine Damen und Herren, Viktor Nikiforov holt seinen Rekord zurück, hier beim Heimspiel in Moskau! 119,03 Punkte! Neuer Weltrekord! Das ist die zu erwarten gewesene Führung mit gigantischem Vorsprung! Diesen Rückstand wird der Koreaner Lee nicht mehr aufholen können, der Sieger im Rostelecom Cup steht bereits fest!

Nikiforov ist damit der klare Favorit, den siebten Gesamtsieg in der Grand Prix-Serie nach Hause zu holen! Mit 28 Jahren ist er der älteste Teilnehmer, aber man merkt nichts davon; auch nicht, dass er pausiert hat, liebe Zuschauer, der Mann ist der blanke Wahnsinn; was er auf's Eis zaubern kann, das gelingt keinem Zweiten!“
 

Das Publikum feiert, die Standing Ovations halten an, einige haben angefangen zu singen und Yakov bekommt bereits von einigen umstehenden Trainerkollegen, Mitarbeitern und Offiziellen die Hand geschüttelt. Das Einzige, das nicht in dieses Bild kollektiver, überschwänglicher Freude passen will, ist dass derjenige, der sich am meisten freuen sollte, es nicht tut: Viktor hat sich wieder gesetzt und den Blick auf den Boden gesenkt.

Seine Gesichtszüge sind noch völlig regungslos von der Überwältigung, dass es ihm gelungen ist. Man könnte fast sagen, er sieht auf eine niedliche Art und Weise bedröppelt aus, wie er mit großen, ungläubigen Augen und Olaf auf seinem Schoß da sitzt... Aber da ist dieser unglaublich starke Schmerz in der Brust, dass ich nicht bei ihm sein kann. Ich kann nicht einmal nach draußen gehen und ihm offen zujubeln. Ich platze fast vor Freude und Stolz über seinen Erfolg, aber jeder von uns ist damit allein gelassen.

Ist es die Situation oder die aufgewühlten Emotionen, die es gerade so unerträglich machen, auch nur für eine kurze Zeit voneinander getrennt zu sein? Viktor wendet den Kopf langsam zur Seite, aber nicht zu der Yakovs, sondern zur entgegengesetzten. Er schaut in Richtung des Flurs, in dem ich sitze. Wieder durchfährt mich dieser stechende Schmerz.

Die Reporter drängen schon vor den Kiss & Cry, Viktor zu seinem Weltrekord zu befragen. Ich sehe, dass Yakov Viktors Blick bemerkt hat, ihn antippt und beginnt, mit ernster Miene auf ihn einzureden. Dann richteten sich beide auf, Yakov klopft Viktor auf die Schulter, schiebt ihn so gut er kann an den Pressemitarbeitern vorbei, die alles versuchen, die Mikrofone doch vor Viktors Gesicht zu bekommen:

„Viktor, was für ein grandioser Lauf! Wie fühlt es sich an, zum siebten Mal einen Weltrekord im Kurzprogramm gelaufen zu sein?“

„Herzlichen Glückwunsch, möchten Sie ihren Fans etwas sagen?“

„Was hat Sie zu dieser Leistung beflügelt?“

Viktor antwortet nicht, stattdessen stellt sich Yakov zwischen ihn und die Reporter: „Die Performance war sehr emotional für ihn. Geben Sie ihm einem Moment zum Verschnaufen.“

„Herr Feltsman, können Sie uns dann ein paar Worte sagen? Haben Sie mit einem solchen Ergebnis gerechnet?“

„Viktor hat hart dafür gearbeitet. Er hat das Ziel klar vor Augen gehabt und konnte die Leistung im Richtung Moment abrufen.“

Die Aufmerksamkeit verschiebt sich hin zu Yakov und Viktors Schritte beschleunigen sich ein wenig. Kommt er etwa hierher? Oder doch nicht? Sein Kopf ist gesenkt, aber er kommt in meine Richtung... Mein Herz schlägt wie verrückt, ich schaue auf das Ende des Flurs, dann wieder auf den Fernsehbildschirm. Auf dem gerade nur Yakov zu sehen ist, der an Viktors Stelle die Presse bedient. Dann wieder der Flur. War der Kiss & Cry so weit von hier weg? Wo ist Viktor? Ein flüchtiger Blick zurück auf den Bildschirm. Immer noch Yakov. Wieder zum Flur.

Mein Herz vergisst für einen kurzen Moment zu schlagen. Da steht er; er schaut zu mir, Olaf schaut zu mir. Er kommt, so schnell es ihm die Schlittschuhe auf normalem Boden erlauben, in meine Richtung gelaufen, ich sprinte ihm entgegen, Olaf landet auf dem Boden und sofort schließe ich meinen Viktor fest in die Arme, fühle die Jacke, die Wärme, den Herzschlag.

„Yuuri...“, flüstert er und drückt mich noch fester an sich. Er ist so groß, wenn er die Schlittschuhe anhat...

„Herzlichen Glückwunsch, Viktor“, gratuliere ich und fahre seinen Rücken auf und ab.

„Yuuri, ich habe dich gespürt, die ganze Zeit...“

„...Eh?“

„Ich kann es nicht erklären. Aber du warst bei mir...“

Zuerst bin ich etwas überrascht, aber dann muss ich lächeln. Niedlich, denke ich, wie er es immer noch nicht glauben kann, dass er es wirklich geschafft hat. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben und kaum dass sich unsere Lippen für einen kurzen Moment berühren, steigen ihm die Tränen in die blauen Augen. Er fängt an, schief zu grinsen.

„Ich konnte laufen... Yuuri.“

Darauf muss ich lachen.

„Ja, du kannst laufen. Jetzt freu' dich endlich, Viktor. Du hast den Rekord zurückerobert“, fordere ich ihn auf. Es dauert noch einen kurzen Moment, aber dann weicht das letzte bisschen Zurückhaltung losgelöster Freude, ich werde hochgehoben und unsere gemeinsamen Jubelschreie erfüllen den Gang.

Er kann es wirklich wieder.
 

Der Rest des Abends verläuft, aufgrund des eingestellten Rekords, völlig anders als geplant. Während Viktor mit Tatjana und Yakov, dem Präsidenten von Rostelecom, dessen Frau, dem Präsidenten des Eiskunstlaufverbands und einigen weiteren hohen Persönlichkeiten zum Feiern gehen muss, nehme ich die Einladung von Yurio an und fahre mit ihm, Otabek und seinem Großvater zu dessen Wohnung. Großvater Nikolai sieht mit dem dichten Vollbart und den teils grauen, teils noch dunkelbraunen Haaren etwas wild aus, aber in seinen Augen sehe ich, dass er ein herzensguter Mensch ist.

Als ich dann aber vor seinem kleinen, grünen Wagen stehe, bin ich irgendwie doch froh, dass wir nur zu viert sind, denn zu fünft und einem 1,80m großen Viktor wäre das wie Tetris geworden, bei dem wir nicht einmal die erste Reihe geschafft hätten.

Die anschließende Fahrt durch Moskau gestaltet sich als eine weitere Herausforderung bezüglich meiner Erfahrungen mit russischen Fahrstilen, was diesmal aber darin begründet liegt, dass bereits einige Eiskunstlauffans mit russischen Flaggen und Vodka in den Händen auf den Straßen zu sehen sind. Es ist irgendwie überwältigend und beängstigend zugleich. Es freut mich zwar, wie sehr die gesamte Nation hinter Viktor steht, aber das ist zu viel...

Ob Yurio uns alle deswegen bei sich zuhause haben wollte? Den Rekord verloren zu haben und jetzt vorbei an feiernden Menschen durch die Straßen Moskaus fahren zu müssen, muss bitter für ihn sein. Vorsichtig riskiere ich einen Blick in den Rückspiegel und stelle erleichtert fest, dass Yurio und Otabek gar keine Acht auf das haben, was draußen passiert. Sie schauen irgendetwas auf Otabeks Handy an, teilen sich die Kopfhörer und ich bin beruhigt, dass der Kasache Yurio von dem Geschehen um sie herum ablenken kann. Ich drehe mich wieder nach vorne und versuche, während der verbliebenen Fahrt mein Bestes, mich mit Großvater Nikolai auf Russisch zu unterhalten. Yurio hört uns trotz Handyvideo mit einem Ohr zu und verbessert mich ständig. Hauptsächlich kritisiert er meine Aussprache, die auch Viktor immer wieder vergeblich versucht zu verbessern. Dabei kann ich nichts dafür, die meisten Töne bekomme ich einfach nicht aus mir heraus, egal wie sehr ich es auch versuche! Und Otabek schweigt die Fahrt über, Überraschung.
 

Yurios Großvater wohnt in einem großen Block, der seiner Fassade nach zu urteilen schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hat und der von den Spuren der zahlreichen, kalten russischen Winter gezeichnet ist. Aber das muss ja nichts heißen, ermahne ich mich. So manches Haus in Japan sieht von außen auch nicht schön aus, deswegen muss es drinnen nicht ungemütlich sein. Oder es liegt daran, dass ich bisher nur unsere Wohnung und die von Jelena zum Vergleich heranziehen kann und beide keine günstigen Quartiere sind.

Wir betreten das Gebäude und Yurio zeigt mir auf den ca. dreißig Briefkästen, dass offenbar seine ganze Familie hier wohnt. Es gibt in der Tat einige Briefkästen, auf denen „Plisetsky“ angeschlagen steht. Sein Großvater wohnt im Erdgeschoss, die Eltern weiter oben im dritten. In den vierten ist vor ein paar Monaten seine Schwester mit ihrem „Scholli“ umgezogen und ich wundere mich, denn Yurio hat bisher nie erwähnt, dass er eine Schwester hat. Ich frage mich, ob sie genauso ein Hitzkopf ist wie er?

In der Wohnung von Großvater Nikolai angekommen, fühle ich mich ein wenig an die Wohnung meiner Eltern in Japan erinnert. Erdige Farben, schlichte Möbelstücke aus Holz mit Polsterbezügen, Tapeten und gelbes, elektrisches Licht. Man könnte den Eindruck gewinnen, es sei eine triste Wohnung, aber das ist sie keinesfalls. Das innige Verhältnis von Yurio und seinem Großvater füllt die Wohnung vollständig aus und ich fühle mich kein bisschen unwohl. An den Wänden hängen eine Menge Fotos von Familienausflügen, aber hauptsächlich von Yurio bei verschiedenen Wettbewerben. Ich lasse meine Blicke etwas weiter durch den Raum schweifen. Egal wo ich hinschaue, überall scheint sich etwas zu befinden, das ihm gehört. Sei es die PS Portable oder die PS4 mit einigen Spielen, die Kopfhörer, die Leoprintdecke auf dem Sofa, die angebrochene Tüte Chips oder die Flasche Pepsi auf dem Tisch oder der Hoodie über dem Sessel.

In Gedanken muss ich lachen. Teilweise sah es bei uns zuhause ähnlich aus, bevor Viktor von dem ganzen Durcheinander genug hatte und die Yurio-Box eingeführt hat. In diese Box hat er rigoros alles geworfen, was weder ihm noch mir oder Makkachin gehörte, sodass Yuri in den ersten Tagen seine Kleidung, Ladekabel und Blurays völlig durcheinander gewürfelt in dieser Box vorgefunden hat. Das sorgte anfangs für einige Diskussionen, aber mittlerweile hat auch Yurio erkannt, dass diese Box der sicherste Platz für seine Sachen ist und seit geraumer Zeit dürfen wir beide auch gar nicht mehr an sein Eigentum heran. Yurio hat seinem Namen auf dem Deckel nämlich ein „ONLY! Else you die!!!“ hinzugefügt und Viktor grinst jedes Mal triumphierend, wenn sein Blick auf die Box fällt.

Jetzt aber schlappt der kleine Chaosverursacher in Hausschuhen mit Tigerköpfen in die Küche, um seinem Opa zu helfen und es fasziniert mich zu sehen, dass Yurio schon seit der Autofahrt so entspannt und losgelöst scheint. Ich kann mich natürlich auch irren, aber just in dem Moment trifft mein Blick auf den von Otabek. Er hat scheinbar genau dasselbe gedacht und grinst verlegen, weil er weiß, dass es größtenteils sein Verdienst ist.
 

Das Abendessen ist deftig und salzig, wie ich das aus der russischen Küche mittlerweile gewohnt bin. Es gibt eine Suppe mit Einlage und Rindfleisch, Rassolnik, dazu hat Yurio selbst einige Piroszki gebacken und wir trinken Kompott. Ich glaube, das ist das russischste Essen, das ich bisher gegessen habe, aber es erinnert mich an Ramen und an Kyuushuu, sodass der kulinarische Unterschied plötzlich gar nicht mehr so groß scheint.

Nach dem Essen verziehen sich Otabek und Yurio auf die Couch und beginnen, Gran Tourismo auf der PS4 zu spielen. Ich helfe zuerst noch Großvater Nikolai, den Tisch abzuräumen und gebe mich dann damit zufrieden, den beiden Teenagern bei ihren Autorennen zuzuschauen. Otabek ist im Laufe des Abendessens immer gesprächiger geworden und so wie es aussieht, haben die Beiden bereits vergessen, dass ich auch noch da bin, so fixiert sind sie auf ihr Spiel. Gerade Yurio ist sehr emotional dabei und ich überlege, ob ich für Viktor nicht doch ein Foto machen sollte. Das wäre zwar ganz schön fies, aber auf der anderen Seite ist so ein Yurio eine absolute Seltenheit. Denn abgesehen davon, dass er gerade das Spiel beschimpft, weil er gegen Otabek in der dritten Runde in Folge verloren hat, sind heute Abend keinerlei Kraftausdrücke aus seinem Mund zu hören gewesen. Was mehr als beachtlich ist, wenn man bedenkt, dass er seinen Weltrekord an Viktor verloren hat. Aber ich würde den Teufel tun, ihn jetzt daran zu erinnern.
 

Zum Ende des Rostelecom Cups nimmt Viktor wie erwartet seinen zweiten Sieg mit nach Hause und steht damit auf der Rangliste für das Grand Prix-Finale aufgrund der höheren Gesamtpunktzahl von 321,75 Punkten vor Yurio auf dem ersten Platz. Als Dritter qualifiziert sich mit einem Sieg und einem zweiten Platz Jean-Jaques Leroy mit 28 Rangpunkten. Vierter unter den Finalisten ist aufgrund seines Sieges in Paris und dem dritten Platz in Amerika Christophe Giacometti. Das fünfte Ticket ist die einzige Überraschung in der Finalaufstellung und geht an Seung-Gil Lee, der in Moskau durch eine fehlerfreie Kür Michele Crispino hinter sich gelassen hat und erneut Zweiter wurde. Er schiebt sich dadurch mit einem Rangpunkt mehr vor Otabek Altin, der das letzte Finalticket behalten kann.

Und damit ist für mich dieser Grand Prix auf dem undankbarsten Platz von allen, dem siebten in der Gesamtwertung, zu Ende.

Trotzdem werde ich am 8. Dezember mit nach Wien in Österreich fliegen, um meine beiden wichtigsten Menschen durch das Finale zu begleiten und zu unterstützen. Einer von beiden wird gewinnen, da bin ich mir absolut sicher.


Nachwort zu diesem Kapitel:
[Yuuri, ich geh noch mal schnell mit Makkachin. / Ok, nimm aber die Jacke mit, es ist kalt. / Brauch' ich nicht, bin gleich wieder da. / Viktor, du sollst dich nicht erkälten. Zieh' deine Jacke an. / Schon gut, was immer du sagst <3]

Kapitel 13: Das Aus im Finale?!
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Sumino
2017-09-07T18:30:50+00:00 07.09.2017 20:30
Jetzt habe ich Bock auf polnisches essen XDD

Ne ernsthaft richtig Sweet das Viktor nach seinen Sieg nur noch zu yuri willte
Von:  --lina--
2017-09-07T17:53:13+00:00 07.09.2017 19:53
Kyaaaaa~ Mein Fanherz!! Und in meinem Kopf geht der Abend weiter xD
Sooo ein tolles Kapitel und all' diese Liebe! Nur schade, dass es für Yūri nicht gereicht hat ;;
Der Vergleich mit den Tetris Blöcken (Tetrominos) ist btw super ulkig ^^
Liebe an dich!!

Antwort von:  Flokati
07.09.2017 19:56
Danke Liebes und viel Spaß bei deinem Kopfkino ;D
Ich hab grad nen Ohrwurm von der Tetrismusik XD
Antwort von:  --lina--
08.09.2017 09:17
Na toll, du hast mich angesteckt x'D
Und das Kopfkino war wunderbar ;)


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