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2nd Season: Russian Diaries

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser,
Erst einmal vielen Dank, dass ihr Jelena so herzlich angenommen habt!
Ich möchte an dieser Stelle eine kleine Anmerkung bezüglich der Altersverhältnisse hinterherschieben:
Jelena ist 59 Jahre alt, Viktors Mutter 68 Jahre alt :)
Flokki Komplett anzeigen

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Finde deine Geschichte – Die neue Programme!

Als Viktor mit Makkachin wieder zu uns nach oben kommt, hat mir Frau Praslova etwa die Hälfte ihrer Fotovitrine gezeigt und mir viele weitere Anekdoten aus Viktors Leben erzählt. Meine Sorgen waren völlig unbegründet, da Viktor nicht nur in seinem Trainer, sondern auch in Frau Praslova genau die Stütze gefunden hat, die er braucht. Frau Praslova war, seit er nach St. Petersburg kam, die Schneiderin seiner Kostüme, bald die beste Freundin und schließlich eine unersetzliche Bezugsperson. Wenn niemand Zeit für ihn gehabt hat, konnte er immer zu ihr in das Zimmer kommen, das sie eigens für ihn zur Verfügung gestellt hatte und das er später sogar dauerhaft bewohnt hat. Sie war, wenn es ihre Geschäftstätigkeit erlaubte, bei jedem Wettkampf mit dabei; kümmerte sich, wenn er krank war und half ihm bei Wohnungssuche und Umzügen. Auch als Viktor seine fünf Jahre lang anhaltende Siegesserie in den Eislaufstadien der Welt startete, war Frau Praslova immer im Hintergrund mit dabei, indem sie auf Makkachin Acht gab oder all diese Dinge tat, die jede Mutter für ihren Sohn getan hätte und wenn ich nicht wüsste, dass die Beiden nicht blutsverwandt sind, so hätte ich es ab heute geglaubt. Beim Abschied versichert mir Frau Praslova noch, sie jederzeit um Hilfe bitten zu können und ich bin unglaublich dankbar, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.
 

Am nächsten Morgen gehen wir zum ersten Mal zusammen in die Eissporthalle und am Nachmittag werden wir mich in einem Sprachkurs für Russisch einschreiben. Beflügelt von dem herzlichen Treffen mit Frau Praslova steht mir ein kindlicher Enthusiasmus ins Gesicht geschrieben und Viktor freut sich nicht minder darüber, dass ich mich soweit in meinem neuen Umfeld gut aufgenommen fühle und keine all zu großen Bedenken habe, weitere Teile davon kennenzulernen. Dass ich mich nicht wohlfühlen könnte, muss ihn wirklich beschäftigt haben, dabei ist es nicht das erste Mal, dass ich ins Ausland gezogen bin.

Meine Vermutung, dass das große Gebäude hinter den Bäumen die Eissporthalle ist, bewahrheitet sich tatsächlich. Allerdings liegt sie weiter entfernt, als ich es zunächst angenommen hatte. Viktor lässt mich wissen, dass er den Weg gerne joggt, um sich in der Halle nicht mehr allzu lange aufwärmen zu müssen. Sollte der Unterrichtplan es zulassen, würden wir dies ab sofort gemeinsam tun.

Im Gegensatz zur Eishalle in Hasetsu, die eigentlich vorrangig für Besucher gedacht ist, ist diese Halle einzig auf den Zweck ausgelegt, Profisportlern eine Trainingsmöglichkeit zu bieten. Hier trainieren Eiskunstläufer, Eishockeyspieler, Eisschnellläufer, teilweise auch Curlingspieler und das durch alle Altersgruppen hinweg. Die Halle beschäftigt acht verschiedene Trainer und um die fünfzehn weitere Angestellte, die dafür sorgen, dass die Sportler versorgt sind. Wer möchte, kann hier sogar in einer kleinen Kantine essen und Umkleiden sind nach Sportarten oder sogar Teams getrennt. Viktor führt mich herum und ich versuche mir alles im Kopf zu behalten, was er mir erklärt, aber gleichzeitig kriecht doch ein bisschen Nervosität in meine Glieder, weil ich merke, dass nicht nur die Umgebung für mich neu ist, sondern dass auch ich neu in dieser Umgebung bin. Schon nach einigen Minuten spüre ich die neugierigen Blicke des Hallenpersonals im Rücken und gerade weil ich noch kein Russisch verstehe, habe ich ständig den Eindruck, als würden sie über mich reden. Sicherlich wäre meine Anwesenheit hier nur halb so spektakulär, wenn es nicht Viktor wäre, der mich hierher gebracht hat.

Bevor wir in die eigentliche Halle gehen, betreten Viktor und ich kleines Sekretariat, das wie ich später erfahre, das Verwaltungsbüro der Eishalle ist. Ein etwas hagerer, älterer Mann begrüßt uns und wechselt ein paar Worte mit Viktor und verschwindet dann in einem Nebenraum.

„Er holt deine Schlüsselkarte und deinen Ausweis“, sagt Viktor und sieht zu mir. „Mit der Schlüsselkarte kommst du jederzeit in die Halle rein. Den Ausweis solltest du auch immer dabei haben, wenn du hier bist. Das hier ist keine öffentliche, sondern eine private Halle. Okay?“

„Ja.“

„Bist du nervös?“

„Ein bisschen.“ Ein bisschen viel sogar.

„Brauchst du nicht zu sein.“

„Ja...“

Viktor nimmt meine Hand.

„Ich bin auch nervös“, gesteht er mit einem niedlichen Lächeln, „aber wir sind zusammen hier. Und ich bin froh darüber.“

Bevor ich ihm antworten kann, ist der Sekretär zurück und Viktor bleibt nur mein dankbar gemeinter Händedruck dafür, dass er bei mir ist.
 

Nach einigen weiteren Tagen in St. Petersburg stellt sich langsam ein neuer Alltag bei uns ein.

Die Wohnung, die Abläufe und die Stadt werden mir vertraut und meine Angst vor dem Training mit allen russischen Läufern zusammen hat sich, wie alle anderen Ängste und Sorgen zuvor, als genauso unbegründet erwiesen. Die rothaarige Mila, die ich vorher bereits bei einigen Wettkämpfen gesehen habe, ist eine sehr offenherzige Person, die auch durchaus sehr direkt sein kann, aber immer ehrlich und freundlich mit mir umgeht. An Yurio scheint sie einen Narren gefressen zu haben, denn sie beobachtet ihn ständig und ist oft in seiner Nähe. Yurio ist davon leider gar nicht so angetan, denn er ist am Liebsten für sich und wenn überhaupt, dann drückt er sich in meiner Nähe herum.

Mit Georgi habe ich noch nicht so viel gesprochen. Er ist irgendwie ein Eigenbrötler, aber er hat, wie mir Mila sofort am ersten Tag in der Halle berichtete, eine neue Freundin. Ich wusste zwar nicht, dass er eine Freundin gesucht hat, aber wenn dem so ist, Glückwunsch. Jedenfalls hängt er jede freie Minute am Handy, um seiner Angebeteten Nachrichten zu schicken und Mila und ihre Kollegin Ekaterina amüsieren sich prächtig darüber. Übertroffen werden die Frauen nur noch von Viktor, der aus heiterem Himmel begonnen hat, Geschichten über Georgi auszupacken, dass uns die Ohren schlackern. Er muss Viktor gegenüber besonders in seiner Jugend wohl sehr redselig gewesen sein, was Präferenzen und Praktiken angeht, sodass wir vor lauter irrationaler Faszination über diese Geschichten oftmals vergessen, dass Georgi wirklich anwesend ist. Wir erschrecken uns deswegen jedes Mal, wenn er doch unerwartet in ein Gespräch einsteigt und ich bete einfach, dass er niemals, niemals, niemals auch nur einen Satz von dem aufgeschnappt, was Viktor uns da erzählt. Würde mir das passieren, müsste ich glaube ich vor Peinlichkeit sterben...

Was das Training angeht, ist Georgi überraschenderweise so ziemlich der Einzige, der auf Herr Feltsman hört, ohne Widerworte zu geben. Alle anderen tun das mehr oder minder, am wenigsten Viktor und ich wundere mich, wie das überhaupt funktionieren kann, jemanden zu trainieren, dem jede Anweisung links rein und rechts wieder rausgeht. Dass Herr Feltsman überhaupt die Geduld dazu hat ist erstaunlich, denn wenn Yurio oder Mila nicht spuren, ist er meist gleich auf 180. Oder aber er hat bei Viktor einfach schon lange vorher aufgegeben und lässt ihn einfach machen. Viktor ist mit sich selbst streng genug und falls er befindet, dass sein Trainer Recht hat, dann kann man beobachten, wie diese Dinge einfach schleichend integriert werden. Leise, unauffällig; Hauptsache, Viktor kann das für sich entscheiden. So, wie Frau Praslova es mir beschrieben hat.
 

Mit dem Ende der Saison Anfang April kehrt mehr Ruhe in die Eishalle ein. Dafür ist bei meinen Eltern in Japan ganz schön was los, denn wir wurden genötigt, zur Kirschblüte zurück nach Hasetsu zu kommen. Zuerst wollten wir nur zu zweit fliegen. Dann hat sich Yurio selbst eingeladen und uns im selben Atemzug eröffnet, dass er Otabek auch mitbringen will. Von der Aussicht, dass Viktor, Yurio, Otabek und ich in Hasetsu sein würden, haben Yukos Drillinge Axel, Lutz und Loop sofort ihre Chance gewittert und uns vorgeschlagen, „Onsen on Ice“ als Abschlussevent der Hallensaison in Japan zu wiederholen. Viktor, der bis jetzt noch gar nicht wieder bei einem Wettkampf mit dabei war und für solche Aktionen immer zu haben ist, ist natürlich sofort drauf eingegangen und jetzt hat sich das mit einem romantischen Kurztrip zur Kirschblüte erledigt, denn mit der kleinen „Onsen on Ice“-Show vom letzten Jahr hat die kommende Aktion nichts mehr gemeinsam. Georgi, Ekaterina und Mila fanden die Idee nicht weniger aufregend, sodass das gesamte russische Team nach Hasetsu fliegt. Immerhin, denke ich, so lange die Chaostruppe in Japan ist, würde Herr Feltsman ein paar Tage Ruhe haben können.

Außerdem kommen noch Chris, Phichit und - als Reaktion auf Phichits Instagram-Post - auch Seung-Gil Lee (und keiner weiß warum). Ich glaube, ich kriege die Krise. Es versammeln sich mehr als zehn Weltklasse-Eiskunstläufer in der kleinsten Eishalle weit und breit in Japan zu einem inoffiziellen Showevent und die ganze Stadt steht Kopf. Das kann ja was werden...
 

Bei unserer Rückkehr nach St. Petersburg eine Woche später frage ich mich, ob ich nur geträumt habe und dieses ganze Drama einfach nie passiert ist. Ich hätte mir niemals ausgemalt, dass ein einfacher Versprecher Viktor so zusetzen könnte und ihn so eifersüchtig machen würde... Er war betrunken, ok. Es ist auch nicht das erste Mal, dass wir zusammen etwas über den Durst getrunken haben und ich weiß, dass er sehr anhänglich wird, wenn er getrunken hat und viel Aufmerksamkeit verlangt. Aber dass ihm die Vorstellung einer Ex-Freundin in den Kopf hüpft, mit der ich keine Ahnung welche Kamasutra-Stellungen vollführt haben soll, die aber nie existiert hat... Ach, Viktor. Das war genau das, was ich mir nach der Katerkotzerei am Morgen vorgestellt habe. Meinen Verlobten nackt und völlig aufgebracht auf der Schlossmauer(*) des Hasetsu Castle vorzufinden...

Nachdem wir Viktor von der Mauer unten und ihn zu meinen Eltern zurückgebracht hatte, haben wir ihn ins Bett gesteckt und schlafen lassen. Alle anderen habe ich angehalten, von der Aktion nichts zu erwähnen, bis das Showevent vorbei wäre. Yurio hat es zwar unheimlich in den Fingern gejuckt, aber Otabek hat ihm glücklicherweise Einhalt geboten und ich bin dem Kasachen noch bis heute dankbar dafür. Die Sticheleien jedoch, nachdem das Event vorbei war, konnte ich Viktor nicht ersparen und ich habe das Gefühl, dass ihn diese Sache bis an sein Lebensende verfolgen wird. Allerdings haben alle außer Yurio letztendlich Gnade vor Recht ergehen lassen, weil es Viktor anzusehen war, wie peinlich ihm die Aktion war.

Bisher dachte ich auch eigentlich, dass ihm nichts peinlich werden könnte, aber das ist ihm überaus unangenehm gewesen. Nicht, weil er nackt irgendwo herumgeturnt ist. In dieser Hinsicht ist sein Schamgefühl quasi nicht vorhanden. Viel mehr war es ihm unangenehm, weil er mich dazu genötigt hat, mich zu ihm auf die Mauer zu setzen und ich es auch noch gemacht habe. Zum Einen, weil er weiß, dass ich keine Ex-Freundin habe und zum Anderen, weil er findet, ich hätte das nicht für ihn tun müssen.

Glücklicherweise sind im Nachhinein keine Fotos von Viktor auf der Mauer aufgetaucht und es blieb nur bei Gerede über diese reichlich unrühmliche Aktion, sodass Herr Feltsman davon verschont bleiben wird, ganz Russland zu erklären, warum Viktor nackt auf einem öffentlichen Gebäude versucht, einen Fisch zu herauszufordern...
 

Ab Mai beginnt mein Sprachunterricht in Russisch, fünf Tage die Woche, immer vormittags, und auch wenn ich die Schrift schon beherrsche, ist die Aussprache eine Katastrophe und die Grammatik sowieso. Ich habe zwar immer wieder mal ein bisschen mit den Sprachführern geübt, die ich mir aus Japan mitgebracht habe, aber außer ein paar einzelnen Worten ist noch kein vollständiger Satz aus mir herausgekommen.

Viktor beschäftigt sich seit ein paar Tagen mit den Programmen für die nächste Saison und tut dies meist alleine in seinem Arbeitszimmer, sodass ich die Gelegenheit zum Lernen nutze, aber dann verbringe ich die Zeit doch damit zu spekulieren, welche Ideen in seinem Kopf herum kreisen. Ich frage mich auch, ob er die Programminhalte erarbeitet oder ob sie ihm einfach so zufliegen. Wenn ich mir jetzt etwas aussuchen müsste, wüsste ich erst mal gar nicht, wo ich anfangen soll. Viktor kann aus einer Schüssel Reis ein aufregendes Programm schreiben und mir fällt es so schwer, überhaupt nur einen Ansatz zu finden...

Ob er überrascht wäre, wenn ich mich diesmal ganz alleine für etwas entscheiden könnte? Bestimmt. Aber dazu müsste ich eine Idee haben. Das Thema Liebe ist jetzt durch... Wenn es nach seinen Vorstellungen ginge, müsste es etwas sein, das keiner erwarten würde. Aber ich kann ja auch nicht immer die Dinge so angehen wie er, ich müsste wenn dann schon von selbst drauf kommen...

Mein Blick fällt wieder auf die Lehrbücher vor mir, dann schaue ich hinüber zum Sofa, über dessen Lehne Makkachin seinen Kopf hängen lässt. Er schaut mich ganz schön vorwurfsvoll an.

Ist ja schon gut, denke ich und widme mich wieder den russischen Vokabeln.
 

„Wie ich anfange?“ Viktor blickt mit großen Augen über den Rand der Kaffeetasse zu mir, als wir am Folgetag beim Frühstück sitzen. Der Gedanke, mir mein Thema alleine auszusuchen, lässt mich nicht mehr los und ich habe mich entschieden, Viktor einfach zu fragen, wie er anfängt. Er ist mein Trainer und wir sollten darüber reden können. Ich will es diesmal alleine schaffen und für mich selbst entscheiden. Ich brauche nur etwas Starthilfe.

„Ja, also was suchst du zuerst? Die Musik, das Thema, die choreografischen Elemente... womit fängst du an?“, frage ich.

Er schaut mich immer noch mit dem gleichen fragenden Blick an.

„Du arbeitest doch gerade an deinen Programmen, oder?“

„Ja...“

„Und was hast du zuerst ausgesucht?“, wiederhole ich bestimmter und schaue ihm direkt in die Augen.

Viktor setzt die Kaffeetasse ab, aber sein Blick bleibt gleich. Dann zuckt er mit den Schultern und sagt: „Ich weiß es nicht.“

„Eh?“

„Ich denke nicht darüber nach“, antwortet er ehrlich. „Es ist Intuition. Wenn die Idee da ist, ist sie da. Ich setze mich nicht hin und überlege zwanghaft, was ich machen könnte. Es kommt von selbst.“

Das ist dann wohl der Nachteil, sich mit einem Genie zu unterhalten...

„Bist du denn schon fertig?“, frage ich neugierig.

„So gut wie.“ Er trinkt einen Schluck von seinem Kaffee. „Willst du deine neuen Programme alleine aussuchen?“

„Ich will es versuchen.“

Viktors Augen beginnen zu leuchten. „Wow, ich bin gespannt. Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid.“

„... Viktor, ich habe dich eben gefragt.“

„Oh wow.“ (° v °);

Ich muss unwillkürlich lachen. „Ist schon ok, ich weiß, dass du die Dinge anders angehst als die normalen Leute.“

„Jetzt bist du gemein, Yuuri.“

„Du weißt, wie ich das meine“, sage ich ihm sanft, aber bestimmt. „Du hast ein Gespür dafür und ich tu' mir schon schwer, überhaupt einen Ansatz zu finden.“

Dann wird sein Blick ernster. „Was fühlst du?“

„Eh?“

„Was fühlst du?“, wiederholt er. „Wenn du daran denkst, ein eigenes Programm zu machen, was fühlst du?“

„Äh, Planlosigkeit?“

„Yuuri...!“

Wir schweigen und starren unsere Kaffeetassen an. Dann richtet Viktor noch einmal das Wort an mich:

„Ich kann dir das leider nicht gut erklären, aber denk nicht über das Was im Programm nach, denk über das Was in dir selbst nach. Wenn es dort etwas gibt, das gesehen werden möchte, dann kommt es von alleine, wenn du es lässt.“
 

Wir verabschieden uns an der Haustüre und Viktor geht zu seinem Training und ich in den Unterricht. Während ich mit der U-Bahn durch die Stadt fahre, denke ich über das nach, was beim Frühstück zu mir gesagt hat. Er hat schon Recht. Da ist etwas, aber ich kann es nicht greifen. Es hat noch keine Form, keinen Klang, keinen Charakter, aber es ist deutlich da. Was muss ich tun, um dessen habhaft zu werden? Yurio ist auch nicht gerade der Überflieger an Ideen, aber er hat im Gegensatz zu mir keine Probleme damit, Entscheidungen zu treffen. Vielleicht könnte ich mich mit ihm unterhalten, denn soweit ich weiß, hat er auch noch kein neues Programm bekommen. Lilia soll wohl wieder mit von der Partie sein, aber sicher habe ich das weder von Yurio, noch von Herr Feltsman gehört. Nur Mila hat wieder getratscht.

Zurück in der Eishalle am späten Nachmittag beginne ich in einer kurzen Pause ein Gespräch mit Yurio.

„Wie man sich für eine Programmidee entscheidet?“, wiederholt er meine Frage.

„Ja. Hast du dir schon was überlegt?“

„Nein, was interessiert's auch. Wichtig ist doch nur, dass man damit gewinnen kann. Der Inhalt ist erstmal schnuppe. Man muss es einfach nur richtig machen.“

Da hat er nicht Unrecht. Ein schwaches Programm wird wohl kaum zum Sieg führen und ich stelle fest, dass ich da auch von alleine hätte drauf kommen können. Yurio sieht mich neugierig an.

„Warum fragst du nicht deinen Trainer?“

„Ich will diesmal ohne seine Hilfestellung entscheiden.“

„Tz“, wendet er sich ab. „Viktor würde dir helfen, aber du bist der einzige Idiot auf der ganzen Welt, der das freiwillig ablehnt. So viel Sturheit ist schon dämlich, Katsudon.“

Ich seufze. Auch da hat er nicht ganz Unrecht.
 

Yurio kommt am Abend spontan mit zu uns und wird bei uns übernachten. Herr Feltsman und Lilia Baranovskaya sind terminlich in Moskau und Viktor hat laut Yurio angeblich die bessere Internetverbindung, denn die bei Herr Feltsman wäre genauso steinalt wie der russische Trainer selbst. Wir vermuten jedoch, dass er einfach keine Lust hat, alleine zu bleiben und es nicht zugeben will. Teenager eben.

Nach dem Essen überlassen wir ihm und Makkachin das Sofa und ich beginne mit meinen Aufgaben in Russisch. Meine Blicke verweilen mal bei Yurios Film (soviel zum Thema Internet), mal bei Viktor in der Küche und dann wieder im Leeren. Irgendwie fehlt es an Konzentration. Nachdem Viktor die letzten Teller in die Schränke geräumt hat, setzt er sich zu mir.

„Kommst du voran?“

„Naja, es geht. Willst du nachschauen?“

„Ich meine mit deiner Ideensuche“, sagt er und streicht mir einige Haare aus der Stirn. „Wenn du dir verinnerlichst, was dich ausmacht, weißt du, nach welcher Musik du suchen musst.“

Dann legt er den Kopf auf meine Schulter. „Oder was du am besten kannst. Deine Schritte sind akkurat, deine Pirouetten haben eine perfekte Balance. Was sagt das über die Musik aus, die du brauchst?“

„Dass sie Rhythmus haben sollte?“

„Genau. Was noch?“ Viktor umarmt mich.

Ich überlege und beginne, Viktors Rücken zu streicheln.

„Legato Elemente, die die Spins unterstützen...“

„Weiter, Yuuri“, schnurrt er.

Mein Blick wandert über Viktors Kopf zu Yurio, der mit dem Rücken zu uns sitzt und vollkommen in seinem Film abgetaucht ist. Phichit hatte eine Musik aus einem Film gewählt... die Zuschauer hatten den Film und die Musik gekannt und sind direkt bei seiner Performace gewesen. Guang-Hong, Emile, Michele; sie alle hatten Musikstücke aus Filmen genommen. Ob das ein Ansatzpunkt wäre? Gibt es einen Film, den ich besonders mag? Der eine prägnante, eingängige Musik hat?

Mir fällt nichts ein.

Aber für einen kurzen Moment ist dieses flüchtige Etwas in mir ein Stückchen näher gewesen.
 


 

In den folgenden Tagen gibt Viktor mir immer wieder Hilfestellungen, aber ich komme zu keinem Ergebnis. Immer wenn ich glaube, die Lösung zu gefunden haben, dauert es nur ein paar Stunden, bis ich Zweifel bekomme, warum genau das es nicht sein kann. Je mehr Misserfolge ich anhäufe, desto mehr komme ich zu der Erkenntnis, dass weder die Musik das Problem ist, noch die Tatsache, dass ich keinen Anhaltspunkt finde. Das größte Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich will.

Ich liege in unserem Bett und starre an die Decke. Es ist noch viel zu früh am Morgen und ich bin wach geworden, weil Makkachin sich auf meine Füße gelegt hat, aber meine Gedanken drehen sich schon wieder um dieses ungewisse Etwas, das ich nicht greifen kann. Viktor hatte die Idee zu seinem Thema schon nach dem letzten Grand Prix Finale im Kopf und ich bin gedanklich immer noch in meiner ‚letzten‘ Saison stecken geblieben. Es bräuchte einen neuen Anfang, damit ich endlich nach vorne komme...

Wenn ich so darüber nachdenke, haben viele Dinge neu angefangen. Mein ganzes Leben mit Viktor hier in St. Petersburg hat neu angefangen. Unwillentlich lache ich mich bei dem Gedanken schon wieder selbst aus. Ich hatte geglaubt, nach dem Grand Prix wäre alles vorbei. Und jetzt sind wir seit fast einem halben Jahr verlobt und wohnen zusammen. Es würde also erst einmal gar kein Ende in Sicht sein. Die Geschichte würde weitergehen.

Es läuft mir unerwartet und plötzlich eiskalt den Rücken hinunter.

Ich schlucke. Was war das...? Ich habe überall Gänsehaut.
 

„Es ist egal, was du machst, solange du’s nur richtig machst.“
 

Kann ich das wirklich...? Es kribbelt überall.
 

„Ich hatte den Eindruck, dein Körper tanzt die Musik, Yuuri.“
 

Oh Gott... ich glaub es nicht.

„Viktor...!“

„...was yu-i?“

Ich drehe mich aufgeregt zu ihm: „Ich hab's!“
 

Ein paar Tage später besuchen wir Frau Praslova. Als Viktor ihr am Telefon erklärte, dass unsere Themen für die kommende Saison entschieden sind, hat sie uns direkt zu sich eingeladen, um darüber zu sprechen. Kaum dass wir bei ihr am Tisch sitzen und mit selbstgemachten Bliny und Marmelade versorgt worden sind, bringt sie unser Gespräch auch ohne Umschweife auf die Programminhalte zu sprechen. Sie wirkt unglaublich aufgeregt und neugierig.

„Also meine Lieben, was sind eure Themen?“

„Yuuris Thema wird das ‚Geschichten erzählen‘ sein“, erklärt Viktor zufrieden.

„Oha. Dann stellt er einen Poeten oder Dichter dar?“, fragt Frau Praslova und Viktor nickt. Sie dreht sich zu mir und schenkt mir ein anerkennendes Lächeln.

„Genaugenommen den Erzähler auf der Suche nach der Geschichte“, erläutert Viktor weiter und zwinkert mir zu. „Yuuri kann auf sehr natürliche Art und Weise Musik und Choreografie perfekt in seiner Performance vereinen. Das macht seine Läufe so besonders und die Idee liefert ihm alle Möglichkeiten, genau das anzuwenden und auszuschöpfen.“

Ich nicke etwas verlegen, aber ich fühle mich wirklich wohl mit meinem Thema und dass Viktor sofort davon überzeugt war, macht mich schon ein bisschen stolz. Wir haben noch am selben Tag bis spät in die Nacht diskutiert und Ideen gesammelt. Viktor hat auch schnell die passende Musik dazu gefunden und schon gestern hatte er die Choreografie fertig.

„Das klingt sehr vielversprechend“, Frau Praslova zwinkert mir ebenfalls zu. Dann wendet sie sich wieder an Viktor. „Und was steht für dich auf dem Plan? Bestimmt wieder ein sehr unerwartetes Thema.“

Viktor lacht. „Mein Motto, weißt du ja. Deswegen wird mein Thema der ‚Tod‘ sein.“

„Der Tod?!“ platzen Frau Praslova und ich gleichzeitig heraus; sie auf Russisch, ich auf Englisch.

Viktor will den Tod darstellen?! Sofort wird mir unwohl bei dem Gedanken. Von unseren entsetzen Gesichtern ziemlich irritiert, merkt Viktor, dass es einer Klärung bedarf und spricht weiter: „Ganz ruhig, ich hab nicht vor zu sterben und es geht viel mehr um einen bildhaften Tod. Jeder wird erwarten, dass ich nach einem Jahr Pause mit einem Riesenknall zurückkomme und Stärke demonstriere. Wenn ich also überraschen will, dann muss ich-“

„Willst du Yuuri quälen?!“, ruft Frau Praslova. „Ja, es passt zu deinem Motto, ich versteh’ das schon. Das Publikum will einen starken Viktor, du zeigst ihnen einen toten Viktor. Aber bei deinem Talent wird es sich so echt anfühlen, dass du für Yuuri eine ganze Saison lang auf dem Eis tot bist oder was auch immer! Er ist dein zukünftiger Ehemann, ihr wollt heiraten! Hast du daran mal gedacht?“

Viktors Gesicht wird ernst. „Ja, habe ich.“

„Warum dann?“, fragt sie aufgebracht.

„Wenn Yuuri das nicht will, soll er es ändern.“

„Was soll Yuuri daran ändern können, dass du den Tod darstellen willst?“, Frau Praslova schaut mit hilflosem Blick zu mir. Ich habe kaum zugehört, so durcheinander bin ich von der Ankündigung von Viktors Thema.

„Nichts“, antwortet Viktor und sein Ton hat etwas Endgültiges an sich, aber er lächelt. „Beruhige dich, Jelena. Es ist nur ein Programm. Aber mein Thema steht fest.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
[Wenn Viktor im Fernsehen auftritt, machen wir uns einen schönen Abend zu zweit, nicht, Yuuri? Was möchtest du essen? / Machen Sie sich keine Umstände, bitte. / Ach was, für dich gerne, mein Lieber. / Was ist das für ein zerissenes Foto? / Oh... / Oi Alter, let it gooooo~]

6. Kapitel: Eiskönig oder Eiskönigin? – Yuuri’s Chihoko?! Michal Chateau!



(*) Im Original sitzen sie auf dem Dach. Aber es wäre ein ziemlich dämlich konstruiertes Ninja-Schloss, wenn man betrunken noch bis aufs Dach klettern könnte, oder? ;P Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  --lina--
2017-08-01T18:53:01+00:00 01.08.2017 20:53
Du schaffst es mich jedes Kapitel zu fesseln. Ich hab Tränen gelacht, einige Stellen sind einfach zu gut und Jelena ist absolute Liebe!
Die Themen sind umwerfend und ich bin so gespannt, sie werden sicher so emotional ;;
Ich freue mich trotzdem.
Danke für das schöne Kapitel ❤️❤️❤️
Antwort von:  Flokati
01.08.2017 20:57
Vielen lieben Dank <3
Von:  Sumino
2017-07-31T21:04:24+00:00 31.07.2017 23:04
OMG ich habe jetzt die Vermutung das yuri ein neues Thema für Viktor suchen soll *-*
Antwort von:  Flokati
31.07.2017 23:27
Danke für deinen Kommi!
Lass' dich überraschen ^^
Von:  Remi-cookie
2017-07-31T20:42:54+00:00 31.07.2017 22:42
Achtung Achtung hier spricht eine Yuri on Ice- Liebhaberin.
Sehr geehrte Damen und Herren wir befinden uns im Skatezug "Viktor x Yuri" in Richtung Tod nein natürlich nicht sondern wur werden fliegen in unsere Träume ahhh.
ok genug Gefühlsdusselei Deine Geschichte ist sooo Toll und weiter so <3
Ihnen hat Remi cookie begleitet eine schöne Weiterreise ins Ungewisse.
Ende der Durchsage
Antwort von:  Flokati
31.07.2017 23:22
Vielen lieben Dank für deinen Kommi! :D
Ich hoffe, du bleibst bis zur Endstation in diesem Skatezug!


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