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Wege des Schattens

von

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Als ich die Augen aufschlug, war es draußen bereits tiefste Nacht. Ich drehte meinen Kopf nach rechts zum Fenster, durch welches ich die schmale Mondsichel erkennen konnte. Drum herum prangten die Sternen in unerreichbarer Ferne; funkelten wie kostbare Schätze. Es gab viele Geschichten über die Sterne, über ihre Herkunft und ihre Bedeutung. Meine Mutter hatte mir früher mal erzählt, dass viele sie für die Seelen verstorbener Menschen hielten. Wieder andere glaubten, dass es unsere Schutzengel seien. Doch ich war von solchem Humbug nicht überzeugt. In Wirklichkeit waren Sterne Feuerkugeln, die schon vor ewiger Zeit verglüht sind. Die Welt ist weit weniger von fantastischen Dingen gespickt, als die Menschen es wahrhaben wollen.

Jedenfalls glaubte ich das, bis ich diesen Stein fand. Ich fragte mich, welches Geheimnis hinter ihm steckte. Und ob ich es jemals entschlüsseln könnte.

Mein Blick wanderte zum ersten Mal durch den Raum, in dem ich mich befand. Es war mehr als offensichtlich das Krankenzimmer meiner Schule. Das wusste ich so genau, weil ich mich dort schon oft mit vorgetäuschten Bauchschmerzen vom Unterricht habe befreien lassen. Ich selbst lag in dem einzigen Bett, zugedeckt mit einer dünnen, weißen Decke. Als ich sie etwas zurückschlug, stellte ich fest, dass ich noch immer meine Straßenkleidung trug. Instinktiv griff ich in meine Hosentasche, um festzustellen, dass sich dort lediglich ein Loch befand. Ich musste zugeben, eigentlich hatte ich dort mein Juwel erwartet. Auf dem Nachttisch entdeckte ich außer meinem MP3-Player nur ein Glas und eine Flasche Wasser. Ich schaute zu meiner Linken und erschrak ein wenig, als ich auf einem Stuhl jemanden sitzen sah. Wegen des dunklen Mondlichts war es schwierig, Genaueres zu erkennen, aber ich war mir sicher, dass es sich um Alesia handelte. Ihr Kopf war nach vorn gekippt und es schien so, als wäre sie unfreiwillig vor Erschöpfung eingeschlafen. Ich musste unweigerlich ein wenig lächeln. Wann war das letzte Mal, dass ich gelächelt habe?

Ich richtete mich auf und beobachtete meine schlafende Freundin für einen kurzen Augenblick. Sie sah hübsch aus, wie sie da schlief. Dann streckte ich meine Hand nach ihr aus, zögerte kurz bevor ich ihre Schulter berührte, und schüttelte sie anschließend sanft. „Hey, Alesia. Wach auf.“ Ihr Körper zuckte unter den Worten zusammen, als hätte ich sie mit einer Nadel gepikst. Sie gähnte und rieb sich dann ungläubig die Augen. „Levin…? Bist du wach?“

„Ja“, antwortete ich. Daraufhin wurden ihre Augen immer größer und plötzlich lag sie mir weinend um den Hals. „Man, Levin! Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Überrascht und unschlüssig darüber, was ich tun sollte, strich ich ihr mit der Hand über den Rücken. Nach ein oder zwei Minuten ließ sie ein wenig von mir ab und ich konnte ihr tränenüberströmtes Gesicht sehen. „Hey, wein doch nicht. Was ist los?“

„Du warst zwei Tage lang nicht bei Bewusstsein. Nichts konnte dich aufwecken. Keiner wusste, was auf einmal mit dir los war.“ Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Für mich hatte es sich so angefühlt, als hätte ich nur tief geschlafen.

„Wo ist der Stein?“, fragte ich sie. Die eine Frage, die mir schon die ganze Zeit auf dem Herzen lag.

„Was für ein Stein?“

„Na, so ein auf den ersten Blick unscheinbarer Stein, der an der Seite grün glänzt wie ein Edelstein.“

„Ich hab nichts dergleichen bei dir gesehen, tut mir Leid.“ Alesia wischte sich die Tränen aus den Augen und schniefte einmal laut. Sie sah so unglaublich müde aus. „Es war so schrecklich. Als du gesagt hast, dass du nur kurz raus willst, wusste ich gleich, dass etwas nicht stimmt. Du warst immer noch nicht zurück, als der Unterricht angefangen hat, also bin ich nach draußen gegangen, um nach dir zu schauen. Und da standst du, mitten auf dem Schulhof, und hast hysterisch geschrien, dass dich keiner anfassen solle. Aber da war niemand außer dir. Ich bin zu dir gerannt, aber als ich dich erreichte, wurdest du bewusstlos.“

Ich schluckte. Ich erinnerte mich noch schwammig an diesen Augenblick. Da waren merkwürdige Kinder um mich herum versammelt und sie jagten mir eine Heidenangst ein. Doch anstatt davon zu erzählen schwieg ich, um Alesia nicht noch mehr zu beunruhigen. Ich bot ihr an, ebenfalls im Bett zu schlafen und rückte an den Rand, damit genug Platz für uns beide war. Sie nahm den Vorschlag dankbar an und es dauerte nicht lange, da war sie in einen tiefen, friedlichen Schlaf gefallen. Ich selbst konnte nicht so einfach einschlafen. Ich nahm mir meinen MP3-Player vom Nachttisch, stöpselte mir die Kopfhörer ins Ohr und drückte auf Zufallswiedergabe. Der Gesang des Liedes berührte mich in diesem Moment so sehr wie nie zuvor, dass es mir eine Gänsehaut einjagte. Wake me up. I can’t wake up. Save me from the nothing I’ve become.

Alesia hatte mich aufgeweckt. Ich war erwacht aus dem Albtraum, in dem ich tagelang gelegen hatte. Ich sehnte mich nach meinem Juwel, doch ich spürte, dass es für immer verschwunden war. So plötzlich, wie es erschienen war, an jenem Tag. In mir fühlte ich die Leere, die schon immer dagewesen war und die nur zeitweise gefüllt wurde. Sie fühlte sich richtig an. Noch nie zuvor habe ich mich so lebendig gefühlt. Diese Leere war ein Teil von mir und nun wusste ich, dass es gut so war. Ich hatte mir so oft eingeredet, wie glücklich ich war, dass ich es irgendwann sogar geglaubt habe. Doch Glück ist mehr als das. Glück ist nicht bloß ein Gefühlszustand, in den wir uns versetzen konnten, indem wir bestimmte Situationen für uns schafften. Glück ist ein Bestandteil unseres Lebens und unseres Geistes, aber kein fester, sondern ein wechselhafter. Wir sollten uns glücklich schätzen, wenn es uns einen Besuch abstattet, und voller Vorfreude darauf warten, dass es dies wieder tut. Letztendlich ist derjenige glücklich, der ein Blatt sieht und lächeln kann.
 

-:¦:-
 

Ich war es, der den Menschen damals aus einer Laune heraus die Seelen genommen hat. Doch ich hatte zu jener Zeit nicht damit gerechnet, dass meine Tat solche Auswirkungen haben würde. Als ich bemerkte, wie anders sich die Menschen auf einmal verhielten, sah ich keinen Anlass mehr darin, ihnen die Seelen zurück zu geben. Ich habe niemals damit bezweckt, den Menschen etwas Gutes zu tun. Ausgerechnet ich, der verachtete Sohn der Morgenröte. Allerdings bin ich nicht so boshaft, wie viele annehmen, dass ich anderen ihr neugewonnenes Glück nehme. Ich beließ es dabei und beobachtete stattdessen, wie die Dinge ihren Lauf nahmen.

Eines Tages kam mein geliebter Kyknos zu mir und fragte mich, ob ich meine Tat nicht bereute. Es war viele tausend Jahre später und so konnte ich mich kaum mehr daran erinnern, wie es zu früheren Zeiten mal gewesen ist. Ich willigte ein, einen Versuch zu unternehmen – und gab einem Jungen seine Seele zurück.

Schon bald stellte sich dies als ein Fehler heraus.

Er verhielt sich nicht wie seine Vorfahren aus längst vergessener Zeit. Der Junge konnte mit der Situation nicht umgehen und so sah ich ihm ein paar Tage lang dabei zu, wie er Stück für Stück verrückt wurde. Ich muss sagen, es war ein interessanter Zeitvertreib. Bald darauf flehte mich Kyknos jedoch an, mit dem Experiment aufzuhören. Es wäre eine Qual für den armen Menschen. Und ich tat, worum er mich bat. Ich nahm dem Jungen seine Seele und wartete ab, was passierte.

Als er nach zwei Tagen aus seinem tiefen Schlaf erwachte, war Kyknos glücklich. „Du hast doch ein gutes Herz, Phaeton“, bekundete er, „Ob die Menschen das wissen?“

„Das ist mir so ziemlich egal“, murmelte ich.

„Du hast ihnen so viel Glück beschert. Lichtbringer ist ein passender Name für dich, nicht wahr? Oder soll ich dich lieber Luzifer nennen?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo zusammen,
das war das letzte Kapitel von "Wege des Schattens". Philosophische Fragen begleiten uns immer wieder durch den Alltag, besonders "Glück" spielt dabei eine wesentliche Rolle. Ich hoffe, euch hat die etwas abstraktere Vorstellung gefallen und vielleicht auch nachdenklich gestimmt. Ich denke, jeder hat eine andere Ansicht, was das Glücklich-Sein anbetrifft. Wie hoffentlich im Laufe der Geschichte deutlich wurde, denke ich, dass man auch Unglück haben muss, um das Glück zu spüren. Von so vielen Leuten habe ich schon gehört, wie unglücklich sie seien. Ich behaupte auch nicht, dass sie das nicht sind. Aber mal ehrlich: Wer hat denn nicht mal eine Tiefphase? Eine Zeit, in der einfach alles schief zu gehen scheint? Diese mag zwar länger oder kürzer andauern, aber letztendlich folgt auf ein Tief immer ein Hoch. Und darauf sollten wir uns im Leben freuen. Meistens sind es sowieso die kleinen Augenblicke am Tag, die uns glücklich machen. Mich freut es schon, wenn ich einen kleinen Spatz zwitschernd über den Weg hüpfen sehe. Man muss nur die Augen aufmachen und sich für diese Glücksmomente öffnen :)
Eure Riyuri Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  AliceNoWonder
2017-08-17T04:59:01+00:00 17.08.2017 06:59
Heho erstmal vielen Dank für deinen Beitrag.

Ein richtig schönes Nachwort am Ende und ja eine Geschichte, die einen zum Überlegen anregt. Auch das es eine zweite Sichtweise mit einem höheren Wesen gibt finde ich sehr Interessant. Im ersten Kapitel hattest du am Anfang noch Gegenwart geschrieben und plötzlich wechselst du in die Vergangenheit, das hat mich etwas irritiert.
Insgesamt finde ich ist dir die Geschichte richtig gut gelungen. Schön geschrieben und sehr Interessant. Eine Geschichte zum Nachdenken ^^

LG Alice
Antwort von:  Riyuri
23.08.2017 22:44
Hallo und danke für den dritten Platz beim Wettbewerb :)
Ich wollte die Geschichte glaube ich in der Gegenwart schreiben, hab es dann aber vergessen haha. Normalerweise schreibe ich nämlich in der Vergangenheit. Danke für den Hinweis, ich werde das nachträglich noch korrigieren ;)
Es freut mich, dass ich tatsächlich zum Nachdenken anregen konnte und auch, dass dir die Geschichte gefallen hat ^^
Liebe Grüße
Riyuri


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