Galgenvogel von Futuhiro (im Schatten einer Rocklegende) ================================================================================ Kapitel 1: Galgenvogel ---------------------- Das Konzert war Geschichte. Das Toben und Kreischen der Fans drang selbst bis in den Backstage-Bereich, obwohl sich seine Ohren vom Lärm der dröhnenden Boxen wie mit Watte ausgestopft anfühlten. Es war eine gute Show gewesen. Das Publikum war abgegangen wie die Hölle. ER SELBER war abgegangen wie die Hölle! 'No more Mr. Nice Guy' und 'School´s Out' hatten wie immer eingeschlagen. Aber jetzt war er echt endfertig. Seine rote Lackleder-Hose klebte an ihm wie ein festgesaugter Blutegel, seine Haare im Gesicht nicht minder. Mit einem theatralischen Stöhnen ließ Alice Cooper sich auf das Sofa im Aufenthaltsraum fallen und streckte sich der Länge nach hin. „Ich bin langsam zu alt für diesen Scheiß.“, hauchte er gedehnt. Seine Crew lachte. Glen Buxton, sein Gitarrist, stellte das Instrument in einen Ständer. Auch er sah verschwitzt und komplett durch aus, hatte aber – wie alle anderen auch – ein seeliges Grinsen im Gesicht. Ja, die Show hatte gerockt. Alice wischte sich mit den Fingern durch das Gesicht und schmierte den Kajal auf seinen Fingerspitzen breit, den er dabei mit entfernt hatte. Dann fuhr er euphorisch wieder in die Senkrechte hoch und schwang die Füße wieder auf den Boden hinunter. „Leute, ich hatte auf den Bühne vorhin ne geile Idee! Ich will bei der nächsten Tour einen Werwolf mit einbauen. Ich muss mal mit unseren Maskenbildnern reden, wie wir das am besten hinkriegen. Nächstes Jahr will ich wieder nach Europa! Immer nur in den Staaten zu touren, ist mir zu öde.“ Michael Bruce, sein Gitarrist und Keyboarder, zog ein ziemlich betrübtes Gesicht. Er hielt Alice' Blick plötzlich nicht mehr stand. Wortlos schnappte er sich ein Handtuch, ließ sich am Tisch nieder und rubbelte sich die nassen Haare trocken. „Alles okay, Michael?“, hakte ihr Bassist nach. „Ja.“ „Du willst wohl nicht nach Europa?“, bohrte der Tieftöner dennoch weiter und lenkte damit unbarmherzig die Aufmerksamkeit der gesamten Band auf ihn. „Das ... darum geht´s nicht. Es ist nicht wegen Europa.“ „Was sonst?“ „Nichts.“, betonte Michael genervt und ärgerte sich, daß er seine Mimik vorhin nicht besser unter Kontrolle gehabt hatte. Alice Cooper musterte ihn besorgt. „Michael ...“, meinte er. Nichts weiter. Nur dieser Name. Die Betonung sagte alles. Es war ein ruhiger, väterlicher Tonfall, der unglaubliches Vertrauen aufbauen konnte, wenn es drauf ankam. Alice war mit über 60 Jahren doppelt so alt wie der Rest seiner Band und eigentlich ein sehr sanftmütiger Zeitgenosse, auch wenn man ihm das auf der Bühne schwerlich abkaufte. Und trotz des Altersunterschiedes und seines unglaublichen, internationalen Ruhmes ließ er seine Bandkollegen immer wieder spüren, daß jeder einzelne von denen ihm wichtig war. Michael nahm mürrisch zur Kenntnis, daß er in die Enge getrieben war. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Jetzt musste er raus mit der Sprache, ob er wollte oder nicht. Überfordert kratzte er sich im Genick und sah wieder zu Boden. „Alice ... wenn unsere aktuelle Tour zu Ende ist, würde ich gern aussteigen.“, gab er also kleinlaut zu. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist nicht direkt wegen dir. Aber ich würde gern bekannter werden. Solo-Karriere machen. Hier in deiner Band stehe ich immer in deinem Schatten. Du bist das Gesicht der Band 'Alice Cooper'. Wenn die Leute 'Alice Cooper' hören, haben sie ausschließlich dich vor Augen. Ich meine, ja, zu Recht. Du bist eine Legende und es ist mir eine Ehre, mit dir arbeiten zu dürfen. Aber es ist halt so ... keiner sieht, daß du noch eine 5-köpfige Band im Rücken hast. Kein Schwein kennt unsere Namen. Wenn du raus gehst und die Leute nach Glen Buxton oder Dennis Dunaway fragst ...“, er deutete auf ihren Bassisten, „... diese Namen hat noch nie ein Schwein gehört. Das ist nicht das, was ich mir unter einer Gitarristen-Karriere vorstelle, weißt du?“ „Hast du ne Macke?“, jaulte der Bassist mit überschnappender Stimme. „Sowas kannst du doch IHM nicht ins Gesicht sagen! Ausgerechnet IHM! Nach allem, was Alice für uns getan hat! Siehst du noch klare Bilder?“ „Bin ich ihm denn was schuldig?“, zischte Michael aufgekratzt zurück. Alice Cooper jedoch lächelte nur mild. „Das ist okay, Michael. Ich verstehe dich.“, meinte er mit einem unterschwelligen Nicken der Zustimmung. „Ich versteh´s.“ „Ehrlich?“, wollte der Gitarrist kleinlaut wissen. „Ja. Ich verstehe dich gut. Weil ich´s mir ja selber anders gewünscht hätte. Ich hatte nie geplant, daß Vincent Furnier zu Alice Cooper wird. Aber leider kam es anders als ich mir das gewünscht hätte. Nachdem meine ursprüngliche Band 'Alice Cooper' sich aufgelöst hatte, hatte ich keine andere Wahl mehr, als diesen Namen als Solo-Künstler anzunehmen und alleine als 'Alice Cooper' weiterzumachen. Da hingen mein geliebtes Image als Schock-Rocker, der Rückenhalt der Plattenlabels und eine riesige Fan-Base dran. Der Name hatte sich schon zu sehr etabliert, als daß ich ohne ihn meine Aktivitäten noch hätte weiterführen können.“ „Und du bist mir nicht böse?“, hakte Michael nach. „Nein. Ich hatte über die Jahre ständig wechselnde Belegschaft. Das ist jetzt nichts Neues für mich. Ich bin froh, daß du ehrlich bist.“ „Du bist´n Arschloch!“, hielt Dennis dem Gitarristen dennoch beleidigt vor, auch wenn es schon eine ganze Ecke humorvoller klang. Die Tatsache, daß der Sänger und Kopf der Band die ganze Sache so leicht nahm, nahm ihm ziemlich den Wind aus den Segeln. Aber wieso sollte er es auch nicht leicht nehmen? Einem Alice Cooper sollte es ja wohl kaum schwer fallen, einen neuen Gitarristen und Keyboarder zu finden. Dennoch verstand der Bassist nicht, wie man freiwillig von einer Rocklegende wie ihm weggehen konnte. Sein Ruf war nicht zu überbieten und menschlich war er auch ein ganz angenehmer Vogel, im Gegensatz zu manch anderem Star. Bei so jemandem spielen zu dürfen, war doch wohl schon die Spitze der Karriereleiter. So einen Chef fand man doch nie wieder, war seine Meinung. Was wollte der Kerl denn bitte noch? „Aber die aktuelle Tour machst du schon noch mit mir zu Ende, oder?“, wollte Alice Cooper kameradschaftlich lächelnd wissen. „Na logisch.“, nickte Michael Bruce eifrig und, ja, auch ein wenig erleichtert. In dieser Nacht zog Michael allein durch die Straßen. Er hatte ordentlich einen sitzen und hätte sich auch gern noch weiter betrunken, aber aus seiner letzten Kneipe war er rausgeflogen. Es war 2 Uhr nachts und der Wirt hatte schließen wollen. Wieder ein Beweis dafür, wie unbekannt er war. Keine Sau kannte den Gitarristen von Alice Cooper. Den Gitarristen von Alice Cooper schmiss man doch nicht einfach aus dem Lokal, weil man pünktlich Feierabend machen wollte. Michael war totunglücklich. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er hatte Alice schon länger sagen wollen, daß er gern aussteigen würde, hatte aber bisher nicht den Mut gehabt, ihn bei passender Gelegenheit beiseite zu nehmen. Sich nun so zwangsweise vor der gesamten Band outen zu müssen, war hart gewesen, auch wenn Alice es erstaunlich ruhig aufgenommen hatte. Sicher hielten ihn jetzt alle für einen abgehobenen Großkotz, der was besseres sein wollte. Er wusste noch gar nicht, wie er morgen seinen Bandkollegen wieder unter die Augen treten sollte. Ein bisschen ein schlechtes Gewissen hatte er ja schon. So sehr, daß ihm danach zumute war, sich zu betrinken. Und dabei hatte er noch nichtmal was festes in der Hand. Eigentlich hatte er sich erst einen Chef von irgendeinem Plattenlabel schnappen und Verträge aushandeln wollen, um seinen weiteren Werdegang abgesichert zu wissen, bevor er Alice den Rücken kehrte. Herr Gott, er hatte noch nichtmal eine neue Band, mit der er weitermachen konnte. Seine eine Gitarre alleine würde ihn wohl kaum sehr weit bringen. Jetzt hatte er sich zu der Ankündigung hinreißen lassen, daß er nach der Tour ausstieg, und stand damit vor einer ungewissen Zukunft. Und warum, verdammt, hatten um 2 Uhr nachts schon alle Kneipen zu? Bekam er denn nirgends mehr etwas zu trinken? Michael blinzelte, als er in einem Nebelschwaden, der unter der nächtlichen Straßenlaterne dahin zog, eine schemenhafte Figur stehen sah. Ein Kerl im langen Mantel und Hut. Wer trug denn bitte heute noch einen Zylinder? Der Freak stand einfach nur da, zwar unter der Straßenlaterne, das Gesicht dank seines Zylinders aber dennoch gut im Schatten verborgen, und bewegte sich nicht. Michael war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, daß der Typ ihn anstarrte. Wartete der auf ihn? Der Whisky-Nebel, der von seiner Zech-Tour immer noch gründlich auf seinem Verstand lag, hinderte ihn daran, sich zwischen Weitergehen und Umdrehen zu entscheiden, also blieb er ebenfalls einfach stehen und gaffte. Der Typ mit Zylinder setzte sich in Bewegung und kam näher. Er winkte ihm leicht mit der Hand, als wolle er etwaiges Misstrauen zerstreuen. Er trug ein Alice-Cooper-T-Shirt, wie Michael mit abnehmender Entfernung feststellte. Wahrscheinlich ein Fan, der heute Abend auf ihrem Konzert gewesen war und immer noch im entsprechenden Aufzug rumlief. Ob der auch aus irgendeiner Kneipe rausgeflogen war? Der sah aus, als wäre er höchstens 20 Jahre alt. Ein Wahnsinn, wie Alice, dieser alte, weit über 60-jährige Knacker, es schaffte, selbst nachfolgende Generationen noch zu begeistern. „Hi, bist du nicht einer von der Alice-Cooper-Crew?“, wollte der junge Mann wissen. „Ich glaube schon, ja!?“, gab Michael befremdet zurück. Noch hatte er irgendwie Skepsis vor dem Kerl, der hier nachts um 2 in so einem Outfit unter Straßenlaternen herumstand und Passanten auflauerte. „Uh, klar, du bist der Keyboarder, oder?“ Der Junge schnippste überlegend mit den Fingern, als würde das seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. „Äh ... Mike! ... Miguel! ... Michael!?“ „Michael.“, bestätigte der knapp. „Ich bin Gitarrist und für manche Songs der Keyboarder, ja. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange.“ „Nicht? Wurdest du gefeuert?“ Michael schüttelte den Kopf. „Ich geh eigene Wege. Ich will Solo-Karriere machen und bekannter werden. ... ich ... ähm ... bin ja durchaus erstaunt, daß du mich kennst.“ „Das ist schade.“, meinte der Junge und zog eine Schnute. „Mit dir wird der Band ein guter Keyboarder verloren gehen. Ich spiel auch Keyboard, weißt du? Einzig und allein aus dem Grund, weil Alice Cooper ein Keyboard mit an Bord hat. Sowas braucht ne Rockband! Keyboarder sind cool!“ Michael nickte nur kommentarlos vor sich hin. Was sollte er darauf auch sagen? „Also ... was tust du hier draußen, um so ne Zeit?“, quasselte der Jungspunt weiter. „Gut, daß du fragst. Gibt es in dieser prüden Stadt keine Kneipen, die um so eine Uhrzeit noch geöffnet haben? Ich würde gern noch was trinken.“ „Oh, doch, da weiß ich eine. Eine Rock-Kneipe, die wird dir gefallen! Ich kann dich hinbringen, wenn du willst.“ Er wandte sich euphorisch um und spazierte los, also folgte Michael ihm automatisch. „Ich sag dir was! Wenn du gerne durch Kneipen ziehst, dann sei froh, daß du nicht so bekannt bist. Sonst könntest du nie wieder was trinken gehen. Ich bin sicher, Alice Cooper kann sich in keiner Kneipe mehr blicken lassen. Der würde überall erkannt und sofort von Fans überrannt werden.“ Michael legte nachdenklich den Kopf schief, aber sagte auch darauf nichts. Das stimmte wohl. Wenn der Rest der Band zechen ging, blieb Alice immer als einziger im Hotel. Aus eben diesem Grund. Bekannt zu sein, hatte auch Schattenseiten. Ein derbes Pochen an seinem Zimmer ließ Michael am nächsten Tag fast aus dem Bett fallen. Mürrisch rieb er sich die Augen, während er in Unterhose zur Tür stapfte und diese einen Spalt breit aufzog, um hinaus zu lugen. Neal Smith, ihr Drummer, stand mit verschränkten Armen draußen im Gang und musterte ihn überrascht bis tadelnd. „He, pennst du noch? Wir wollen bald los.“, begrüßte er ihn, wobei er auf unnötige Höflichkeiten wie etwa ein 'Guten Morgen' verzichtete. „Wieviel Zeit hab ich denn noch?“, nuschelte Michael müde und versuchte die Augen offen zu halten. Er hatte einen leichten Kater. „Wieviel Zeit brauchst du denn noch?“, fragte Neal humorlos zurück. „Mh, lasst mich noch schnell was frühstücken gehen, und dann bin ich fertig.“ „Frühstück? Es ist 11:30 Uhr, Kollege. Um diese Zeit kriegst du in keinem Hotel mehr Frühstück. Schön und gut, wenn du keinen Bock mehr hast, dich um unsere Band zu kümmern, aber sieh wenigstens zu, daß wir unsere Termine halten. Du weißt, daß wir zum Sound-Check müssen. Und bis in die nächste Stadt haben wir noch ne ziemliche Busfahrt vor uns.“ „He, so hab ich das gestern nicht gemeint.“, nörgelte Michael. „Es ist ja nicht so, als ob die Band mir plötzlich egal wäre.“ „Nicht? Das klang bei Billy aber anders.“ „Billy?“ „Der kleine Fan-Wichser, der dich heute früh hier abgeliefert hat und der dann den ganzen Morgen Alice am Rockzipfel hing. Du hast dich bei ihm scheinbar gründlich ausgeheult, daß du die Band verlassen und berühmt werden willst. Der konnte es nicht unterlassen, sich bei Alice als neuer Keyboarder zu bewerben!“ Michael überlegte. Er hatte an die Nacht nur noch dunkle Erinnerungen. Billy war wohl das Kerlchen mit dem Zylinder, mit dem er letzte Nacht noch fleißig weiter bechern gewesen war. Der hatte ihn hier abgeliefert? Okay, in der Tat wusste Michael nicht mehr, wie er hier her gekommen war. „Du solltest keine Fans mit ins Hotel bringen, Michael. Das kann schief gehen. Die Tatsache, daß Alice wie immer freundlich geblieben ist, hat er als Einladung aufgefasst. Wir sind den kleinen Sack gar nicht wieder los geworden.“ Michael nickte nur verwirrt und schob das Thema dann beiseite. „Ich beeil mich. Geht schonmal in Ruhe eure Sachen holen. Bin auch gleich fertig.“, meinte er nur. Michael wog nochmal kurz das Taschenmesser in der Hand und überlegte, ob er das wirklich brauchte. Warum lief er immer noch so paranoid mit einem Messer auf der Bühne rum? Langsam sollte er sich doch mal davon verabschieden, von all seinen Sorgen und Bedenken, was die freakige Bühnenshow von Alice Cooper anging. Michael mochte diese Show nicht sonderlich. Aber was sollte es. Nur noch drei, vier Konzerte, dann würde er weg sein und sich nie wieder einen Kopf darum machen müssen. Mit einem Schulterzucken schob er das Taschenmesser doch in seine Hosentasche, schnappte dann seine Gitarre und wandte sich dem Bühnenaufgang zu. Es ging los. Eine halbe Stunde später war das Konzert in vollem Gange. 'Billion Dollar Baby' hatte das Publikum in einen Hexenkessel verwandelt. Jetzt kam die Zwischensequenz. Seine als Krankenpfleger verkleideten Show-Statisten hatten Alice bereits in die Zwangsjacke gesteckt, die sie zur Befestigung des Sicherheitsseils brauchten, und ihm die Galgenschlinge um den Hals gelegt. Kopfschüttelnd sah Michael kurz weg. Er hasste die Galgennummer. Aber bitte, das musste Alice selber wissen. War ja seine Show. Ein Roady trat ihm den Hocker weg, auf dem er stand, und Alice Cooper sackte mit Schwung in den Galgenstrick. Und begann zu zappeln und sich zu winden. Wie es sich am Strick halt gehörte. Michael schlief das Gesicht ein. Da stimmte was nicht. Das war keine Show! Der Galgenstrick schnitt viel zu fest in die Haut ein! Das Gezappel war echt! Alice erstickte wirklich! Das Sicherheitsseil war gerissen. Oder nicht befestigt worden. Oder wie auch immer. Fuck! Michael zerrte sich den Gitarrengurt über den Kopf, schmiss seine Gitarre in hohem Bogen weg – egal, wenn sie dabei kaputt ging – und hechtete zu Alice Cooper hinüber. Er kletterte, nein, er flog förmlich an einem Bühnengerüst hinauf, das direkt daneben stand und von wo aus er gerade noch so an den Galgen heran kam. Er bildete sich ein, Alice röcheln und gurgeln zu hören, auch wenn das über den Krach der Boxen und über das Rauschen des Adrenalins in seinen Ohren hinweg schier unmöglich war. Es dauerte quälende Sekunden, bis er das dicke Seil endlich mit dem Taschenmesser gekappt hatte. Zu diesem und keinem anderen Zweck trug er immer das Taschenmesser auf der Bühne. Als hätte er geahnt, daß die Galgennummer irgendwann mal schief gehen würde. Alice Cooper fiel den halben Meter bis zum Bühnenboden hinunter, klappte dort auch haltlos in sich zusammen wie eine Gliederpuppe, und zappelte auf dem Boden weiter. Michael warf das Taschenmesser weg, sprang von seinem Gerüst herunter hinterher, und zerrte den Sänger an der Zwangsjacke zu sich heran. Inzwischen hatten auch der Rest der Band und die Staffs gemerkt, daß irgendwas los war. Michael riss grob die Schlinge auf, die immer noch um Alice' Hals lag und zog sie ihm über den Kopf. Der wand sich immer noch und gab unartikulierte Laute von sich. Michael griff ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Alice! ... ALICE! Hey!“ Alice trat panisch um sich und versuchte sich verzweifelt aus der Zwangsjacke freizukämpfen. Michael klatschte ihm schließlich die flache Hand ins Gesicht, um ihn wieder in die Realität zurück zu holen. Da war plötzlich Ruhe. Alice starrte ihn mit riesigen, schreckgeweiteten Augen und offenem Mund an, schwer um Luft keuchend. Jawohl, um Luft keuchend! Er atmete! Alles war gut! „Hey! Alles in Ordnung!“, versuchte Michael ihn weiter zu beruhigen. Ihn und sich selbst. Alice nickte nur abgehackte, schloss seinen Mund wieder und sah weg. Zu Tode erleichtert schlang Michael seine Arme um den Hals des Sängers und zog ihn fest an sich, in eine hohe Umarmung. „Oh man ...“, seufzte er leise. Das war knapp gewesen. Michael zitterte am ganzen Leib. „Schon okay. Alles gut.“, murmelte er weiter. Mit einer Hand zog er die Verschnürungen der Zwangsjacke auf, um den Sänger daraus zu befreien, mit der anderen hielt er ihn immer noch fest an sich gedrückt. Er hatte das Gefühl, den Frontmann nie wieder loslassen zu können. Erst als Alice Cooper ihn an der Schulter abklopfte, um zu signalisieren, daß er sich auch wieder eingekriegt hatte, schaffte Michael es, sich von ihm zu lösen. Glen Buxton, der andere Gitarrist in der Truppe, griff zu, um Alice wieder hoch zu helfen. „Du solltest deinen scheiß Requisiten-Tischlern gehörig in den Arsch treten, man.“, entfuhr es Michael. Das Konzert wurde für eine halbe Stunde unterbrochen. Zur Beobachtung quasi. Die Sanis wollten sicher gehen, daß mit Alice Cooper alles okay war, daß er nicht unter Schock stand oder sein malträtierter Hals doch noch zuschwoll. Aber es ging ihm gut. Er bestand darauf, das Konzert noch zu beenden. Also schnappte sich Michael eine neue Gitarre, die noch keinen Freiflug hinter sich hatte und dadurch um ein paar Mechaniken ärmer war, und versuchte seine Gedanken wieder zu sammeln. Alice Cooper trat neben ihn und warf einen Blick auf den Bühnenaufgang. Er atmete einmal tief durch, als müsse er gegen sein Lampenfieber angehen. Dann stahl sich langsam wieder das übliche, unterschwellige, vorfreudige Lächeln auf seine Züge, das er vor jeder Show hatte. Er liebte es, auf der Bühne zu stehen. So ein kleiner Unfall würde ihm das nicht vermiesen. „Fertig?“, wollte ihr Bassist Dennis Dunaway wissen. Alle nickten. Dennis und der Drummer gingen vor. „Alice?“, warf Michael nochmal vorsichtig ein. Die Augen des Sängers hefteten sich fragend auf ihn. Diese hellgrauen Augen, die in ihrer rabenschwarzen Kajal-Fassung noch durchdringender strahlten. Unglaublich wache, lebendige Augen. „Hör mal ... ich hab nochmal drüber nachgedacht. Ich würde doch gern in deiner Band bleiben, wenn ich darf. Ich will hier nicht weg. Pfeif drauf, ob jeder meinen Namen kennt. Du bist mir wichtiger, habe ich gerade gemerkt.“ Alice' Lächeln wurde breiter. „Besser ist das. Wer soll denn auf mich aufpassen, wenn du weg bist?“, scherzte er. Dann deutete er einladend auf den Durchgang. „Los, auf die Bühne mit dir!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)