Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 46: Beziehungen ----------------------- »Seit wann?«, frage ich in Julius‘ Haar. Er liegt in Boxershorts neben mir auf dem Bett. Ich kann nicht ganz genau sagen, ob er immer noch knallrot im Gesicht ist, aber ich kann es mir gut vorstellen. Mich stört es kein bisschen, dass Julius offensichtlich so wahnsinnig empfindlich auf alles reagiert, was ich mit ihm anstelle. Im Gegenteil. Tatsächlich würde ich sagen, dass es das Beste ist, was mir je passiert ist. Es ist ein bisschen so, als würde Julius aus Papier bestehen und jede meiner Fingerspitzen ist ein brennendes Streichholz. Ich werde nie wieder aufhören ihn anzufassen, damit ich für immer diese wunderbaren Geräusche hören kann, die er macht. »Hm. Weißt du noch, als wir Rum getrunken haben, bevor du in die Sommerferien gefahren bist?« Ich blinzele. Das ist Monate her. »Ja. Ich hab dir vorgelesen und auf Französisch vorgesungen«, sage ich. Mein Herz wird ganz warm bei dem Gedanken daran. »Jap. Da ist es mir aufgefallen. Aber…ähm. Ich glaub ganz ehrlich, dass es schon vorher losging. Ich war nur zu dumm es zu checken.« Ich schnaube liebevoll und fahre Julius durchs Haar. Es ist mittlerweile ganz getrocknet, nachdem er vorhin geduscht hat und ich bin seitdem ununterbrochen damit beschäftigt, mit einer Hand sein Haar zu streicheln und mit der anderen so viel nackte Haut anzufassen wie möglich. Das hat dazu geführt, dass Julius innerhalb von anderthalb Stunden, die wir jetzt auf dem Bett verbracht haben, schon drei Mal gekommen ist. Er trägt frische Boxershorts von mir, nachdem er damit fertig war, sich unter meinem Kissen zu verstecken. »Du?«, will er leise wissen. »Du darfst nicht lachen.« »Ok.« »Ok, weißt du noch, als du und Cem und Feli hier wart, als es mir mies ging und wir Pizza bestellt haben?« »Hmhm.« »Als Feli gefragt hat, was ich für Pizza esse und du direkt geantwortet hast… da ist es mir aufgefallen.« Julius schweigt einen Moment lang. Dann gluckst er leise. »Hey! Du hast gesagt, du lachst nicht«, klage ich schmunzelnd. Er löst sich ein wenig von mir, um den Kopf zu drehen und mich anzuschauen. Mein Herz stolpert, als seine Augen meine finden und er mich so liebevoll anlächelt, dass ich ihn eigentlich direkt wieder überfallen möchte. »Seltsam, aber süß«, sagt er grinsend. Ich schnaube und drücke meine Stirn gegen seine. »Vielleicht auch schon vorher. Aber da wusste ich es«, erkläre ich. Wenn man mir am Anfang der Nachhilfe gesagt hätte, dass ich mal quasi nackt mit Julius auf meinem Bett liegen und darüber reden würde, wann sich wer in wen verliebt hat, dann hätte ich sehr darüber gelacht und den Kopf geschüttelt. Jetzt ist alles eine rosa Wattewolke aus weichen, liebevollen Gefühlen und immer mal wieder aufflammenden Sehnsüchten, die mich dazu auffordern, Julius überall zu küssen und mit allem, was ich habe, um den Verstand zu bringen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass ich mich ein wenig zurückhalten sollte. Immerhin ist Julius‘ Beziehung zu Sex weitestgehend negativ bis unerforscht. Obwohl ich jetzt immerhin schon rausgefunden habe, dass Handjobs mit ziemlich großem Enthusiasmus aufgenommen werden. Ich glaube, mein Grinsen sieht ganz schön verschwommen aus. »Sind wir jetzt… sind wir jetzt offiziell Tamino und Julius?«, nuschelt Julius in meine Halsbeuge. Mein Herz macht ein paar Saltos. »Ich meine… ich würde gerne? Aber… äh… Also. Nur, wenn du auch—« »Hmhm. Definitiv.« »Oh. Ok! Ok.« Alles in mir kribbelt. Meine Augenwinkel brennen ein bisschen. »Es tröstet mich ein bisschen, dass ich dein erster Freund bin«, sagt Julius dann und grinst mich an. Ich blinzele. »Worüber tröstet dich das hinweg?« »Naja. Wo du schon sonst von allem—ähm. Mehr Ahnung hast«, erklärt er und wird prompt wieder rot. Ich muss lachen und er versteckt sein Gesicht wieder an meinem Hals. »Dann können wir jetzt zusammen die Beziehungsgewässer testen«, sage ich liebevoll. Julius nickt, ehe wir wieder in Schweigen verfallen und Julius‘ Finger immer wieder am Bund meiner Boxershorts entlangwandern. Ich versuche angestrengt nicht schon wieder auf dumme Gedanken zu kommen. »Übrigens«, sage ich leise, als ich mich an unser Gespräch über hypothetische Beziehung von vorhin erinnere. »Macht es mir nichts aus… wegen. Wegen deiner Asexualität? Wenn du keinen Sex möchtest. Sag einfach… ähm… ich muss nur wissen, wo stop ist. Nicht, dass ich nicht sowieso vorher fragen würde! Aber ich meine nur, du kannst mir sagen, wenn du irgendwas nicht—« Finger legen sich auf meinen Mund und stoppen meinen verbalen Ausbruch. Ich drücke automatisch einen Kuss gegen Julius‘ Zeigefingerspitze und sehe ihn aus dem Augenwinkel lächeln. »Ok. Vielleicht—ähm. Vielleicht können wir’s einfach so nehmen wie’s kommt«, sagt er. »Ok.« Einen Moment Schweigen. Dann… »Danke…« »Dafür, dass du mir wichtiger bist als Sex?«, frage ich halb amüsiert, halb empört. »Naja! Ich glaub, nicht jeder wäre so verständnisvoll!« Ich schnaube und hebe den Kopf, um Julius ins Kissen zu drücken und ihn zu küssen. Ich glaube, ich kann nie wieder irgendwas anderes machen. Vielleicht müssen wir uns die letzten Staffeln von Deep Space Nine abschminken. Wie soll ich 45 Minuten am Stück mit Julius auf meinem Bett sitzen und ihn nicht alle zwei Minuten beduselig knutschen? »Ich hab noch eine Frage«, sagt Julius leicht außer Atem, als ich meinen Mund von seinem löse, um sein gerötetes Gesicht zu betrachten. Ich möchte jede Sommersprosse einzeln küssen. »Hm«, mache ich und fange an, auf jeden Millimeter seines Gesichts Küsse zu verteilen. Finger finden ihren Weg in mein Haar und ich höre ein sehr leises, hingerissenes Seufzen. »Ähm… Können wir das noch ein bisschen unter der Decke halten? Also. In der Schule?«, fragt Julius. Ich höre das Zögern in seiner Stimme und die Unsicherheit. Aber ich verstehe—wahrscheinlich sogar noch besser als er—warum er das fragt und warum er es sich wünscht. »Auf jeden Fall«, murmele ich zwischen zwei Küsse auf Julius‘ Stirn. »Aber meinen Freunden darf ich es erzählen?« »Oh. Ja, klar. Ich, äh. Ich hab auch schon mit Lotta über die ganze Sache geredet«, gesteht Julius und ich muss schmunzeln. Das erklärt Lottas vehemente Dringlichkeit darüber, dass ich unbedingt mehr mit Julius flirten soll. Als ich ihr vorhin auf dem Nachhauseweg geschrieben habe, dass Julius sich verplappert hat darüber, dass er verliebt ist, war sie vollkommen aufgelöst. Lotta NATÜRLICH MEINT ER DICH!!!!! SAG WAS! TU WAS! LASS IHN NICHT IN DER LUFT HÄNGEN!!!!!! Ich grinse bei der Erinnerung an ihre Aufregung. Wahrscheinlich sollte ich ihr beizeiten schreiben, damit sie nicht noch anfängt zu hyperventilieren. Vielleicht hat sie Noah und Anni schon alarmiert. »Willst du’s Cem und Feli sagen?«, frage ich. Ich bin jetzt in der Nähe von Julius‘ Ohr angekommen und mein Atem streift seine Ohrmuschel. Ich beobachte voller Hingabe und Begeisterung, dass er prompt eine Gänsehaut auf den Unterarmen bekommt. Ich kann es mir nicht verkneifen und schließe kurz sachte meine Zähne um sein Ohrläppchen. Julius macht ein wunderbares Geräusch und drückt sich sofort wieder die Hand auf den Mund. Ich widme mich seinem Kieferknochen, damit er ein bisschen durchatmen kann. »Ich glaub nicht, dass ich das vor Cem geheim halten könnte. Will ich auch gar nicht. Die beiden werden’s schon niemandem sagen«, sagt Julius mit heiserer Stimme, kurz bevor ich wieder bei seinem Mund ankomme. »Nimm’s mir nicht übel, wenn ich dich nicht offiziell meinem alten Mann vorstelle«, murmele ich gegen Julius‘ Lippen. Er schnaubt und schlingt seine Arme um meinen Oberkörper. »Keine Sorge.« Dann zieht er mich ganz auf sich und küsst mich und ich denke, wir haben erstmal genug geredet. * Lotta I’M SO HAPPY I’M GONNA DIE Noah herzlichen glückwunsch man ich freu mich für euch :-) Anni fucKING FINALLY YOU DOOFUS (lieb dich ) * »Oh mein Gott, ich kann’s nicht ertragen. Ihr seid schrecklich«, stöhnt Cem. »Stell dich nicht so an«, meint Feli gespielt streng und beißt sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. »Guck sie dir an, Alter! Schlimmer als Zuckerwatte«, gibt Cem zurück. Julius sitzt auf meinem Schoß. Er hat sich sehr gesträubt, aber ich habe darauf bestanden und jetzt umarme ich ihn von hinten wie ein Oktopus, während Feli und Cem auf meinem Bett sitzen, ein Berg Englisch-Unterlagen vor ihnen ausgebreitet. »Ich mag Zuckerwatte«, murmele ich gegen Julius’ Schulter. Cem stöhnt erneut und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Ich weiß, dass es ihn nicht wirklich stört, deswegen bin ich vor allem amüsiert über seine Reaktion. »Wie läuft’s denn so mit Daniel?«, will Julius wissen und auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen kann, ist mir klar, dass er verschmitzt grinst. »Hä? Was soll denn da laufen? Der blöde Penner kann mich mal«, sagt Cem ungehalten und klappt sein Englischbuch so energisch zu, dass Feli neben ihm zusammenzuckt. »Ok? Was hat er verbrochen?«, fragt Feli. Cem wirft ihr einen ungnädigen Blick zu. »Nichts. Seit neustem kann er anscheinend nicht mehr neben mir sitzen. Bin ihm wahrscheinlich zu schwul. Vielleicht hat er Angst sich anzustecken«, mault er und verschränkt die Arme vor der Brust. »Seit wann will er nicht mehr neben dir sitzen?«, fragt Julius verwirrt. »Alter, weiß ich doch nicht. Hab mich gestern in Physik neben ihn gesetzt und er ist mit seinem verfickten Stuhl von mir abgerückt, als hätt‘ ich die Pest, ey. Blöder Wichser«, knurrt Cem. »Wahrscheinlich ist er in Panik ausgebrochen, weil er gemerkt hat, dass er auf dich abfährt«, sagt Julius. Ich stimme ihm im Stillen zu, bin aber auch voller Verständnis dafür, dass Cem darauf wenig Lust hat. Und kaufen kann er sich davon auch nichts, wenn Daniel sich mit seiner neugewonnenen Erkenntnis so verhält. »Is‘ ja schön für ihn, aber es gibt auch Leute, die mich geil finden und nicht ihren scheiß Stuhl von mir wegrücken, also denk ich mal eher nicht, dass ich mich damit weiter auseinander setzen will«, murmelt Cem und ersticht mit einem Bleistift das Arbeitsblatt, mit dem er gerade zugange ist. »Wie Anish?«, will Julius wissen. »Zum Beispiel wie Anish. Der übrigens nächste Woche mit mir Klettern gehen will. Und vielleicht ein Eis essen. Ich geh stark davon aus, dass er seinen Stuhl nicht von mir wegrückt, wenn wir zusammen nen verfickten Erdbeerbecher teilen.« Cem flucht heute in der Tat besonders viel. Er scheint wegen dieser ganzen Daniel-Sache wirklich ausgesprochen unleidig zu sein und ich kann es ihm kaum verübeln. Julius dreht sich auf meinem Schoß um und wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich zucke mit den Schultern und rucke mit dem Kopf in Richtung Cem, um Julius zu bedeuten, dass das ja schließlich sein bester Freund ist. »Tut mir echt Leid, Alter. Dass Daniel so’n Pfosten ist«, sagt Julius. Cem sieht einen Moment lang so aus, als würde er eigentlich gerne verächtlich schnauben und laut verkünden, dass es ihm doch scheiß egal ist, was genau Daniels Problem eigentlich ist. Aber er entscheidet sich dagegen und fährt sich erneut mit der Hand übers Gesicht. »Ich kenn den blöden Saftsack seit der fünften Klasse, man. So bescheuert hat er sich nicht mal verhalten, nachdem wir rumgemacht haben«, murmelt Cem. Ich frage mich dumpf, ob Cem den Kumpel vermisst, den er mal hatte. Im nächsten Augenblick bestätigt sich meine Vermutung. »Also, ich mein. Nachdem das damals passiert ist, is‘ schon alles ziemlich auseinander gedriftet. Aber vorher waren wir ziemlich dicke miteinander. Und jetzt oute ich mich wie der letzte Trottel, weil ich hackedicht bin und all meine Gehirnzellen weggesoffen habe und er sagt, das wäre kein Problem. Von wegen kein Problem«, murrt er ungehalten und verschränkt die Arme vor der Brust. Feli schiebt ihre Unterlagen beiseite, rollt sich auf dem Bett zusammen und platziert ihren Kopf auf Cems Schoß. Ohne darüber nachzudenken, fängt er an, ihr Haar zu streicheln. Die beiden sind leider zu niedlich miteinander. Ich drücke Julius ein bisschen fester an mich. »Kannst du nicht vielleicht mit ihm darüber reden? Vielleicht lässt es sich ja irgendwie klären?«, sagt Feli unsicher. Cem seufzt und zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaub kaum, dass er Bock hat sich mit mir über irgendwas zu unterhalten, wenn er nicht mal neben mir sitzen kann.« Eine Weile lang schweigen wir und ich sehe Cem dabei zu, wie er ziellos durch sein Buch blättert und ab und an irgendwas auf einem seiner Zettel notiert. Nach einer Weile blickt er auf und schaut Julius und mich an. »Aber ohne Scheiß jetzt«, sagt er und legt den Kopf schief. »Ich freu mich für euch. Auch wenn ich motze.« Julius gluckst und ich muss grinsen. Cem grinst zurück. »Und ladet mich immer gerne ein. Ihr wisst schon«, fügt er hinzu und sein Grinsen wird breiter. Ich lache gegen Julius‘ Rücken und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, bin ich sicher, dass Julius gerade knallrot anläuft. »Alter, du lässt auch nichts anbrennen«, klagt Julius. Cem streckt ihm die Zunge raus. »Ich hab’s euch ja gesagt. Zu viele heiße Leute da draußen. Ich bin jung und brauche das Geld.« »Also ich bezahl dich nicht dafür, dass du mit uns in die Kiste steigst, du Flachpfeife«, meint Julius. Cem lacht. »Ach weißt du, ich würd mich statt mit Geld auch mit so zwei, drei Orgasmen zufrieden geben, weil ihr es seid.« Feli vergräbt ihr Gesicht an Cems Oberschenkel und ich sehe, wie sie vor Lachen bebt. »Ich bin von notgeilen Hammeln umgeben«, nuschelt sie erstick in Cems Hose. »Hey! Das verbitte ich mir!«, meint Julius. In Erinnerung an die zahlreichen Orgasmen, die er vor ein paar Tagen hatte, räuspere ich mich vielsagend, was Cem dazu bringt Tränen zu lachen—ich nehme an, das hängt auch damit zusammen, dass er Julius‘ Gesicht sehen kann, das sicherlich sehr vielversprechend aussieht im Moment. »Oh, übrigens, Feli«, sage ich, weil mir beim Thema ‚notgeile Hammel‘ etwas recht Unerfreuliches wieder einfällt. »War das gestern eigentlich Andrea mit dir vorm Sekretariat?« Ich hab Feli mit einer mir unbekannten Frau vorm Sekretariat sitzen sehen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und ich fand, dass sie sich durchaus ähnlich gesehen haben, aber ich wollte bei der Unterhaltung nicht stören, deswegen bin ich vorbei gehuscht. Feli dreht sich auf Cems Schoß um und schaut mich an, ehe sie nickt. »Jap. Sie hat bei Lennards Eltern angerufen und die richtig zur Sau gemacht. Dann hat Lennards Mutter später noch mal bei ihr angerufen und sich hundert Mal entschuldigt. Ich glaube der Satz ‚Ich weiß nicht, wo er das herhat, ich hab ihn so nicht erzogen‘ ist ungefähr dreihundert Mal gefallen. Andrea hat auf Lautsprecher geschaltet«, erklärt Feli und seufzt. Sie kaut ein wenig auf ihrer Unterlippe herum und Cem fängt wieder an, ihr Haar zu streicheln. Sie wirft ihm ein flüchtiges Lächeln zu, ehe sie weiter redet. »Jedenfalls hatten wir deswegen auch einen Termin bei der Direktion. Also, gestern, meine ich. Ich wusste nicht, ob ich diesen ganzen Trubel überhaupt haben will… ist ja nicht so, als würde sowas nicht dauernd passieren.« Ich merke, wie Julius sich auf meinem Schoß verspannt. »Aber… ähm. Ich weiß auch nicht. Es war einfach… diesmal war’s einfach besonders schlimm? Und Andrea… Andrea meinte, dass… dass ich selber entscheiden kann, ob ich was machen will. Und ich dachte. Ich dachte, bevor das irgendwann noch mal entgleist, mit wem anders? Also… wisst ihr?« Ihre Stimme wird immer leiser gegen Ende und sie starrt an die Decke, während sie redet. Die Wahrheit ist, dass keiner von uns nachvollziehen kann, wie es ihr geht. Mädchen haben, was das angeht, einfach die Arschkarte gezogen. Ich schlucke und stupse Julius Richtung Bett. Er versteht, was ich will und steht von meinem Schoß auf, ehe er sich neben Feli auf die Matratze hockt. Ich folge ihm. Feli und Cem machen Platz für uns und Julius verbannt die Englisch-Unterlagen auf den Fußboden. Felis Kopf bleibt da, wo er ist, aber jetzt hat sie links und rechts noch je einen von uns an sich gedrückt liegen. Ich seh sie lächeln. »Es ist auch egal, was man macht, wisst ihr? Wenn man mit dem Kerl rummacht, ist man eine Schlampe. Wenn man nicht mit ihm rummacht, ist man auch eine«, flüstert sie. »Ich dachte… ich dachte wirklich, er knallt mir gleich eine. Oder—« Sie hält inne und holt tief Luft. Mein Herz zieht sich zusammen bei der Vorstellung, wieviel Angst Feli gehabt haben muss und wie unangenehm es sein muss, auf jeder Party mit so etwas rechnen zu müssen. Unweigerlich werde ich wieder sauer auf Lennard und wünschte mir, Cem hätte seinen Unterkiefer gebrochen. »Der Termin war ganz ok, glaub ich«, fährt Feli leise fort, während wir andächtig lauschen. Auf Cems und Julius’ Gesicht sehe ich die gleiche Mordlust, die ich auch fühle. »Ich war froh, dass Andrea da war. Ich hatte zuerst nicht so richtig den Eindruck, dass Herr Stäuber versteht, was genau eigentlich das Problem ist, weil ja nicht wirklich was passiert ist, wie er’s formuliert hat. Aber Frau Laute—ähm, kennt ihr die? Das ist die Vertrauenslehrerin—war auch da und die war sehr empört und ähm… sie hatte anscheinend auch mit Frau Holm geredet? Also, über die Sache mit der Fußballmannschaft und den ganzen homophoben Mist. Und es wirkte ein bisschen so, als würde Herr Stäuber sich lieber nicht mit eurer Trainerin und Frau Laute anlegen wollen, also hat er gesagt, dass Lennard ‘ne offizielle Verwarnung kriegt und wenn sowas noch mal passiert, dann fliegt er wahrscheinlich.« Feli schweigt einen Moment. »Ich hab nur drauf gewartet, dass er noch zu mir sagt, dass ich Lennard seine Zukunft ja womöglich versaue, wenn er so kurz vorm Abi von der Schule fliegt und alles. Ich könnte schwören, dass es ihm schon auf der Zungenspitze lag... Andrea hat mich hinterher zum Inder eingeladen und ungefähr eine halbe Stunde auf ihn und Lennard geflucht...« Ich beobachte Cems Finger, die immer noch in einem gleichmäßigen Rhythmus Felis Haar streicheln. Da ich mit Anni und Lotta befreundet bin und wir eigentlich immer über alles reden, weiß ich, dass die beiden schon ähnliche Probleme hatten—aus durchaus unterschiedlichen Richtungen. Weil Lotta schon immer pummelig war, wird ihr dauernd gesagt, dass sie für jedes bisschen Aufmerksamkeit von Kerlen dankbar sein soll—egal wie ungewollt und unpassend diese Aufmerksamkeit sein mag. Weil viele Leute leider rassistische Wichser sind, muss Anni sich dauernd mit ekligen Vorurteilen über ostasiatische Frauen anhören. Ich möchte sie alle in Watte einwickeln und vor der Welt verstecken, die so scheußlich zu ihnen ist. »Tut mir Leid«, murmele ich gegen Felis Schulter. Aus dem Augenwinkel sehe ich sie lächeln. »Ich hab das Gefühl, wenn ich jetzt sage, dass man sich dran gewöhnt, dann klingts irgendwie nach so einem Märtyrerkomplex. Ich will mich eigentlich auch nicht daran gewöhnen. Es ist scheiße, so wie es ist. Aber... ähm. Aber es hilft, wenn andere Jungs diesen Kerlen sagen, dass es nicht ok ist, was sie machen? Weil... keine Ahnung. Ich glaube, das nehmen sie irgendwie ernster? Was natürlich auch scheiße ist, aber. Es hilft. Also... danke«, sagt Feli. »Wenn er dir noch mal zu nahe kommt, kastrier ich ihn«, verkündet Cem schließlich mit grimmiger Miene. Feli lacht leise und streckt ihre Hand nach oben aus, um Cem durchs Haar zu streicheln. Mittlerweile hab ich mich fast an den Anblick von ihm ohne Cap gewöhnt. »Du bist ein toller Kerl, weißt du?«, sagt Feli mit einem liebevollen Lächeln. »Wenn Daniel dich nicht haben will, ist er ein Trottel.« Cem verzieht das Gesicht und seufzt, schafft dann aber ein schiefes Grinsen. »Danke. Wenn das Abi erstmal durch ist und ich irgendwohin studieren gehe, muss ich seine blöde Hackfresse ja auch nicht mehr sehen«, sagt Cem. Ich verkneife mir einen Kommentar darüber, dass diese Aussicht so klingt, als wäre Cem schon ziemlich emotional investiert in diese ganze Sache mit Daniel. Es klingt, als würde er versuchen über eine Trennung hinwegzukommen. Aber ich sage nichts, sondern lege meine Hand auf seinen Oberschenkel neben Felis Kopf und nach einer kleinen Weile greift Cem mit seiner freien Hand danach. Er hat wirklich was Besseres verdient als jemanden, der seinen Stuhl von ihm wegrückt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)