Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 37: Ausweichmanöver --------------------------- Die Wahrheit ist, dass ich keine Lust habe, mein ganzes Wochenende mit tiefschürfenden, emotionalen Gesprächen zu verbringen. Dann wiederum ist mir auch klar, dass ich nicht einfach für immer davon laufen kann, auch wenn das momentan sehr ansprechend klingt. Da die Idee, mit Tamino zu reden, ein absolutes, allumfassendes Panikgefühl in mir auslöst, beschließe ich, dass Cem zuerst dran ist. Weil es bei ihm im Haus immer super laut ist und ich keine Lust auf die beobachtenden Augen von Mari und Mama habe, treffen wir uns Sonntagnachmittag im Park, ganz in der Nähe von der Stelle, an der wir geknutscht haben. Nur, dass wir diesmal wie alte Leute auf einer Parkbank sitzen und Cem aussieht, als hätte er etwas sehr Verdorbenes zum Frühstück gegessen. Ich bin mir nicht mal sicher, wer sich schlechter fühlt, Cem oder ich. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich einfach abgehauen bin und alle sich Sorgen gemacht haben. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil Tamino sich jetzt tausend Vorwürfe macht, obwohl er überhaupt nichts Falsches getan hat. Ich fühl mich schlecht, weil ich mich in ihn verliebt habe und weil ich mich Feli gegenüber unfair verhalten habe und ganz nebenbei bin ich dauerhaft gestresst wegen diesem ganzen Abischeiß. Also alles in allem ist mein Leben momentan ein riesiger Misthaufen. Und das meiste davon hab ich selber verbockt, was es kein bisschen besser macht. »Warum sind wir nüchtern«, sagt Cem mit einem angestrengten Stöhnen. Ich haue ihm auf die Schulter. »Weil Alkohol uns diesen ganzen Kack eingebrockt hat«, gebe ich streng zurück. Ich hab gut reden. Die Wahrheit ist, dass ich selber gerne wieder hackedicht wäre, nur damit diese ganze Situation nicht so peinlich ist. Cem fährt sich mit der Hand über sein Gesicht und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Während er nach seinem Feuerzeug kramt, ziehe ich in Erwägung mich auf den Boden zu setzen, damit ich Gras aus dem Boden reißen und meinen Händen so was zu tun geben kann. »Ok, also—« »Tut mir le—« Wir brechen beide ab und Cem grummelt leise vor sich hin. »Du zuerst«, brummt er. Ich seufze. »Na schön. Tut mir leid, dass ich mich einfach aus dem Staub gemacht habe ohne Bescheid zu sagen. Es war ‘ne Kurzschlussreaktion. Ich—ähm. Ich war’n bisschen überfordert mit meinem ganzen—mit. Mit meinen Gefühlen.« Es ist jetzt an Cem zu seufzen. Er fährt sich wieder mit der Hand übers Gesicht und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Ich beobachte den Rauch, den er gen Himmel pustet. Mein Herz stolpert nervös in meinem Brustkorb herum, vor allem, wenn meine Gedanken sich in Richtung von Tamino bewegen. »Ich war eigentlich vor allem sauer, weil Tamino—Ugh. Du hättest ihn sehen sollen. Ja, ich dachte mit dir ist vielleicht irgendwas, aber. Is‘ ja nicht so, als wärst du nicht schon mal abgehauen. Und so mitten in der Innenstadt landet man ja eigentlich auch nicht im Graben. Aber... naja. Tamino war nich‘ so chill.« Ich kann förmlich spüren, wie mir das Blut aus dem Kopf schießt und ich blass werde. Fuck. »Ich—ähm. Ich bin nicht so gut mit panischen Nervenbündeln«, sagt Cem mit einer Grimasse und zieht erneut an seiner Kippe. Ein sehr masochistischer Teil von mir will jede kleine Reaktion genau beschrieben bekommen. Cem dreht den Kopf und schaut mich an. »Alter, ich glaub da hat jemand ‘n ziemlich krasses, psychisches Problem«, meint Cem und ich schnaube. Ja, in der Tat. Wahrscheinlich ist das eine maßlose Untertreibung. »Ich dachte, er fängt gleich an zu hyperventilieren«, fährt er fort und mein Inneres zieht sich schmerzhaft zusammen. »Oh«, krächze ich. Cem raucht eine Weile schweigend weiter und ich sehe ihn mit seiner freien Hand nervös an seinem Shirtsaum herumfummeln. Eine Familie mit zwei Hunden zieht laut schnatternd an uns vorbei. »Wenn ich dich frage, was genau alles passiert ist, erwürgst du mich dann?«, will ich wissen. Cem dreht erneut den Kopf. Sein Gesichtsausdruck schwankt zwischen Kläglichkeit und Empörung. »Vorm oder beim Sex?« Mein Herz macht einen Sprung. Ach ja. Sex. Mein Mund entscheidet, bevor mein Gehirn Zeit zum Filtern hat. »Beides«, sage ich entschlossen. Ich kann wie in Zeitlupe zusehen, wie Cems Gesicht sehr rot anläuft. Er beißt sich auf die Unterlippe und schnippt seine aufgerauchte Zigarette in den Mülleimer, der neben der Parkbank steht. Dann zieht er seine Beine in einen Schneidersitz und starrt mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Ist das meine Strafe dafür, dass ich Sex mit Tamino hatte?«, will er wissen. Ich verenge die Augen zu Schlitzen. »Wieso sollte es dafür eine Strafe geben? Ich hab gesagt, dass du weiter mit ihm rummachen kannst, wenn du willst. Und er will ja offenbar auch. Was für ein Wichser wäre ich, wenn ich mich da einmische?« Cem stößt gestresst Luft zwischen den Lippen hervor und nimmt sein Cap ab, um sich durch die Haare zu fahren. Er wartet, bis zwei Jogger an uns vorbeigezogen sind, dann beugt er sich ein Stück vor. Ich lehne mich ihm entgegen und befeuchte meine Lippen mit der Zunge, was mich unweigerlich wieder an die Situation mit Tamino erinnert. »Er ist dir hinterher und als er wieder zurückkam, sah er aus wie ein Zombie, also hab ich ihn auf eine von den Bänken bugsiert. Er hat gesagt er braucht mehr Alkohol. Also hab ich ihm noch mehr Rum Cola besorgt«, sagt Cem. Ich stöhne und fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht. Fuck. »Ich hab keine Ahnung, wo er all diesen Alkohol hinsteckt, Alter. Er ist wie’n bodenloses Loch. Auf Parties von der Mannschaft wär er’n absoluter Renner. Naja. Jedenfalls war er super hacke und meinte, ich soll mit Anish knutschen gehen, während er sich volllaufen lässt. Und ich meinte erst, dass ich ihm Gesellschaft leisten kann, aber er hat gesagt, er wär miese Gesellschaft und dann hab ich ihn erstmal in Ruhe gelassen«, fährt Cem fort. Mein Gehirn hat Schwierigkeiten mitzuhalten, weil es damit beschäftigt ist, sich jedes winzige Detail der Situation vorzustellen. Ich hab genau vor Augen wie Tamino Glas um Glas in sich hereinschüttet. Wie er Cem sagt, dass er gehen soll. Wie er— »Wer ist Anish?«, will ich verwirrt wissen. Cems Gesicht wird noch ein bisschen dunkler. »Grünes Shirt«, entgegnet er knapp und ich wühle durch meine Erinnerungen, bis ich mich an den jungen Mann mit Zungenpiercing entsinne. »Oh. Oh! Moment, heißt das—« Cem zuckt mit den Schultern. »Ich war ziemlich voll und hab ihn gefragt, ob er tanzen will. Wir haben zwei Lieder miteinander getanzt, ich hab ihm meine Nummer ins Handy gespeichert. Keine Ahnung, Alter. Ich war hackedicht. Er war scharf. Er hat ein beknacktes Zungenpiercing.« Cem hebt die Hände in einer Geste der Resignation und mir brennt die Frage auf der Zunge, ob Anish ihm geschrieben hat oder nicht. Es stellt sich die Frage, ob ich ehrlich interessiert an Cems Liebesleben bin, oder ob ich unterbewusst will, dass sein Liebesleben sich mit wem anders als mit Tamino beschäftigt. Als ich gesagt hab, er soll ruhig weiter mit Tamino rummachen, hab ich es absolut ernst gemeint. Ja, mein Brustkorb fühlt sich merkwürdig an beim Gedanken daran, dass Cem und Tamino Sex hatten, aber es fühlt sich anders an als die Eifersucht, die ich auf meiner Geburtstagsfeier empfunden habe. Weiß der Geier, was es zu bedeuten hat. Ich hab keine Ahnung, was meine dämlichen Gefühle bedeuten. Gefühle sind der Feind. Wieso kommen sie nicht mit Bedienungsanleitung, huh? Nein, stattdessen tappt man total im Dunkeln und hat keine Ahnung, was irgendwas soll oder bedeutet oder— »Hat er schon geschrieben?«, frage ich. »Nee.« »Oh.« Cem zuckt mit den Schultern. »Ich bin nach zwei Liedern zurück zu Tamino, der übrigens kaum noch stehen konnte. Ich hab gesagt, dass ich ihn nach Hause bringe. Dann hab ich gefragt, ob seine Eltern sauer werden, wenn er so hacke nach Hause kommt. Und dann ist alles ziemlich den Bach runter gegangen, weil er dann nämlich erst mitten in die Innenstadt gekotzt hat und dann anfing darüber zu weinen, dass er ein schlechter Mensch ist.« Oh mein Gott. Ich versuche mir vorzustellen, wie Cem sehr bemüht war, dieses Drama irgendwie zu regeln. Während Feli mich getröstet hat wie ein Champion, war Cem mit Tamino absolut überfordert. Die beiden haben sich ihren Abend sicherlich ein wenig anders vorgestellt. »Ich hab ihn gezwungen sich mit mir’n Döner zu teilen und nen halben Liter Wasser zu trinken. Dann hat er gesagt, dass seine Mutter tot ist und sein Vater sich einen Scheiß für ihn interessiert. Dann—bist du sicher, dass du alles wissen willst?«, fragt Cem mit gerunzelter Stirn. Ich nicke sehr energisch. Mein Herz fühlt sich an wie ein Betonklotz. »Dann hat er eine ungefähr zehn minüte Rede darüber gehalten, was für ein wunderbarer Mensch du bist und dass er dich nicht verdient hat«, fährt Cem mit einem schweren Seufzen fort und ich stelle mir die beiden irgendwo in der Innenstadt auf einem Brunnenrand vor, wie sie einen Döner teilen und Tamino mit Schluckauf und tränennassem Gesicht einen Monolog darüber hält, wie wunderbar— Fuck. »Dann wird alles n bisschen schwammig. Hab ich schon erwähnt, dass ich echt voll war? Also. Ich hab ihn nach Hause gebracht. Und dann dachte ich, ich könnte nett sein und hab gefragt ob ich warten soll, bis er im Bett ist. Und er ist Zähne putzen gegangen und duschen und es war die ganze Zeit n bisschen so, als würde man ‘nen Roboter beobachten, zumindest bis er wieder aus dem Bad zurück kam.« Ich sehe, wie der Rotton, der sich mittlerweile wieder etwas verflüchtigt hatte, sich erneut verdunkelt. Cem kramt nach einer weiteren Zigarette, ein deutliches Anzeichen dafür, dass er nervös ist. »Und ich wollte eigentlich gehen, ja? Ohne Scheiß, man«, schwört Cem und zündet seine zweite Zigarette an. Er sieht ziemlich gequält aus. »Und dann—ähm. Dann kam eines zum anderen. Mein Gehirn hat sich einfach ausgeschaltet. Und dann—ja. Sex. Boom. Ende der Geschichte«, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust, die Kippe zwischen den Lippen. Ich horche in mich hinein. Keine Eifersucht. »Ok«, sage ich. Cem blinzelt. »Ok?« Ich zucke mit den Schultern. »Ich hab gesagt, dass du weiter mit ihm—du weißt schon. Ich habs so gemeint. Und ganz ehrlich? Sex ist mir einfach ‘n bisschen... naja. Wie soll ich sagen. Es ist mir halt einfach ziemlich egal?« Ich weiß, dass das anders wäre, wenn Gefühle im Spiel wären. Ich weiß, dass mich auf meiner Geburtstagsfeier alles an der Szene gestört hat, die ich gesehen habe. Aber es herrscht irgendwie eine seltsam gespaltene Gefühlswelt darüber, dass ich Cem und Tamino heiß miteinander finde, aber dass Sex insgesamt nicht so richtig in meinen Interessenkreis fällt. Ich bin immer noch dabei, diese ganze Demisexualitätssache zu durchschauen. Bislang kann ich nicht sagen, dass ich sonderlich viel Glück hatte. Dann wiederum ist es wahrscheinlich auch egal. Ich fühle mich, wie ich mich fühle. Punkt. »Ich hätt’s vielleicht nich‘ so stumpf bei WhatsApp erzählen sollen«, meint Cem. Er hat seine Arme aus der Verschränkung gelöst und klopft ein wenig Asche von seiner Kippe ins Gras. »Schon ok. Ich glaube, wir waren einfach ganz schön dumm gestern«, meine ich. Wir schweigen wieder eine Weile und ich merke, dass ein ganzes Stück der Spannung aus meinem Körper entweicht. Wenigstens ist es zwischen Cem und mir weiterhin unkompliziert. Vielleicht nicht ganz so umkompliziert wie früher als es immer nur um Alkohol und Fußball ging, aber ich glaube, das würde ich auch nicht mehr wollen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und die Frage, die mir auf der Zunge brennt, bricht aus mir heraus. »War’s gut?« Cem blinzelt und ich sehe ihn schlucken. Dann läuft Cem noch ein wenig dunkler an und... nickt. Ich muss lachen, weil er so beschämt aussieht und gleichzeitig sehr zufrieden. »Aber«, sagt er und schaut mich gespielt streng an. »Für irgendwelche Details muss ich wirklich besoffen sein. Das erzähl ich nicht nüchtern.« Ich schnaube und hebe die Augenbrauen, aber Cem blickt unnachgiebig zurück. »Na schön. Aber ich brauch erstmal ‘ne Pause vom Saufen«, gebe ich zurück. Cem summt zustimmend und zieht erneut an seiner Zigarette. »Redest du heute noch mit Tamino?«, will er wissen. In mir breitet sich ein kleines Eismeer aus. Cem sieht wohl, dass mir bei der Aussicht mit Tamino zu reden ziemlich schlecht wird, denn er boxt mir gegen den Oberarm. »Alter. Bist du sicher, dass er nicht auf dich steht?« »Jup«, krächze ich. »Du hast seine Ode an Julius nicht gehört«, gibt Cem zu bedenken. Ich merke, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt. »So redet er über all seine Freunde«, murmele ich. »Vielleicht solltest du ihm sagen, dass du in ihn verknallt bist. Wie willst du das Desaster sonst erklären?« Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Was soll ich sagen? ‚Hey Tamino, ja, ich hab da n bisschen geheult und und bin total durchgedreht, weil du mich küssen wolltest. Einfach so. Ist ja normal. Haha.‘ »Vielleicht wandere ich auch einfach nach Italien aus«, stöhne ich und vergrabe mein Gesicht in den Händen. »Gute Strategie. Ich bin sicher, in Italien gibt’s keine hübschen Jungs mit Brille und langen Beinen, in die du dich verlieben kannst«, gibt Cem amüsiert zurück und ich schubse ihn kurzerhand von der Parkbank. Während er im Gras liegt und lacht und ich dem Drang widerstehen muss, ihn noch mal ordentlich zu treten, komme ich zu dem Entschluss, dass ich unmöglich mit Tamino über diese Sache reden kann. Es gibt keine Erklärung für mein Verhalten außer die eine, die ich ihm nicht geben kann. Also krame ich mein Handy aus der Tasche und öffne den WhatsApp-Chat mit Tamino. Dabei versuche ich krampfhaft nicht Taminos letzte Nachrichten von gestern zu lesen, weil sie dazu führen, dass mein Brustkorb sich vor lauter schlechtem Gewissen zusammenzieht. »Hey, kein Stress wegen gestern. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat. Ich glaub, ich bin einfach n bisschen überfordert mit allem. Sorry, dass ich abgehauen bin! Bis morgen!« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)