Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 36: Konsequenzen ------------------------ Fuckfuckfuckfuckfuckfuck— »Julius?« Die Backsteinmauer in meinem Rücken fühlt sich kalt und unnachgiebig an und sie ist der einzige Halt in einer Welt, die sich sehr schnell dreht, während mein Herz Tätowierungen gegen meine Rippen hämmert. Wahrscheinlich buchstabiert es Taminos Namen. Die behutsame Aussprache meines Namens lässt mich den Kopf drehen. Feli ist mir nach draußen gefolgt, ihr geflochtener Zopf hat sich bei all dem Tanzen etwas in Wohlgefallen aufgelöst und ihr glitzerner Lidschatten hat eine sanft funkelnde Staubschicht auf ihren Wangen hinterlassen. Sie sieht ein bisschen aus wie eine Fee. »Hey«, krächze ich. Feli kommt zu mir und lässt sich neben mir auf dem kalten Asphalt des Gehwegs nieder, ehe eine ihrer Hände sich vorsichtig auf meine Schulter legt. »Ist alles ok?«, fragt sie besorgt. »Ich hab gesehen, wie du Hals über Kopf geflüchtet bist. Ist dir schlecht?« Meine Stimme geht irgendwo auf dem Weg an meiner Zunge vorbei verloren und ich gebe nur ein klägliches Geräusch von mir, während ich immer noch krampfhaft versuche den Aufruhr in meinem Brustkorb zu beruhigen. Fast hätten wir uns geküsst. Tamino hätte mich fast geküsst. »Ähm«, bringe ich hervor. »Ich—« Ich bin wirklich ziemlich hacke. »Julius«, sagt Feli noch mal, so sanft, dass ich unweigerlich aufschaue und sie ansehe. »Du weinst.« »Huh?« Ich weine nicht. Ich hab seit Jahren nicht geweint. Ich glaube nicht, dass ich mich so richtig dran erinnern kann, wann ich das letzte Mal— Oh. Als ich meine Hand zu meinem Gesicht hebe, merke ich, dass meine Wangen definitiv nass sind. Felis Finger wischen behutsam ein paar Tränen fort, aber aus unerfindlichen Gründen führt das nur dazu, dass noch mehr davon auftauchen. Was zum Teufel? Ich weine nie. Vielleicht hab ich das letzte Mal geweint, als mein Vater aus unserem Leben verschwunden ist. Das ist so viele Jahre her. Und ich war dabei garantiert allein in meinem Zimmer und nicht auf einem öffentlichen Gehweg mitten in der Innenstadt vor einer queeren Bar, in der ich gerade fast Tamino geküsst hätte. Fuck. Fuck! Feli macht kurzen Prozess. Ohne zu wissen, was eigentlich los ist, krabbelt sie auf meinen Schoß, zieht mich zu sich und lehnt meinen Kopf so an ihre Schulter. Oder auf ihren Brustkorb. Ich glaube, ich heule Feli gerade in den Ausschnitt und ich verstehe nicht mal so richtig wieso eigentlich. Ihre Finger streichen behutsam über meinen Kopf. Sie riecht nach irgendeinem blumigen Parfum. Meine Arme haben sich selbstsändig gemacht und sich um Felis Oberkörper geschlungen und ich halte mich an ihrer kleinen, zierlichen Form fest wie ein Ertrinkender auf hoher See. Scheiße. Feli ist definitiv auch ziemlich betrunken, ich höre sie lallen während sie beruhigende Dinge gegen mein Haar flüstert. »Psscht, alles ist gut. Brauchst du irgendwas? Wir können einfach so hier sitzen bleiben«, murmelt sie. War weinen schon immer so anstrengend, oder hab ich einfach nur vergessen, wie es sich anfühlt? »Sollen wir gehen? Möchtest du nach Hause?« Sie fragt nicht warum ich weine. Oder warum ich abgehauen bin. Unweigerlich denke ich daran, dass die Jungs aus meiner Mannschaft vollkommen entsetzt darüber wären, dass ich mit dem Gesicht so dicht an Felis Ausschnitt bin und es überhaupt nichts Sexuelles damit auf sich hat. Dann erinnere ich mich daran, wie viele aus dem Jahrgang sie behandelt haben und dass ich nichts dagegen gesagt habe wie der beschissenste Feigling unter der Sonne. Und trotzdem hockt sie hier auf meinem Schoß und streichelt mein Haar und ich drücke sie noch ein bisschen fester, weil es mir so leid tut, dass ich sie nicht vor allen verteidigt habe. »Ich weiß nicht«, bringe ich schließlich hervor. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Warum zum Teufel kann ich nicht aufhören zu heulen? Ich merke, wie Feli sich suchend umschaut. Ich frage mich, ob sie schaut, wo sie mit mir hingehen könnte, wo nicht irgendwelche wahllosen Passanten vorbeikommen und man nicht weit hin gehen muss. Leider ertönt in diesem Moment eine Stimme, die mich in einen ziemlich unbekannten Panikmodus versetzt. »Julius?« Tamino ist mir nachgekommen. Ich meine. Natürlich ist er das. Ich hab seinen beknackten Mund angestarrt und mir über die Lippen geleckt und mir nichts mehr gewünscht, als— Ich merke, dass Feli ihren Arm bewegt und ich glaube, dass sie vielleicht ihren Finger auf die Lippen legt. Selbst wenn Tamino mein Gesicht nicht sehen kann, muss ihm irgendwie klar sein, was hier gerade los ist. Die Vorstellung der absoluten Panik auf seinem Gesicht, dass er irgendwas falsch gemacht hat, bringt meinen Brustkorb dazu, sich schmerzhaft zusammenzuziehen, aber ich kann unmöglich mit ihm reden oder mich erklären, oder ihn ansehen. Also bleibe ich, wo ich bin und halte die Luft an. Ich kann mir die stumme Kommunikation zwischen den beiden nur vorstellen, aber schließlich höre ich Schritte und dann ist Tamino wieder verschwunden. »Er ist weg«, sagt Feli leise. »Wir können zu mir gehen. Ist nur fünf Minuten zu Fuß.« Ich nicke. Feli klettert von meinem Schoß und hilft mir aufzustehen. Ich denke eine Sekunde darüber nach, den anderen beiden zu sagen, dass wir gehen, aber ich hab keine Energie dafür. Feli nimmt mich bei der Hand und zieht mich durch die nächtlich belebten Straßen, während ich mit meinem Ärmel versuche mein Gesicht halbwegs unter Kontrolle zu kriegen und die dämlichen Tränen loszuwerden. Reiß dich zusammen, Juls. Das ist doch absolut lächerlich. Es ist nichts passiert. Nichts. Es dauert wirklich nicht lange, bis wir vor einem gelbgestrichenen Neubau mit quadratischen Fenstern und kleinen Balkonen ankommen und Feli einen Schlüssen aus ihrer Tasche kramt. Ich war noch nie bei ihr zu Hause. Ich weiß eigentlich so gut wie nichts über sie. Kommt sie gut mit ihren Eltern klar? Sind die noch zusammen? Hat sie überhaupt Geschwister? Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren. Es sind zu viele Gedanken mit zu viel Alkohol gemischt darin. Feli wohnt im ersten Stock und bugsiert mich kurzerhand durch einen kleinen, schmalen Flur in ein Zimmer ganz am Ende des Ganges. Und dann stehe ich zum ersten Mal in ihrem Zimmer. Es ist klein und vollgestopft und unordentlich ohne Ende. Irgendwie ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Feli navigiert mich an einem Berg Klamotten vorbei auf einen Sitzsack und verschwindet dann wieder aus dem Zimmer, ehe sie die Tür leise hinter sich schließt. Ich bin froh festzustellen, dass ich nicht mehr heule. Ein guter Anfang. Aber es ist immer noch ein schrecklicher Knoten in meinen Eingeweiden und mein Gehirn fühlt sich an, als wäre es auf Speed, während mein Körper einfach nur taub und müde vom Alkohol ist. Scheiße. Auf der Fensterbank stehen jede Menge Pflanzen und Blumen. Dumpf registriere ich eine offene Schublade, in der man Unterwäsche sehen kann. Die Stimmen meiner Mannschaftskameraden dröhnen durch meinen Kopf und ich schaue woanders hin. Das ist der Grund, wieso ich in diesem Zimmer sein darf. Weil ich nicht in dümmliches Grinsen verfalle im Angesicht von Felis Unterwäsche. Und wahrscheinlich, weil ich ein ganz netter Kerl bin. Außer wenn nicht. Ugh. Feli kommt zurück. Sie hat sich abgeschminkt und ihre langen Haare gekämmt und in einen unordentlichen Puschel auf ihrem Kopf zusammengebunden. Außerdem trägt sie eine Flasche Wasser in der Hand und reicht sie mir wortlos, ehe sie in ihrer Kommode anfängt nach irgendetwas zu kramen. Ich trinke die halbe Flasche Wasser und frage mich, wann genau mein Leben so aus den Fugen geraten ist. Du weißt genau, wann. Ich mache ein Geräusch wie ein sterbendes Nashorn als Feli plötzlich ihr Kleid über den Kopf zieht und auf einen der Kleiderhaufen auf dem Boden wirft. Mir fällt fast die Flasche runter, weil ich sehr eilends meine Augen zuhalte. Feli kichert. »Kein Stress. Ich weiß doch, dass du nichts von mir willst«, sagt sie sanft und als ich das nächste Mal gucke, hat sie ein großes Schlafshirt und eine karierte Pyjamahose an. »Süß«, sage ich, als ich den flauschigen Panda auf dem Shirt bemerke. Sie lächelt, dann wirft sie sich aufs Bett und schaut mich aus ihren großen, blauen Augen an. »Ich... äh... ich. Mag Jungs«, sage ich. Weil es natürlich genau das ist, was Feli sich die ganze Zeit gefragt hat. Nachdem ich mitten auf der Tanzfläche mit Cem geknutscht habe, kann sie sich vermutlich denken, dass ich zumindest nicht stockhetero bin. Sie legt den Kopf schief und nickt. »Ja. Das macht Sinn«, meint sie dann. Ich frage sie nicht, wieso sie findet, dass das Sinn macht. Ich nehme an, wenn ein Junge unter Feli sitzt und eine Stunde lang mit ihr knutscht ohne ein Rohr zu bekommen, dann ist das womöglich ein klares Anzeichen für Schwulsein oder Impotenz. »Nur Jungs?« Ich nicke. Sie summt verstehend und lächelt. »Möchtest drüber reden? Über eben?«, fragt sie. Sie lallt immer noch, aber ihre Augen sind seltsam fokussiert. Ich frage mich, wie oft sie schon betrunken heulende Leute getröstet und ihnen ein offenes Ohr angeboten hat. Ich ziehe die Schultern hoch und starre auf meine Schuhe. »Ich glaube nicht, dass ich selber weiß, was eigentlich ist«, murmele ich schließlich. Feli rutscht auf dem Bett zur Seite und klopft neben sich auf die Matratze. Ich kicke meine Schuhe von den Füßen und hocke mich neben sie aufs Bett, aber sie hat offenbar ein paar Nachhilfestunden von Tamino genommen, denn sie zieht mich nach unten in eine liegende Position und umarmt mich von der Seite. »Ok?« »Hmhm«, nuschele ich. Ich glaube Tamino hat mich ganz generell in ein körperkontakthungriges Monster verwandelt. Feli zuppelt an meinem Zopfgummi und wirft es neben das Bett. »Weich«, stellt sie fest, als sie durch meine Haare fährt. Ich tätschele prüfend ihren Knoten. »Selber«, gebe ich zurück. Sie kichert leise. »Wir können auch einfach schlafen, wenn du willst«, sagt sie schließlich nach einer Weile des Schweigens. »Ich bin in Tamino verliebt«, platzt es aus mir heraus. »Oh«, haucht Feli. Sie richtet sich halb auf und stützt sich auf ihrem Ellbogen ab, sodass sie zu mir herunterschauen kann. »Ohhh...« Ich schlucke. Keine Ahnung, ob das mein dummes Verhalten erklärt. Ich hab keine Ahnung, wie dieser ganze Scheiß funktioniert, aber mein Gehirn ist neblig und schwimmt in irgendetwas, das vielleicht irgendein Kräuterschnaps war. »Weiß Cem das?«, fragt Feli mit gerunzelter Stirn. Ich weiß sofort, wohin ihre Gedanken gegangen sind. »Ja. Ja, ich—äh. Ich habs ihm erzählt. Aber ich hab. Er... ich hab gesagt, dass er nicht aufhören muss mit. Ähm. Mit Tamino rumzumachen.« »Was? Warum? Ist er nicht dein bester Kumpel?« »Ja. Deswegen. Die beiden sind scharf aufeinander. Solange sie nicht ineinander verknallt sind... macht es ja nichts«, krächze ich. Es ist heiß, denke ich stumm bei mir. Es ist heiß den beiden zuzuschauen. Das werde ich lieber nicht laut sagen. Feli hat die Stirn immer noch gerunzelt und scheint darüber nachzudenken. »Und vorhin auf der Tanzfläche... ich hab euch gesehen«, meint sie leise. Ich friere ein und hole tief Luft. »Er wollte... wir hätten fast—« Ich lege meinen Unterarm über meine Augen und versuche sehr angestrengt, das Prickeln in meinen Augenwinkeln zu ignorieren. Fuck, Julius. Was ist dein beschissenes Problem? »Willst du ihn nicht küssen?«, fragt Feli ganz behutsam. Als wäre ich was Zerbrechliches. Und fuck, vielleicht bin ich zerbrechlich. Ich hab keine Ahnung mehr, was eigentlich los ist. Mit sehr großer Anstrengung ziehe ich den Arm von meinem Gesicht und schaue sie an. Ich spüre, dass meine Augen schon wieder feucht sind. »Es würde nichts... es wäre nur—es wäre nur«, ich breche ab und schlucke mehrmals. Felis Gesichtsausdruck ist so zärtlich, dass ich allein deswegen direkt wieder anfangen möchte zu heulen. »Und. Er würde es merken. Er würde es sofort merken, wenn ich ihn küsse. Dass ich in ihn—dass ich... Wahrscheinlich werde ich ohnmächtig, wenn er mich küsst. Ich dreh durch, wenn ich nur seine bekloppten Unterarme angucke. Er hat—er hat gefragt, ob er mich küssen kann, vorher. Auf die Stirn. Und ich bin fast aus der Haut gefahren. Ich glaub, ich dreh durch«, krächze ich heiser und muss mein Gesicht jetzt doch wieder verstecken. Fuck. Gefühle sollten dringend abgeschafft werden. Ich würde sie gerne deinstallieren. Umtauschen. Loswerden. Mein Herz fühlt sich tonnenschwer und hyperaktiv zur gleichen Zeit an. Beim Gedanken an Taminos Augen, die sich in meine gebohrt haben und die meinen Mund angesehen haben, als würde... als würde er mich so dringend küssen wollen. Single und notgeil. Das hat er gesagt. Darum geht es. Guckt man so jemanden an, wenn man nur notgeil ist? Ich hab keine Ahnung, wie dieser Scheiß funktioniert, weil ich nicht zur notgeilen Brigade gehöre und diese ganze verfickte Scheiße mit sexueller Anziehung überhaupt keinen Sinn in meinem Kopf ergibt. Warum bist du so bescheuert, Julius? Warum kannst du nicht normal sein und mit deinem Schwanz denken und dich nicht so anstellen? »Aber vielleicht mag er dich auch?« »Nein«, sage ich sehr leise. »Sicher?«, fragt Feli zweifelnd. »Sicher«, flüstere ich. »Das tut mir sehr leid«, flüstert sie zurück und legt sich wieder neben mich, der Kopf an meiner Schulter. »Kann ich hier pennen?«, frage ich heiser. »Na klar«, sagt sie. Ich merke kaum, wie Feli noch mal aufsteht und das Licht ausmacht und dann die Bettdecke über uns ausbreitet. Meine Gedanken beim Wegdämmern drehen sich um Taminos Mund und seine dunklen Augen und die Art, wie er mich angesehen hat. * Als ich aufwache, bin ich sehr desorientiert. Ich habe jemanden im Arm, aber es ist nicht die Person, die ich sonst im Arm habe, wenn ich aufwache. Es dauert ein paar Herzschläge, bis mir einfällt, dass ich bei Feli im Zimmer bin. Weil ich gestern geflennt habe wie ein Schlosshund. Weil. Fuck. Ich krame fahrig nach meinem Handy in meiner Hosentasche. 17 ungelesene Nachrichten aus drei Chats. Fuck. Cem ALTER WFT Cem *WTF Cem wieso bist du abgehauen Cem alles ok? Cem ALTER, ICH HOFFE DU HAST EINNE FUCKING GUTEN GUND Cem wenigstens hat feli moch alle tasssen im schrank du arsch Cem wenn sie nich geschreb hätte könntest duauch iwo im graben liegen du penner Cem *grscheieb Cem *geschrieben Cem fuck Cem und weißte;ich werd jetzt sex haben ud nich mehr über dich nachdenken Ich schlucke, plötzlich hellwach. Dann öffne ich den nächsten Chat. Mari hey juls kommst du heute noch nach hause Mari ich hab mama jetzt gesagt dass du bei tamino pennst damit sie sich keine sorgen macht, aber ich wüsst schon gerne, ob alles ok ist. Normalerweise schreibt tamino mir wenn du bei ihm pennst Mari ich hab grad tamino angerufen und was zum henker ist passiert? UND WO BIST DU? Mari Ok, nvm hab mit cem telefoniert. Der übrigens echt pissig klang. Danke an feli dass wenigstens einer mitgedacht hat -.-‘‘‘‘‘ Es kostet mich eine ganze Minute, bevor ich mich dazu durchringen kann, den letzten Chat zu öffnen. Tamino es tut mir wahnsinnig leid, es war eine beknackte idee, ich wollte nicht dass dud ich wegen mir schlecht fühlst, ich hab nich nachgedacht. bitte sei nicht sauermes tutm ir wirklicj leid Tamino fuckwo seid ihr hin? is alles ok?es tut mir wirklich leid Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Was um alles in der Welt hab ich mir dabei gedacht einfach abzuhauen? Feli schläft noch neben mir, den Mund leicht geöffnet und ihr Haar, das sich aus dem Knoten gelöst hat, liegt wie ein Schleier ausgebreitet über dem Kissen. Mir wird klar, dass sie meinen Arm im Schlaf umarmt und mir wird sehr warm vor lauter Zuneigung. Der nächste, der sie beleidigt, kriegt von mir dermaßen auf die Fresse... Ich möchte sie nicht wecken, aber ich muss auch dringend pinkeln. Und ich muss sehr dringend nach Hause und irgendwie. Alles regeln. Und mich entschuldigen. Und nicht mehr so viel Alkohol trinken, wenn mir dann mein Leben so entgleist. Was zum Teufel, Juls. Ich schreibe Mari hastig eine Nachricht, dass soweit alles ok ist und ich bald nach Hause komme, dann setze ich mich auf und ziehe eine Grimasse angesichts der hämmernden Kopfschmerzen und der Welle von Übelkeit, die mich überkommt. Nächstes Mal einfach wieder nur Bier, Juls. Oder Wasser. Bilder fluten mein Gehirn von letztem Abend. Von Tamino in seinem Hemd und »Kann ich dich küssen?« und Cem und Tamino beim Knutschen und Tamino und Feli beim Tanzen und Cems Lippen auf meinen und Taminos Augen, als— Fuck. Feli macht ein verschlafenes Geräusch und setzt sich auf. Sobald sie die Augen auf hat, schüttele ich sie leicht an den Schultern. »Was zum Teufel hab ich mir gedacht?«, frage ich. Sie blinzelt mich verwirrt an, ihre langen Haare vollkommen durcheinander. »Was?« »Wir sind einfach gegangen! Und ich hab nichts gesagt! Und Tamino macht sich tausend Vorwürfe! Und du hast nicht mal die Handynumer von deiner Barkeeperin bekommen!« »Huh? Oh! Doch, hab ich! Und ich hab Cem und Tamino später geschrieben, dass wir zu mir gehen«, sagt sie. Ihre Stimme ist schlaftrunken und unter ihrem linken Auge ist ein bisschen von ihrer Wimperntusche übrig geblieben. »Oh. Ok. Ähm. Wo ist das Klo?« Feli lacht und reibt sich die Augen. »Nächste Tür links«, nuschelt sie und sinkt wieder ins Kissen, während ich aus dem Bett klettere und im Bad verschwinde. In meinem Kopf findet eine Dauerschleife aus »Fuckfuckfuckfuck« statt und ich versuche mich mit Wasser im Gesicht und einem neu gebundenen Zopf halbwegs präsentierlich aussehen zu lassen. Als ich die Badtür öffne, gucke ich direkt in das Gesicht einer Frau, die mir vollkommen unbekannt ist. Sie starrt mich an. »Ähm«, sage ich und blinzele erschrocken. Sie ist groß und stämmig und ich denke, sie könnte vielleicht Felis Mutter sein, aber sie wirkt etwas jung dafür. »Felicitas!«, ruft die Frau streng und ich zucke zusammen. Felis Zimmertür geht auf. »Huh?« »Warum ist ein Junge in unserer Wohnung?« »Das ist Juls. Er ist in Ordnung«, sagt Feli immer noch sehr müde. »Ist er in Ordnung genug, um anständig zu verhüten?« »Boah, Andrea«, sagt Feli empört und ich bin sicher, dass ich jeden Augenblick sterben muss vor Scham. »Ich bin schwul«, platzt es aus mir heraus und Andreas Augen huschen zu mir herüber. Sie hat einen sehr stechenden Blick und definitiv dieselben blauen Augen wie Feli. »Oh«, sagt sie und zuckt schließlich mit den Schultern. »Dann ist ja gut. Herzlich willkommen.« Ich schaffe ein sehr beschämtes Lächeln und flüchte mich dann zu Feli ins Zimmer, um das Bad freizumachen. »Tut mir leid. Ich hab vergessen, dass das passieren kann«, sagt Feli peinlich berührt und öffnet das Zimmer in ihrem Fenster. »Ist sie—«, fange ich an. Deine Mutter? Was für eine bekloppte Frage. »Meine Tante«, sagt Feli, immer noch mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen. Wieder mal fällt mir auf, dass ich nichts über sie weiß. Außer ihre Ansichten bezüglich Medienkritik, Riverdale und dass sie ein sehr, sehr netter Mensch ist. »Oh. Ok«, gebe ich matt zurück. Dann seufze ich. »Ich glaube, ich sollte verschwinden. Bevor irgendwer mich noch erwürgt«, sage ich und sie lächelt mich an und nickt. »Ok. Dann komm gut heim. Ich hoffe—ähm. Ich hoffe es wird alles ok. Mit Tamino«, sagt sie. Ich schlucke schwer und ziehe die Schultern hoch. Im Moment weiß ich nicht, wie genau das klappen soll, aber ich bin sicher, es wird sich schon irgendwie hinbiegen. Wenn es sich nicht hinbiegt, muss ich das Land verlassen und als einsamer Ziegenhirte irgendwo in den Bergen ein neues Leben anfangen. Kein Abistress, keine Krisen über Sexualität, kein Tamino. Kein Tamino. Fuck. Ziegenhirte sein wäre echt scheiße, wenn Tamino nicht da wäre. Wow, Juls. Du hast ein echtes Problem. Obwohl mir immer noch schlecht ist, laufe ich nach Hause. Als ich ankomme, ist Mari nicht da und Mama fragt, wie es gestern Abend war. Ich würge ein »Gut« hervor und stürze unter die Dusche, um mir weitere Fragen zu ersparen. Nach zwanzig Minuten unter der Dusche, geputzten Zähnen und einem sehr großen Frühstück, das aus Resten vom gestrigen Nudelauflauf besteht, geht es mir schon besser und ich kann mich mit meinem Handy in mein Zimmer zurückziehen, um Tamino und Cem auf ihre Nachrichten zu antworten. Sobald ich die Tür geschlossen und mein Handy hervorgekramt habe, sehe ich eine neue Nachricht von Cem. »Ok. Ich war super angepisst gestern. Und richtig besoffen. Sorry für die tausend Nachrichten. Und ich muss mich bei dir entschuldigen, weil ich offiziell der mieseste beste Kumpel bin.« Ich blinzele verwirrt und antworte nur »Wieso das?«. Die Antwort kommt sofort. »Ich hab gestern geschrieben, dass ich Sex haben werd. Hatte ich. Mit Tamino.« Oh. 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