Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 35: three's not a crowd ------------------------------- Julius bleibt den ganzen Samstag und Sonntag. Wir bestellen experimentelle Pizza—will heißen, wir lassen Anni Nummern durchgeben und gucken dann, was für Pizzen das auf der Karte sind—und Julius erbarmt sich, die Oliven zu essen, die auf meiner Pizza sind. Dafür gibt er mir von seinen Champignons ab, die er zwar isst, aber nicht besonders umwerfend findet. Ich lese ihm mehrere Kapitel aus Ari und Dante vor während er mit dem Kopf auf meinem Schoß liegt. Wahrscheinlich sollten wir eigentlich noch ein bisschen Französisch machen, aber ich bin zu erschöpft, um große Geistesleistungen zu erbringen. »Wenn ich das alles so höre, denke ich mir, dass die beiden eigentlich ein Paar sein sollten«, murmelt Julius am Ende eines der Kapitel und ich blinzele, bis mir einfällt, dass Julius nicht weiß, was das Buch eigentlich noch so beinhaltet. Mein Schnauben lässt ihn die Augen aufschlagen. »Was?« »Du Romantiker«, sage ich amüsiert. Er wird augenblicklich rot und schnaubt. »Was? Sie sind... sie passen!« »Das tun sie«, sage ich verschmitzt. Julius schaut mich misstrauisch an. »Stirbt etwa einer von beiden? Alter, ich bin nicht bereit für noch so’n Spock und Kirk Drama!« Ich muss lachen und halte mir die Hand vor den Mund. »Nein. Nein, niemand stirbt. Alles wird gut«, beschwichtige ich ihn und er sieht ein wenig beruhigt aber immer noch misstrauisch aus. »Ist deine Familie nicht eigentlich sauer, weil du immer tagelang bei mir rumhängst?«, erkundige ich mich nach einer Weile und lege das Buch behutsam zur Seite, nachdem ich ein Lesezeichen hineingelegt habe. »Nah. Ich glaub, meine Mutter ist immer noch begeistert, dass ich so einen schlauen Freund habe. Du hast ‘nen guten Einfluss, meint sie.« Ich ziehe verlegen die Schultern hoch. »Na, ich weiß ja nicht«, murmele ich. Julius grinst. »Alter, ich lerne jeden Abend ne halbe Stunde Vokabeln wegen dir, meine Mutter würde dir den Mond vom Himmel angeln, wenn du danach fragts, ok? Sie ist Vorsitzende des Tamino-Fanclubs«, fährt Julius fort und ich merke, wie mir Hitze in den Kopf steigt. Julius imitiert jetzt die schmachtende Stimme seiner Mutter. »‘Tamino ist so ein guter Junge, Julius, ich bin ganz glücklich, dass das mit der Nachhilfe geklappt hat‘.« Ich lege meine Hand auf Julius‘ Mund, um ihn am Sprechen zu hindern. Seine grünen Augen finden meine und wir schauen uns eine Weile lang schweigend an. Ich stelle fest, dass Julius‘ Lippen ziemlich weich sind und ziehe meine Hand zurück. »Du hast damals gesagt, ich hätte ihr absagen sollen«, erinnere ich ihn, um von meiner Erkenntnis abzulenken. »Ich war offensichtlich ein schwachsinniger Trottel«, gibt Julius schulterzuckend zurück und ich gluckse zufrieden, während Julius gähnt. Ich löse sein Haargummi und streiche ihm durchs Haar. »Vielleicht ein bisschen«, gebe ich amüsiert zurück und Julius streckt mir die Zunge raus. »Müssen wir noch was für die Schule machen, oder können wir noch mehr Star Trek gucken?«, fragt er schließlich und seine Stimme klingt sehr hoffnungsvoll. Ich weiß, dass wir eigentlich was machen sollten, aber ich kriege heute sowieso nichts mehr gebacken. Es ist ein bisschen so, als hätte ich einen Kater vom Gespräch über Moritz. Einen emotionalen Kater. »Ich krieg heute nichts auf die Reihe, fürchte ich. Von mir aus können wir mit Staffel drei anfangen«, sage ich und Julius‘ Gesicht hellt sich auf. Er rappelt sich auf und krabbelt vom Bett, ehe er aus meinem Zimmer verschwindet. Wahrscheinlich hat er sich auf die Suche nach Chips begeben. Mein Handy vibriert und ich öffne eine Nachricht von Feli. »Hey! Wollen wir nächstes Wochenende zusammen mit Cem und Juls einen trinken gehen?« »Woran hast du gedacht?«, antworte ich. Die Antwort kommt prompt. »Glaubst du, Juls geht mit uns in eine queere Bar?« Ich bin kurz verwirrt darüber, wieso er das nicht wollen würde, bis mir einfällt, dass Julius ja gar nicht geoutet ist. »Kannst ihn ja mal fragen«, schreibe ich zurück, als Julius mit zwei Tüten Chips und einer Flasche Fanta zurück in mein Zimmer kommt. Es macht mich sehr zufrieden zu sehen, wie selbstverständlich Julius sich in unserer Wohnung bewegt. Zum ersten Mal, seit wir hierher gezogen sind, hasse ich diese elende Wohnung nicht mehr und das ist alles Dank Julius. Er hat mir Ororo geschenkt. Er ist hier reingewandert und hat sich von Anfang an hier bewegt, als wäre er zu Hause. Mein Herz ist ganz warm während ich daran denke. Julius wirft die Chipstüten aufs Bett und kramt nach seinem Handy. Wahrscheinlich, weil Feli ihm gerade geschrieben hat. »Feli will mit uns in ‘ne Schwulenbar gehen«, sagt er leicht verwirrt. »Queere Bar. Aber ja. Sie hat mich auch schon gefragt«, sage ich. Julius wirft sich neben mich und stellt seine Fanta ab, während ich nach meinem Laptop angele. »Warum will sie da hin?« Ich zucke mit den Schultern und angele die DVDs vom Nachtschrank. »Ich meine... keine Ahnung, ob’s dir aufgefallen ist, aber die Jungs im Jahrgang sind alle eher eklig zu ihr. Vielleicht will sie mal in Ruhe Alkohol trinken und tanzen, ohne, dass ihr einer in den Ausschnitt sabbert«, murmele ich und schiebe die Disk ins Laufwerk. Julius summt verständnisvoll und reißt eine der Tüten auf. »Und? Gehen wir?« »Willst du denn?« Julius scheint darüber nachzudenken. »Ob Cem will?« »Wieso? Willst du wieder mit ihm rummachen?«, frage ich amüsiert und beobachte, wie Julius bis unter die Haarwurzeln rot wird. Es macht mir ein bisschen zu viel Freude ihn in Verlegenheit zu stürzen. Und es geht so einfach. »Nein! Vielleicht? Keine Ahnung!« Ich muss lachen und Julius bufft mich mit dem Ellbogen. Einen Moment lang sieht er aus, als würde er was sagen wollen, aber dann scheint er sich eines Besseren zu besinnen und klappt den Mund wieder zu, bevor er eine Antwort ins Handy tippt. Zwei Minuten später hat Feli eine neue Gruppe eröffnet und uns drei hinzugefügt. Feli yay! nächste woche in die wunderbar! wann habt ihr zeit? Cem huh?? wieso gehen wir in ne schwulenbar? Feli ich dachte, das könnte nett sein? Cem ich bin nich gerade das was man geoutet nennt Tamino ich kann euer alibi schwuler kumpel sein Cem julius? Julius ich mein. wenn feli und tamino wollen ¯_(ツ)_/¯ Feli ich hab so lang nich mehr getanzt :( Tamino wenn du mir genug rumcola kaufst, tanz ich mit dir Cem ok, das muss ich sehen Julius behalt die hosen oben, casanova Cem halt die fresse, wichser :P Julius schnaubt neben mir und wirft sein Handy zur Seite aufs Bett. Ich starte unterdessen die erste Folge der dritten Staffel. »Ob das alles so’ne gute Idee ist«, murmelt Julius. Nach unserer Aussprache fühle ich mich erstaunlich mutig. »Ich meine... wenn da irgendwo ein hübscher Kerl rumrennt, der gerne einen Blowjob hätte—« Julius lässt eine Hand voll Chips auf mein Bett fallen und ich lache schnaubend, während er sie mit hochrotem Kopf wieder einsammelt. »Wahrscheinlich laufen davon mindestens zwanzig Kerle rum«, krächzt er und schiebt sich die ganze Hand Chips auf einmal in den Mund. »Wenn Cem schon an dich vergeben ist, muss ich mich ja anderweitig umsehen«, sage ich schmunzelnd. Julius blinzelt und holt Luft, um etwas zu sagen, aber er überlegt es sich anders. Sein Gesichtsausdruck hat sich in etwas verwandelt, das ich nicht so richtig deuten kann. Aber immerhin ist das ganze Thema immer noch ziemlich neu für ihn, also lasse ich alle weiteren Bemerkungen stecken und starte die Folge. »Magst du ihn?«, fragt Julius mitten in der Folge. »Huh?« »Cem.« »Oh. Ähm. Naja. Ich mag ihn. Also... ich bin nicht verknallt. Aber er ist schon ziemlich...« Ich räuspere mich und mache eine schwammige Handbewegung. Julius mustert mich von der Seite. »Scharf?« Ich ducke mich und hüstele peinlich berührt. »Ja?« Julius verdreht schmunzelnd die Augen. »Er ist nicht übel«, sagt er gönnerhaft und ich schnaube, aber Julius scheint seltsam zufrieden über meine Antwort zu sein. * Julius und Cem sehen beide aus wie Rehe im Scheinwerferlicht. Selbst Cem, der normalerweise kein Problem damit hat, in jeder noch so stressigen Situation lässig zu wirken, hat leicht geweitete Augen und sein Mund steht halb offen, als wir die »Wunderbar« betreten haben. Feli sieht sehr aufgeregt und glücklich aus. Ich stehe nicht sonderlich auf Bars und Clubs, aber ich war schon öfter mal in einer queeren Bar. Wer hätte gedacht, dass ich jemals ein Partyveteran in einer Gruppe von Menschen sein würde. »Cem, mach den Mund zu«, sage ich amüsiert, lege einen Finger unter sein Kinn und klappe seinen Unterkiefer hoch. Cem blinzelt, schließt den Mund und schaut mich einen Moment lang verwirrt an, dann legt sich ein deutlicher Rotschimmer auf seine Wangen, bevor er sich wegdreht. »Oh... meine...«, murmelt Julius. Ich folge seinem Blick und entdecke etwas weiter hinten in der Bar ein Sofa, auf dem zwei junge Männer sehr innig miteinander knutschen. Ich muss lachen. »Geht ihr nicht dauernd auf diese fürchterlichen Abipartys und Geburtstagsfeiern, auf denen Heteros sich gegenseitig die Zunge in den Hals stecken?«, erkundige ich mich und navigiere den anderen voran Richtung Bar. Die »Wunderbar« ist in zwei Ebenen aufgeteilt. Oben befindet sich die Bar mit jeder Menge gemütlichen Sitzgelegenheiten, unten ist die Tanzfläche, von der man sehr laut MIKA herauftönen hören kann. Die Sessel, Stühle und Sofas hier sind alle bunt durcheinander gewürfelt und überall hängen Lichterketten, Glitzergirlanden und Fahnen in verschiedenen Pride-Farben. Es ist eine ziemlich coole Bar, die ich bislang immer nur von außen gesehen habe. »Alter, das hier ist wie ‘ne andere Welt«, sagt Cem. Die junge Frau hinter der Bar hat kurzgeschorenes Haar, einen Nasenring und trägt Hosenträger über ihrem roten Hemd. Feli sieht aus, als hätte sie gerade eine Vision von der heiligen Mutter Gottes gehabt. »Was darfs denn für euch sein?«, fragt sie freundlich. Ich schaue Feli fragend an, aber sie scheint nicht in der Lage, irgendwas zu sagen. Die Barkeeperin schmunzelt. »Zum ersten Mal hier?«, will sie wissen und ich weiß, dass wir alle synchron nicken. »Ich brauche. Sehr dringend. Ein Bier«, sagt Cem. Die Barkeeperin zeigt auf ihn. »Ein Bier. Und du?« Sie deutet auf Julius. »Irgendwas mit viel Alkohol drin«, sagt Julius mit belegter Stimme. Feli kichert. »Kann ich... gibt es irgendwas Süßes?«, fragt Feli. Ich halte mir die Hand vor den Mund, als die Barkeeperin sich vorbeugt, breit grinst und sagt »Sehr süß sogar«. Ich sehe, wie die Röte in Felis Gesicht steigt, als würde jemand heißes Wasser in ein Behältnis gießen. Es fehlt nur noch, dass ihr Rauch aus den Ohren kommt. »Rum Cola, bitte«, sage ich. Wann genau habe ich mich in das sozial kompetenteste Mitglied dieser Truppe verwandelt? Die Barkeeperin nickt immer noch sehr amüsiert und macht sich an die Arbeit, unsere Getränke zu mixen. Cem bekommt sein Bier als erstes hingestellt. Julius kriegt irgendwas, das vage bräunlich ist und sehr alkohollastig riecht, ich nehme mein Glas mit einem Lächeln entgegen und Feli bekommt einen rosa Cocktail mit Schirmchen, einer Scheibe Melone und einem Zwinkern. Es dauert keine ganze Minute, da hat Cem sein Bier geleert und sich ein zweites bestellt. Ich habe das Geld von Julius‘ Nachhilfe dabei und habe den anderen versprochen, sie davon einzuladen. Also drücke ich jetzt einfach jedem einen fünfzig Euro Schein in die Hand. »Es hat noch nie eine Frau mit mir geflirtet«, haucht Feli. Ich muss lachen und tätschele ihr beruhigend den Kopf. »Irgendwann ist immer das erste Mal. Und du siehst sehr gut aus«, sage ich. Sie lächelt mich schüchtern an und zieht ein bisschen die Schultern hoch. Ich glaube, Komplimente anzunehmen fällt ihr ziemlich schwer. Aber es stimmt. Sie trägt ein grünes Kleid und einen erstaunlich tiefen Ausschnitt dafür, dass sie normalerweise eher versucht ihre Brüste zu verstecken. Das Wunder einer queeren Bar ist natürlich, dass hier nicht alles von pubertierenden Heterojungs bevölkert ist und man deswegen ohne Sorge Dinge tragen kann, in die man sich sonst nicht hinein trauen würde. Ihr langes, braunes Haar ist geflochten und sie trägt einen besonders glitzrigen Lidschatten. Cem und Julius sehen schlichtweg aus wie immer. Ich hab ausnahmsweise ein dunkelrotes Hemd angezogen und die Ärmel hochgekrempelt—eine Tatsache, die meine Freunde zu Hause in Begeisterung versetzt hat. Wir suchen uns einen freien Platz an einem kleinen Tisch, der von mehreren Sesseln umgeben ist. Die knutschenden Jungs auf dem Sofa sind kaum einen halben Meter von uns entfernt. Cem hält sich sehr angestrengt an seinem Bier fest. »Ich gehe nur noch in queere Bars«, sagt Feli mit einem zufriedenen Seufzen und nippt an ihrem Cocktail, der in der Tat sehr süß und klebrig aussieht. Sie hat sogar einen Zuckerrand bekommen und alles. »Alles ok bei euch?«, frage ich etwas besorgt, weil Julius und Cem aussehen, als würden sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Ich nehme an, wenn man wie Julius gerade erst herausgefunden hat, dass man auf Männer steht, ist das alles etwas überwältigend. Aber Cem schien mir bisher nicht den Eindruck zu machen, als hätte er seine Bisexualität erst gestern entdeckt. Vor allem nicht, weil er die ganze Zeit wie ein Weltmeister mit mir geflirtet hat. »Ich weiß überhaupt nicht, wo ich hingucken soll«, sagt Julius mit großen Augen und ich muss schnauben. Cem hängt mit den Augen schon wieder an dem knutschenden Pärchen auf dem Sofa. »Alter. All die Möglichkeiten«, haucht er und ich höre ihn kaum über die laute Musik. Ah. Cem leidet schlichtweg unter notgeiler Reizüberflutung. Damit kann man ja arbeiten. Julius und Cem haben sich scheinbar vorgenommen, sich so schnell wie möglich abzuschießen. Feli beobachtet mich interessiert. »Wieviel Rum Cola, bis du mit mir tanzen gehst?«, will sie wissen. Ich muss lachen und schaue mein Glas an. Denn lege ich den Kopf in den Nacken und leere das Glas auf ex. Julius‘ Blick, der an mir haftet entgeht mir nicht. Als ich zu ihm herüber schaue, bemerke ich, dass Cem mich auch anstarrt. »Was?« Cem schnaubt und wedelt mit seiner Hand in meine Richtung. »Er möchte sagen, dass du sehr hübsch anzusehen bist«, erklärt Feli diplomatisch. Ich hüstele. »Das ist nicht unbedingt der Ausdruck, den ich benutzt hätte«, sagt Cem und zwinkert mir zu. Ich ziehe die Schultern hoch und beschließe, dass ich dringend zur Bar flüchten muss, um mir mehr Rum Cola zu besorgen. Die Barkeeperin erkennt mich wieder und grinst mir zu, ehe sie sich meiner Bestellung zuwendet. Ich frage mich, ob Feli sich vorstellen kann, was mit einer Frau anzufangen. Bisher hat sie darüber nichts gesagt. Ich schiebe die drei Gläser Rum Cola, die ich bestellt habe, zusammen und nehme sie behutsam in beide Hände, damit ich nichts verschütte. Als ich damit zurück zum Tisch komme, macht Julius Augen wie ein Auto. »Alter«, sagt er. »Feli will tanzen«, sage ich, als würde das alles erklären, setzte das erste Glas an und leere es mit wenigen Zügen. Er herrscht geschocktes Schweigen, während ich alle drei Gläser hintereinander leere und nacheinander wieder auf den Tisch vor uns stelle. »Was?«, frage ich. »Ok, ich muss irgendwen aufreißen«, sagt Cem, als hätte das irgendwas damit zu tun, dass ich drei Gläser Rum getrunken habe. Ich verstehe nur noch Bahnhof. Julius und Cem stecken die Köpfe zusammen und reden über irgendwas, das scheinbar nicht für Felis und meine Ohren bestimmt ist. Felis Augen kleben an der Barkeeperin auf der anderen Seite des Raum. »Mir war nicht klar, wie gut Frauen mit kurzen Haaren aussehen. Und Nasenringen. Und. Hemden«, sagt sie. Ich muss grinsen. »Hast du gerade ein sexuelles Erwachen?«, will ich wissen. »Vielleicht«, sagt sie, dann läuft sie scharlachrot an und vergräbt das Gesicht in den Händen. »Cem! Gehst du noch mal mit mir zur Bar?«, ruft Feli quer über den Tisch. Julius nibbelt immer noch an seinem scheinbar so stark alkoholischen Drink, das er immer nur kleine Schlucke nehmen kann, während Cem sein Bier bereits geleert hat. Er nickt und folgt Feli Richtung Bar. Ich nehme das zum Anlass mit meinem Stuhl zu Julius zu rutschen. »Alles in Ordnung?«, frage ich und beuge mich zu ihm herüber. Unsere Gesichter sind sehr dicht beinander und Julius blinzelt mir entgegen, dann sehe ich ihn schlucken. »Uh huh«, gibt er zurück. »Du siehst’n bisschen verängstigt aus«, erkläre ich. »Ist auch alles neu«, meint er verlegen und ich muss lächeln. Mein Herz fühlt sich an, als wolle es auf die doppelte Größe anschwellen, weil ich so viel Zuneigung zu diesem bekloppten Kerl empfinde, der Moritz Grätschen ins Gesicht androht und dann aussieht wie ein Hase vor der Schlange, wenn er in eine queere Bar geht und Männer miteinander knutschen sieht. Nach vier so schnellen Gläsern Rum Cola spüre ich definitiv ein angenehmes Kribbeln. »Kann ich dich küssen?«, frage ich. Julius zuckt so heftig zurück, dass ich hastig meine Hände hebe, um ihn zu beschwichtigen. Oh, meine Güte. Tamino, benutz deine Worte. »Auf die Stirn! Oh Gott, sorry!« Julius‘ Augen sind wenn möglich sogar noch runder geworden und das Rot seiner Haut reicht bis unter die Haarwurzeln. »Vergiss es, ich—das war. Ich wollte nicht—es war nur. Manchmal finde ich dich sehr wunderbar und—ähm«, stammele ich verlegen und ich sehe, wie Julius‘ Gesichtsausdruck schmilzt und er mir ein sehr kleines Lächeln schenkt. »Du musst nicht fragen«, meint er. »Wir sind in der Öffentlichkeit«, erinnere ich ihn. Er zuckt mit den Schultern und schaut sich um. »Nicht so richtig«, meint er und ich verstehe, was er meint. Es ist ein geschlossener, sicherer Raum. Die beste Art von Raum. Ich lehne mich vor und drücke Julius einen Kuss auf die Stirn, gerade als Cem und Feli zurück kommen. »Fangt ihr jetzt etwa auch an?«, will Cem mit leuchtenden Augen wissen und sieht zwischen uns hin und her. »Keine Bange«, gebe ich amüsiert zurück und nehme das neue Glas Rum Cola entgegen, das Cem mir mitgebracht hat. Julius hat offenbar beschlossen, dass er sein Glas schneller leeren muss, denn er sieht sein Getränk sehr entschlossen an und kippt es dann in einem Rutsch. Es vergeht noch etwa eine halbe Stunde, in der wir öfter zur Bar rennen, als es wahrscheinlich vernünftig ist, aber Feli bekommt noch zwei Komplimente von der Barkeeperin und wird immer kicheriger, während Cems Augen mittlerweile auch definitiv glasig sind und ich fühle mich nach noch zwei Rum Cola definitiv nicht mehr zu ängstlich, um mit Feli zu tanzen. Also verlegen wir unseren Sitzplatz nach unten, wo an den Wänden jede Menge Sessel und Bänke stehen. »Ok, also. Was für Kerle findest du scharf?«, will Feli von Cem wissen, als wir uns niederlassen. Weil nicht so viel Platz ist, klopfe ich auf meine Schenkel, damit Feli sich auf meinen Schoß setzen kann. Wir sitzen so jetzt zwischen Julius und Cem. »Tamino zum Beispiel«, sagt Cem mit leichtem Lallen und ohne jegliche Scham. Ich stammele ohne Worte vor mich hin und verstecke mein Gesicht an Felis Rücken während Julius amüsiert schnaubt. »Julius ist auch nicht so übel«, sagt Cem freiweg und jetzt ist es an Julius zu hüsteln. »Ich meine. Ich versteh, was du meinst. Aber sonst so?«, sagt Feli absolut ungerührt. Cem nimmt sich Zeit sich umzuschauen. Es sind unter anderem mehrere Drag Queens und ein junger Mann mit einer pinken Federboa auf der Tanzfläche. »Der im grünen Shirt ist nicht übel«, sagt Cem schließlich und ruckt mit dem Kopf Richtung einer Sesselgruppe schräg gegenüber. Ich suche nach einem grünen Shirt und finde einen jungen Mann mit brauner Haut, grasgrünem Hemd und einem sehr breiten Lächeln. Als er einem seiner Freunde die Zunge heraussteckt, sieht man, dass er ein Zungenpiercing hat. »Ziemlich süß«, stimme ich zu. Feli holt gerade Luft, um zu antworten, als die ersten Klänge von Rihannas S&M aus dem Lautsprechern ertönen. Sie quietscht und springt von meinem Schoß auf, ehe sie mich ansieht und die Hände nach mir ausstreckt. »Wie eng darf ich mit dir tanzen?«, will sie wissen, während sie mich strahlend auf die Tanzfläche zieht. Ich muss lachen. »So eng du magst«, gebe ich zurück. Feli sieht sehr glücklich aus als sie ein Plätzchen für uns findet und dann... ja. Dann tanzen wir. Ich glaube, ich bin nur so mittelgut im Tanzen, aber je nach Alkoholpegel habe ich nichts dagegen und Feli sieht ausgesprochen selig aus. Ihr Kleid wirbelt um ihre Beine, wenn sie sich dreht und ihre Augen funkeln und es macht ihr überhaupt nichts, wenn ich auf der Tanzfläche hinter ihr stehe und die Arme um sie lege. Sie legt den Kopf in den Nacken, um mich anzulächeln und ich lächle zurück. »Ich glaube, da gibt’s noch mehr Leute, die gern mit dir tanzen würden«, ruft sie mir über die laute Musik zu. Ich weiß nicht, wen sie meint und zucke hinter ihr mit den Schultern. Vielleicht ist Feli so glücklich, weil sie eng mit einem Jungen tanzen kann, ohne dass der ein unerwünschtes Rohr davon bekommt, dass ihr Hintern sich in der Nähe seines Schritts befindet. »Aber ich tanze mit dir«, rufe ich zurück. Sie umarmt mich mitten auf der Tanzfläche. »Danke fürs Mitkommen!«, sagt sie in mein Ohr und ich hebe sie ein bisschen hoch und drehe sie im Kreis, was ihr ein Quietschen entlockt. Wir tanzen zu ABBAs Dancing Queen und zu Britney Spears‘ Toxic, während Julius und Cem sich scheinbar auf die Jagd nach noch mehr Alkohol machen. Sie kommen eine ganze Weile nicht wieder und ich frage mich, ob sie sich noch mehr Mut antrinken, oder ob Cem einfach zwischendurch mal eine rauchend wollte. Als die beiden zurück kommen, haben sie für Feli und mich mehr Getränke mitgebracht und wir machen eine Tanzpause. Cem und Julius starren mich beide sehr merkwürdig an und ich versuche die Blicke zu ignorieren. Der Alkoholpegel allein verhindert, dass ich mich nicht hineinsteigere, dass die beiden mich beim Tanzen absolut lächerlich fanden. Als Karma Chameleon gespielt wird, taucht jemand vor uns auf und ich schaue hoch zu der Barkeeperin. Feli macht neben mir ein Geräusch das irgendwo zwischen Panik und Überraschung schwankt. Dann streckt die Barkeeperin die Hand nach Feli aus und grinst sie an. Feli sieht aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Sie ist knallrot im Gesicht, drückt mir dann aber entschlossen ihren halb geleerten Cocktail in die Hand und steht auf. »Da nutzt jemand seine Pause effektiv«, rufe ich amüsiert, während ich den beiden beim Tanzen zuschaue. »Queerbars sind magische Orte«, entgegnet Cem. Er lallt mittlerweile sehr. »Und? Sind sie magisch genug, um euch beide auch zum Tanzen zu bewegen?«, will ich wissen und leere mein Glas. Dann sehe ich zu Feli hinüber und ich bin mir fast sicher, dass sie so schnell nicht zu ihrem Cocktail zurück kommen wird, also leere ich ihr Glas schlichtweg ebenfalls. Jap. Definitiv betrunken. »Kommt drauf an, mit wem ich tanzen soll«, gibt Cem zurück. Ich fasse in meinem stark alkoholisierten Gehirn einen Entschluss und stehe leicht schwankend auf. Dann strecke ich beide Hände nach Julius und Cem aus, die beide kurz verwirrt und vielleicht ein wenig erschrocken aussehen. Cem ist der erste, der meine Hand nimmt und sein leeres Bier beiseite stellt. Julius leert hastig sein Glas mit brauner Flüssigkeit und steht ebenfalls etwas wackelig auf, ehe er nach meiner Hand greift, gerade als Lady Marmelade anfängt zu spielen. Ich glaube, die beiden wissen nicht so recht, was genau eigentlich mein Plan ist, bis ich Julius und Cem voreinander stelle und hinter Julius anfange zu tanzen. Es ist nur einen winzigen Moment komisch, bis Cem sehr breit grinst, eine Hand auf Julius‘ Hüfte legt und Julius jetzt in einem Sandwich aus Cem und mir steckt und wir ihn von vorne und hinten antanzen. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber seine Körpersprache sagt mir für gute drei Sekunden, dass er gerne im Boden versinken würde, bis... Jap. Cem packt Julius mit seiner freien Hand am Kragen seines Shirts und zieht ihn nach vorne und dann darf ich live und in Farbe sehen, wie Julius zwischen uns schmilzt, als Cem ihn beduselig knutscht. Ok, vielleicht hab ich mir das genauso vorgestellt. Vielleicht bin ich gerade viel zu angeturnt. Das »Voulez-vous couchez avec moi«, das im Hintergrund läuft, macht es auch nicht viel besser. Ich habe eine Hand auf Julius‘ Hüfte und die andere auf Cems Schulter liegen. Fuck. Das Ganze war gleichzeitig eine grandiose und schreckliche Idee. Als Julius und Cem aufhören zu knutschen frage ich mich kurz, ob ich den beiden vielleicht ihre Ruhe lassen sollte, als Julius sich kurz vorbeugt, Cem irgendetwas ins Ohr sagt und die beiden sich kurz von mir abkapseln, was mir einen winzigen Augenblick der Panik beschert, bis Cem in der Mitte von Julius und mir landet, seine Hände in meinem Hemdkragen vergräbt und mich zu sich herunterzieht. Ich sehe noch einen Wimpernschlag lang Julius‘ rotes Gesicht und seinen leicht geöffneten Mund, der vom Küssen noch ganz feucht ist, dann pressen sich Cems Lippen sehr nachdrücklich auf meinen Mund und ich mache ein unfreiwilliges Geräusch und schließe die Augen. Da Cem sogar noch etwas kleiner ist als Julius, muss ich mich recht weit nach unten beugen. Einen wahnwitzigen Moment lang frage ich mich, ob das heißt, dass ich Julius auch noch küssen werde. Wäre das schlimm?, fragt eine leise Stimme in meinem benebelten Gehirn. Nein. Nein, wäre es definitiv nicht. Ich merke mehr als dass ich es höre, dass Cem gegen meinen Mund stöhnt und da eine seiner Hände immer noch an meinem Kragen und die andere in meinem Nacken verweilt, ist die Hand auf meiner Hüfte definitiv die von Julius. Sie findet etwas nackte Haut unter meinem Hemdsaum und. Fuck. Es fühlt sich an, als würde ich in Flammen stehen. Ich will mehr anfassen, alles an Haut küssen, was ich erreichen kann, ich will, ich willichwill— Als Cem sich von mir löst, um Luft zu holen, finden meine Augen Julius‘ Gesicht. Er starrt mich mit immer noch leicht geöffnetem Mund an und als unsere Blicke sich treffen leckt er sich definitiv über die Lippen. Mir schießt Hitze in den Schritt. Fuck. Seine Hand ist immer noch halb unter meinem Hemd. Hab ich mittlerweile einfach vergessen zu tanzen, oder bewege ich mich noch? Ich weiß, dass ich abwechselnd auf Julius‘ Mund und in seine Augen starre und sein Blick sieht glasig und... nach irgendwas anderem aus, das ich nicht benennen kann. Ich merke, das Cem sich zwischen uns wegbewegt und wir uns plötzlich direkt gegenüber stehen. Mein Herz hämmert irgendwo in der Gegend meines Adamsapfels und ich wünsche mir plötzlich, dass wir irgendwo wären, wo nicht so viele Leute sind. Soll ich...? Aber in diesem Moment scheint in Julius eine Sicherung durchzubrennen, denn er duckt sich zwischen Cem und mir weg und murmelt irgendetwas, das man durch die laute Musik nicht hören kann. Und dann ist er verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)