Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 24: Das gelbe Monster ----------------------------- Alleine schlafen ist scheiße. Nachdem ich zwei Nächte bei Tamino im Bett gepennt habe, kommt mir mein eigenes viel zu groß vor. Das ist natürlich Blödsinn, weil es nicht größer ist, als vorher. Aber Tamino hat wohl ein schlafendes Gen in mir geweckt und jetzt ist jede Stunde, in der ich niemanden irgendwie anfassen kann, verschwendet. Zu meiner endlosen Schande hat Mari mich darauf angesprochen, ob alles in Ordnung ist, weil ich sie seit zwei Wochen viel häufiger umarme als sonst und letztens sogar meine Mutter zum Abschied umarmt habe – etwas, das ich sonst eigentlich eher selten machen. Vielleicht mal, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren oder so. Auch bei Cem ist mir mein verwurstetes Verhalten schon aufgefallen. Ich haue ihm öfter auf die Schulter, buffe ihn mit der Schulter, lehne mich gegen ihn, wenn ich über irgendwas lachen muss. Cem hat mich selbstredend nicht darauf angesprochen. Ich würde auch definitiv sterben, wenn er es täte. Aber ich könnte schwören, dass es ihm aufgefallen ist. Manchmal guckt er mich mit diesem Funkeln in den Augen an, das mir zu verstehen gibt, dass mein bester Kumpel insgeheim allwissend ist. Ich bin etwas überrascht, als Cem mir am Sonntag schreibt und mich darüber informiert, dass er Tamino beim Laufen getroffen hat. Er kommt spontan bei mir vorbei und wirft sich auf mein Bett, mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, der mich aus unerfindlichen Gründen irgendwie beunruhigt. »Und, wie war‘s?«, frage ich, als wären die beiden ganz herkömmlich verabredet gewesen. »Cool. Er rennt als wär Satan persönlich hinter ihm her«, sagt Cem und kickt seine Schuhe von den Füßen, sodass sie mitten in meinem Zimmer landen. Er setzt sogar sein Cappi ab, um es sich so richtig bequem zu machen. Ich wundere mich nicht darüber, dass Tamino so schnell laufen kann – seine Beine müssen in etwa drei Meter lang sein. »Ich hab erst überlegt, ob ich ihn noch auf’n Eis einladen soll, aber da war er schon weg«, sagt Cem grinsend der Decke entgegen. Ich runzele die Stirn und will gerade fragen, warum um alles in der Welt Cem Tamino auf ein Eis einladen will, als Cem schon fortfährt. »Hey, kannst du mir seine Nummer geben?« Ich blinzele. »Ich kann ihn mal fragen«, sage ich verwirrt und greife nach meinem Handy. Es dauert eine Weile, bis ich eine Antwort bekomme, aber letztendlich kriege ich die Erlaubnis, Taminos Nummer weiterzureichen. Cem scheint die Nummer nicht nur einzuspeichern, sondern auch direkt Gebrauch davon zu machen. Mir kommt ein Gedanke. »Warte mal… versuchst du… baggerst du?«, frage ich. Cem starrt mich an, dann fängt er an zu lachen und hört für gute zwei Minuten nicht auf. »Alter. Wieso würd‘ ich ihn sonst auf’n Eis einladen wollen? Du bist so schwer von Begriff«, sagt Cem breit grinsend. Ich erinnere mich daran, wie Cem Tamino als scharf befunden und ihn auf dem Sportplatz angesehen hat, als würde er ihn gerne aufessen. Ich schüttele den Kopf und räuspere mich. »Ich fürchte, du kannst dir dein Eis sparen. Tamino hat ‘ne Freundin«, informiere ich Cem. Cem schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Dude, ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll…«, fängt er an und sieht aus, als müsste er sich schon wieder zusammenreißen, nicht zu lachen. »Aber Tamino hat ganz sicher keine Freundin.« »Hä?« »Verwechselst du da was? Hat er vielleicht ‘nen Freund?« Ich starre ihn an. »Nein. Seine Freundin heißt Lotta.« Cem schnaubt und schüttelt amüsiert den Kopf. »Dann tut die Kleine mir Leid.« »Was? Wieso?« Ich versteh nur Bahnhof. Cem fährt sich schmunzelnd mit einer Hand übers Gesicht. »Alter, Tamino ist schwul. Hundert pro. Wenn nicht, fress ich n Besen.« In meinem Gehirn hat sich irgendein unauflösbarer Knoten gebildet. Das macht alles überhaupt keinen Sinn. »Hat er dir das erzählt?«, will ich wissen. »Nee. Brauch er auch nicht. Ich hab ja Augen im Kopf.« Ich will Cem gerade sagen, dass man das Menschen doch unmöglich ansehen kann, bis mir eine andere Sache in den Sinn kommt und ich die Arme vor der Brust verschränke. »Alter, selbst wenn’s so wäre«, was definitiv nicht der Fall ist, »dann kannst du das doch nicht einfach Leuten erzählen!« Cem holt Luft, um zu antworten, während ich mir vorstelle, wie Mari mir stolz die Haare tätschelt. Dann klappt er den Mund wieder zu und hebt die Hände. »Ok. War dumm. Ich dachte nur, weil du’s ja bist«, meint er und zuckt mit den Schultern. Ich brumme. In diesem Moment bekommt Cem eine Nachricht auf sein Handy und sein Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen, das ich schon öfter gesehen habe. Kurz bevor er ein Bier ext und sich dann auf den Weg durch einen Partyraum macht, um zwei Minuten später mit irgendeinem Mädchen zu verschwinden. »Lass ‘nen Film gucken. Dabei kann ich in Ruhe baggern«, sagt Cem unumwunden und ich will ihm sofort das Handy aus der Hand reißen und prüfen, was er Tamino eigentlich geschrieben hat. Stattdessen atme ich einmal tief durch und frage Cem, was für einen Film er sehen will. Letztendlich geht es mich ja auch nicht wirklich was an. Auch wenn Tamino und ich jetzt befreundet sind. Er kann schließlich machen was er will. Und flirten mit wem er will. Aber ich bin mir immer noch sicher, dass Cem sich das alles eingebildet hat. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und versuche mir vorzustellen, was genau an Tamino Cem darauf gebracht hat, dass er schwul sein könnte. Und mir fällt nichts ein. Ja, gut, er ist ein bisschen… knuddeliger… als andere Jungs, die ich kenne, aber das scheint Noah ja auch zu sein und der ist auch nicht schwul. Es kann doch nicht jeder Kerl, der gerne kuschelt, schwul sein. Die Fragen brennen mir auf der Zunge, aber ich will sie eigentlich auch nicht fragen, weil es mir komisch vorkommt, mit Cem darüber zu reden, ob und warum Tamino schwul ist. Auch das geht mich letztendlich nicht an. Und ich weiß schließlich, dass Tamino und Lotta zusammen sind und Tamino scheint mir nicht der Typ zu sein, der mit einem Mädchen zusammen ist und sie eigentlich nur verarscht, weil er eigentlich auf Kerle steht. Cem muss da irgendwas falsch verstanden haben. Wir ziehen uns Ocean’s Eleven rein und ich verschlucke mich fast an meiner Fanta, als Cem verkündet, dass er sich vom jungen Brad Pitt ja durchaus gegen eine Wand vögeln lassen würde. Cem lacht mich aus, weil ich Fanta quer über mein Bett gespuckt habe. Dann fragt er mich, ob er aufhören soll darüber zu reden, dass er Kerle auch geil findet. »Was? Nein? Was?« Cem zuckt mit den Schultern und sieht mich nicht an, sondern hat den Blick weiterhin sorgfältig ungezwungen auf meinen Fernseher gerichtet. »Kann ja sein, dass du’s abartig findest.« »Alter«, sage ich und stelle fest, dass Cem anscheinend wirklich viel an meiner Meinung diesbezüglich liegt und er immer noch nicht hundertprozentig sicher ist, ob ich mit der ganzen mein-bester-Freund-ist-bi-Sache ok bin. »Es stört mich kein Stück. Ich war nur überrascht, ok?« »Ok.« Dann… »Stört’s dich, wenn ich am Fenster eine rauche?« Ich zucke mit den Schultern und Cem nimmt das als Erlaubnis, öffnet mein Fenster weit und setzt sich auf die Fensterbank, von wo aus er den Fernseher weiterhin im Blick hat. Ich zögere. »Hattest du schon mal? Also… mit nem Kerl?« Cem zieht an seiner Zigarette und schaut kurz aus dem Fenster. Er sieht wie immer ungewohnt aus ohne sein Cap. »Nee«, gibt er dann zu, ohne mich anzusehen. »Bietet sich auch nicht so an, wenn man nicht geoutet ist.« Ich muss einsehen, dass das stimmt. »Meinst du, die Jungs hätten was dagegen?«, frage ich. Cem schnaubt. »Es sind Fußballer.« »Hey! Ich bin Fußballer!« »Ja, man. Du bist cool und alles. Aber mal ehrlich. Lennard? Konstantin?« Ich versuche mir vorzustellen, wie Lennard ganz cool und lässig darauf reagiert, dass einer seiner Mannschaftskameraden auch auf Männer steht. »Wahrscheinlich denkt er, ich will seinen Arsch, wenn ich es erzähle«, meint Cem und verzieht das Gesicht. Ich muss lachen. »Kannst ihm ja sagen, dass dir Daniels Arsch lieber wäre«, schlage ich grinsend vor. Cem lacht und zieht erneut an seiner Kippe und fährt sich durch die Haare. »Seien wir ehrlich, am liebsten wäre mir einer an meinem Arsch«, meint Cem. Ich muss lachen und Cem auch. Ich betrachte ihn, wie er so lässig da in der Fensterbank sitzt und an seiner Kippe zieht und darüber redet, dass er beim Sex lieber unten liegen würde. Um ehrlich zu sein, hab ich meinen besten Kumpel selten cooler gefunden als in diesem Augenblick. Und er hat es nicht verdient, dass so ein Besen wie Lennard ihn davon abhält, über diese Sache offen zu reden. »Wenn Lennard was Dummes sagt, hau ich ihm aufs Maul«, sage ich. Und das meine ich ganz ernst. Ich hab mich erst einmal so richtig geprügelt, aber wenn Lennard irgendeinen Scheiß über Cem sagen würde… »Alter, erstmal hau ich ihm selber aufs Maul. Dann kannst du noch einen oben drauf setzen«, meint Cem. Ich grinse. »Heißt das, du willst dich vielleicht outen?« Cem zieht die Schultern hoch. Ein seltenes Zeichen von Unsicherheit. »Keine Ahnung. Ist ja nur noch ein Jahr.« »Noch ein Jahr, in dem du versuchen kannst, dich von Micha oder Daniel flachlegen zu lassen«, sage ich grinsend. Cem grinst und schnippt seine Kippe aus dem Fenster und auf die Straße. »Bei Daniel ist Hopfen und Malz verloren. Und Micha… keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass er der Typ ist, um andere flachzulegen.« Ich grübele darüber nach, ob Cem denkt, dass Tamino der Typ dafür ist, andere flachzulegen. Aus unerfindlichen Gründen steigt mir dabei Hitze ins Gesicht. Cem mustert mich von der Fensterbank aus. »Cool, dass du keinen Schiss hast, dass ich dir an den Arsch will«, meint er dann mit einem schiefen Grinsen. Ich verdrehe die Augen. »Cool, dass du nicht willst, dass ich bei dir rangehe«, gebe ich zurück, was Cem wieder zum Lachen bringt. Er wirft sich erneut aufs Bett neben mich. »Cool, cool…«, murmelt er und fängt dann wieder an, auf seinem Handy herumzutippen. * Ich verbringe am Montag eine Pause mit meinen Jungs und eine Pause mit Tamino, der heute irgendwie besonders nervös zu sein scheint. Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, aber er scheint dauernd zu Cem hinüber zu schauen und ich frage mich, was um alles in der Welt Cem ihm denn geschrieben hat, um ihn in so ein Nervenbündel zu verwandeln. Da Tamino es selber nicht anspricht, tue ich es auch nicht. Die Lehrer haben in der letzten Woche größtenteils aufgegeben, uns noch anständig zu unterrichten und wir reden vor allem über Abiklausuren, besprechen die Themen fürs nächste Schuljahr oder gucken irgendwelche Filme, die jeweils vage zu den entsprechenden Fächern passen, in denen sie gezeigt werden. Ich sitze mittlerweile nicht nur in Französisch, sondern auch in Deutsch und Bio neben Tamino und während die Lehrer das etwas verwirrt hingenommen haben, – mit Ausnahme von Frau Lüske, die irgendwie zufrieden deswegen aussieht – beschweren sie sich auch nicht darüber. Wahrscheinlich, weil sie denken, dass Tamino einen guten Einfluss auf mich hat. Was vermutlich stimmt. »Wollen wir Freitag einen zusammen trinken?«, frage ich nach Ende der letzten Stunde. Tamino wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Wirst du in den Ferien jeden Tag besoffen sein?«, will er wissen. Ich lege mir gespielt empört die Hand auf die Brust. »Wie kannst du das nur sagen?« »Kannst mir wieder besoffene Sprachnachrichten schicken«, sagt er lächelnd, während wir uns durch die Menge schieben. Weiter hinten in der Eingangshalle sehe ich Cems rotes Cap. Er wartet am Eingang auf mich, damit wir zusammen zum Training gehen können. »Mach ich. Ab und an könntest du auch einfach live dabei sein«, schlage ich vor. Tamino sieht mich erstaunt an. »Naja… ich fahr ja weg. Also, die Ferien über. Ich bin die ganzen sechs Wochen nicht hier«, sagt er. Irgendetwas in meinem Inneren zieht sich zusammen. Ich versuche, nicht enttäuscht auszusehen. »Oh. Achso.« Und weil ich sehe, wie Tamino jetzt sogar noch nervöser aussieht als vorher, füge ich hinzu: »Was ist mit Ororo?« »Die kommt mit. Kann mit mir bei Noah wohnen«, sagt Tamino, als wir Cem erreichen. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass Tamino nicht hier bleibt, wo er seine Freunde doch immer so vermisst. Aber irgendwie hab ich verdrängt, dass das heißt, dass er ganze sechs Wochen verschwunden sein wird. Dieses neu erwachte Gen in mir bekommt einen mittelschweren Panikanfall und schreit mich an, dass ich Tamino sofort umarmen soll, damit ich wenigstens noch eine richtige Umarmung bekomme, bevor er fährt. »Aber wir können Freitag gerne noch einen zusammen trinken«, meint Tamino dann. Wir erreichen Cem und ich schlage ein, als er mir seine Hand hinhält. Dann grinst er Tamino an und zwinkert. Tamino gibt ein Geräusch von sich, das halb Fiepsen und halb Husten ist und fährt sich verlegen durchs Haar. Ich bin verwirrt. »Bereit?«, fragt Cem und ich bin nicht sicher was er meint. Noch verwirrter bin ich, als Tamino sich uns anschließt und Richtung Umkleiden mit uns geht. Ich bin immer noch verwirrt, als wir dort ankommen und Cem sagt, dass er ein Trikot für Tamino suchen geht. »Ähm…«, sage ich und stelle meine Tasche ab. Tamino hat die Hände in einander verschlungen und seine Augen sind ungefähr doppelt so groß wie normalerweise. »Äh… Cem hat mich eingeladen. Zum… zum Training?« Er klingt heiser und sieht aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Ok…?«, sage ich. »Cool?« »Ich… äh… ich hab… ich hab schon ‘ne Weile nicht mehr gespielt«, sagt Tamino leise. Mein Gehirn macht wieder diese Sache, wo es sich verrenkt und dann einen Krampf bekommt, der es mir unmöglich macht, anständige Gedanken zu fassen. Cem kommt zurück und drückt Tamino eins unserer Trikots in den Arm. Tamino dreht sich hastig von mir weg und fängt an, sich auszuziehen. Cem sieht bestens gelaunt aus. »Ha. Warte mal, bis du ihn rennen siehst. Nichts gegen Oli, aber…« Meine Augen huschen die ganze Zeit zwischen Cem und Tamino hin und her. Tamino hat mir das mit dem Fußballspielen nicht erzählt. Ich erinnere mich noch an unser Saufgelage, bei dem er explizit darum gebeten hat, nicht über Fußball reden zu wollen. Aber mit Cem hat er das gemacht. Der Knoten in meinem Innern verfestigt sich noch ein wenig mehr. Ich räuspere mich. »Ich wusste nicht, dass du spielst«, sage ich. Meine Stimme klingt… distanziert? Das war nicht meine Absicht. Ich bin sicher, dass Tamino das auch hört, denn er zuckt zusammen und zerrt sich hastig sein Trikot mit der Nummer 13 über den Kopf. »Ähm… sorry? Ich… ah…« »Er ist ein Stürmer«, sagt Cem breit grinsend, als würde er nicht merken, dass die Stimmung gerade gekippt ist. »Ich geh mal Trainer suchen.« Unser Trainer – oder besser gesagt unsere Trainerin – heißt eigentlich Frau Holm, aber irgendwie nennen alle sie nur Trainer. Und ich glaube, das findet sie gut so. Sie hatte es mit uns nicht so einfach am Anfang, aber nachdem sie die derbsten Kritiker und Banausen verbal niedergerungen hatte, ging es eigentlich ganz gut. »Komm mit«, sagt Cem, sobald Tamino seine Hose angezogen hat und zerrt ihn aus der Umkleide, um Trainer Bescheid zu sagen, dass Tamino mit uns trainieren will. Ok, Julius. Normalerweise solltest du dich freuen, dass Tamino offenbar dein Hobby mit dir teilt. Wieso freust du dich nicht? Wieso ist deine Laune gerade total in den Keller gerasselt? Eine Stimme in meinem Kopf sagt: Vielleicht spielt er ja auch total miserabel. Ich weigere mich darüber nachzudenken, wieso das relevant sein soll. Es dauert allerdings keine fünf Minuten, bis mir klar wird, dass Tamino nicht miserabel spielt. Natürlich nicht. Ich meine, was habe ich erwartet von einem Genie, das alles zu Gold macht, was es anfasst? Fünfzehn Punkte in fast allen Fächern, kann singen, spricht mehrere Sprachen… und kann offensichtlich Fußball spielen. Trainer ist begeistert. Sie will wissen, wie lange Tamino gespielt hat, ob er schon immer Stürmer gespielt hat, ob das seine bevorzugte Position ist, an welcher Schule er war, wieso er aufgehört hat. Die Jungs sehen allesamt beeindruckt aus. Cem sieht noch nach etwas anderem aus, über das ich jetzt wirklich nicht auch noch nachdenken möchte. Julius, sei kein Arsch. Wieso freust du dich nicht? Und wieso bin ich zwar beeindruckt, aber auf eine Art, die irgendwie dazu führt, dass meine Eingeweide sich anfühlen wie Eisklumpen? Ein kleiner, verborgener Teil meines Gehirns weiß genau, wieso. Es ist der Teil, der mit der Stimme meines Vaters mit mir redet. Der Teil, der dunkel und kalt und unangenehm dauerpräsent in den Tiefen meines Kopfes hockt und darauf lauert, bei jeder Gelegenheit darüber zu schwafeln, dass ich ein Versager bin, der nichts gebacken bekommt. Das hier war mein Ding. Das eine Ding, in dem ich besser war als Tamino. Und es stellt sich raus, dass Tamino auch in dieser einen Sache genauso gut ist wie ich. Vielleicht sogar besser. Keine Ahnung. Dafür hab ich ihn noch nicht lang genug spielen sehen. Ich höre kaum zu, während er Trainers Fragen beantwortet und denke darüber nach, Kopfschmerzen vorzutäuschen und mich zu verziehen. Aber ich will auch kein Feigling sein. Man kann mir offenbar ansehen, dass irgendwas nicht ok ist, denn Cem sieht mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. Ich zucke die Schultern und sehe woanders hin. Sieh’s ein, Julius. Du wirst nie in irgendwas der Beste sein, sagt die Stimme in meinem Kopf. Spätestens nachdem Trainer Elfmeterschießen angesetzt hat, ist meine Laune dermaßen im Keller, dass ich am liebsten irgendwas treten würde. »Alter, du siehst aus wie ‘ne Gewitterwolke«, sagt Cem zu mir, während wir in der Reihe stehen und darauf warten, dass wir mit Schießen dran sind. Daniel ist ein ziemlich guter Torwart, aber er hat noch keinen Schuss von Tamino gehalten und Tamino hat noch nicht ein einziges Mal danebengeschossen. Lass ihn einmal danebenschießen, sagt die Stimme in meinem Kopf. Wenigstens einmal. Ich antworte Cem nicht und als ich selbst den Schuss total versemmele und der Ball einen Meter übers Tor hinausschießt, drehe ich mich um und verschwinde vom Platz. Fuck, fuck, fuck. Ich erwarte fast, dass Cem oder Trainer mir nachkommen und mir ordentlich die Leviten lesen, aber letztendlich ist es Tamino, der in die Umkleide kommt und sich unsicher neben mich auf die Bank setzt. »Alles ok?«, fragt er. Die Stimme fragt, wieso er so unsicher ist, wo er doch alles kann. Alles. Ich zucke mit den Schultern. Schweigen. »Bin ich schuld?« Ja. Nein. Eigentlich ist mein Vater schuld, aber wenn Gefühle immer so rational funktionieren würden, wäre die Welt ein unkomplizierterer Ort. »Nö«, sage ich. Wow, Julius. Wer würde dir das in dem Ton glauben? »Ich wollte dir das erzählen, ich hab nur… ich weiß nicht? Ich red nicht gern drüber und… ähm… es gibt da ein paar Sachen, die…« »Naja, du hast Cem davon erzählt«, unterbreche ich ihn. Meine Stimme klingt furchtbar. Hör auf, Julius. Sei kein Arsch. Tamino sackt ein wenig in sich zusammen. Ich sehe es aus dem Augenwinkel, weil ich stur geradeaus starre. »Er hat gefragt? Ich… es hat sich irgendwie ergeben? Ich bin nicht gut mit Unterhaltungen, ich wollte dich nicht sauer machen.« »Ich bin nicht sauer«, sage ich. Meine Stimme hört sich an, als hätte ich das Gegenteil gesagt. Fuck, Julius. Reiß dich zusammen. Er hat dir überhaupt nichts getan. »Ich muss ja nicht noch mal mit zum Training, ich dachte nur… ich hab schon so lang nicht mehr gespielt und… naja. Ich…« »Alter, du kannst machen, was du willst. Ich war nur überrascht, sonst nichts. Dass du das auch noch so drauf hast. Wie sonst auch alles.« Wenn Stimmen Farben hätten, dann wäre meine grellgelb. Stille. Ich hebe den Kopf und stelle fest, dass Tamino angefangen hat, sich umzuziehen. Seine Hände zittern, als er sich die Hose auszieht und sie unfeierlich zu Boden fallen lässt. Er hat es dir nicht erzählt und jetzt erzählt er dir wahrscheinlich nie wieder irgendwas, weil du ein Arsch bist, Julius Timmermann. Sag irgendwas. Sag, dass es dir Leid tut und dass es nicht seine Schuld ist. Sag, dass dein Vater schuld ist, dass du Komplexe hast. Sag– Als er vor mir steht, sehe ich endlich auf und stelle zu meinem Entsetzen fest, dass seine Wangen nass sind und seine Augen gerötet. Als er spricht, zittert seine Stimme genauso wie seine Hände. »Weißt du… wenn ich mein Gehirn mit deinem tauschen könnte, würd ich’s machen. Dann kannst du all die tollen Sachen mit denen du nichts anfangen kannst, weil du Schiss vor allem hättest und in deinem eigenen Kopf steckst.« Er ist mit drei großen Schritten bei der Tür. »Tut mir Leid, dass ich hergekommen bin.« Und dann ist er weg. Ich starre die Tür immer noch an, als Cem zwei Minuten später den Kopf herein steckt. »Alter, Trainer ist voll sauer, weil du einfach abgehauen bist«, sagt er und schaut sich um. »Wo ist Tamino?« »Weg«, sage ich und fahre mir mit den Händen übers Gesicht. Ich verstehe gleichzeitig nur Bahnhof und weiß trotzdem ganz sicher, dass ich ein Arschloch bin. »Ich hab’s verbockt.« Cem setzt sich neben mich auf die Bank. »So richtig?«, fragt er. »Jap. So richtig.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)