Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 22: Ororo ----------------- Dinge, die ich nicht hab kommen sehen: 1. Dass ich irgendwann mal an einem Donnerstagmorgen von einem Wecker geweckt werden würde und dabei nicht alleine im Bett liege. 2. Und dass der jemand, der mit mir im Bett liegt, Julius ist, der extra für mich über Nacht geblieben ist, weil ich eine depressive Episode hatte. 3. Dass Julius mir irgendwas zum Geburtstag schenken würde und dass es von allen Dingen auf dieser Welt eine junge Katze mit nur einem Ohr sein würde. Als ich wach werde, spüre ich einen sehr warmen anderen Körper von hinten an mich gepresst. Ich habe mich über Nacht in den kleinen Löffel verwandelt und Julius schnarcht leise, als würde er den Wecker überhaupt nicht hören. Tatsächlich konnte ich sogar schlafen – etwas, das mich jetzt nicht mehr überraschen sollte. Aber der Gedanke, dass Julius sich in den Kreis derer eingereiht hat, in deren Gesellschaft ich wirklich gut schlafen kann, ist sehr unwirklich. Ich habe mich noch nicht wirklich entschieden, ob ich heute schon wieder aufstehen und zur Schule gehen kann, aber ich drehe mich vorsichtig um und betrachte Julius‘ Gesicht, nachdem ich den Wecker ausgemacht habe. Von draußen scheint die Junisonne herein und kündet von hervorragendem Wetter. Julius‘ Mund ist leicht geöffnet und seine blonden Haare hängen ihm wirr ins Gesicht. Die abrasierten Haare an der Seite seines Kopfes sind schon wieder recht lang geworden, weil er sie länger nicht nachrasiert hat und ich widerstehe der Versuchung, sie anzufassen und zu prüfen, ob sie so flauschig sind, wie sie aussehen. Dann stupse ich Julius vorsichtig an. »Hmpf«, macht er leise und klappt den Mund zu. Seine Augen öffnen sich blinzelnd und er schaut mich verschlafen und ziemlich desorientiert an. Kein Wunder. »Schule«, sage ich leise und mit heiserer Stimme. Julius stöhnt unzufrieden, rutscht dichter an mich und vergräbt sein Gesicht an meiner Schulter. Ich muss lächeln. Wer hätte gedacht, dass in Blondie McSurferboy ein Kuscheltier schlummert? Ich jedenfalls nicht. »Wenn du wegen mir schwänzt, werde ich mich sehr schlecht fühlen«, murmele ich leise gegen sein Haar. Es ist seltsam, so mit ihm hier zu liegen, weil ich es nicht gewöhnt bin. Wenn ich so neben Noah oder Anni oder Lotta aufwachen würde, dann würde ich mich kein bisschen darüber wundern. Ich hebe eine Hand und streiche behutsam durch das blonde Haar. Es ist in der Tat sehr weich. Julius gibt ein zufriedenes Seufzen von sich. Ich glaube, wenn er es könnte, würde er schnurren. In mir breitet sich eine ungeahnt liebevolle Wärme aus und ich beschließe kurzerhand, dass ich zu depressiv bin, um mich zu schämen und schlinge einen Arm um Julius Oberkörper, um ihn noch ein bisschen näher an mich zu drücken und sachte über seinen Rücken zu streicheln. Weil die Sonne volle Kanne in mein Zimmer scheint, kann ich beobachten, wie Julius auf dem Unterarm Gänsehaut bekommt, als ich mit den Fingern die nackte Haut in seinem Nacken berühre. »Kommst du mit zur Schule?«, nuschelt Julius verschwommen gegen meine Schulter. Es klingt, als wäre er betrunken und ich muss schmunzeln. »Ich weiß nicht«, gebe ich ehrlich zu. Julius schnauft angestrengt, dann löst er sich langsam von mir und schaut mich kurz aus seinen noch halb geschlossenen Augen an. »Musst du nicht ein Attest haben, wenn du so lange weg bleibst?«, fragt er nachdenklich. Ich zucke mit den Schultern und mache ihm Platz, damit er aufstehen kann. »Frau Lüske weiß Bescheid. Also… über die… ähm…« Ich seufze. »Sie weiß, dass das passieren kann. Ich hab bisher fast keine Fehltage und ich steh sowieso überall auf eins, ich glaube, es ist so kurz vor den Ferien ein bisschen egal.« Wow. Das ist mehr, als ich in den letzten drei Tagen geredet habe. Julius schüttelt amüsiert den Kopf. »Superhirn«, nuschelt er gespielt stichelnd und dann tut er etwas sehr Unerwartetes und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich blinzele. Julius auch. Dann läuft er scharlachrot an, krabbelt hastig aus dem Bett und flüchtet ins Bad. Huh. Nicht, dass ich was gegen Küsse einzuwenden hätte – ich bin großer Fan von Küssen. So ziemlich überallhin. Aber Julius scheint mir insgesamt sehr neu auf dem ganzen platonischen-Kuschel-Zug zu sein und dafür hat er ziemlich schnellen Fortschritt gemacht. Vielleicht dachte er, dass er gerade eine Grenze überschritten hat. Und vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich Küsse super finde und sie mir überhaupt nichts ausmachen. Es war ehrlich gesagt ausgesprochen niedlich, mich Superhirn zu nennen und dann quasi meine Stirn stellvertretend für besagtes Superhirn zu küssen. Wer hätte gedacht, dass ich über Julius Timmermann jemals als süß denken würde? Als Julius aus dem Bad wiederkommt, sind seine Haare nass und er riecht nach meinem Duschgel. Ich krieche aus dem Bett und versuche probehalber aufzustehen. Wenn man drei Tage nichts gegessen hat und dann nur eine Schale Müsli und einen halben Teller Nudeln schafft, ist der Kreislauf von einer aufrechten Haltung eher nicht so begeistert. »Du kannst auch liegen bleiben«, sagt Julius zögerlich, als er sieht, wie ich auf der Stelle wanke. Ich seufze. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob noch mehr liegen die beste Idee ist, auch wenn es sehr verlockend klingt«, murmele ich. Jetzt, da die volle Breitseite der Episode erst einmal abgewendet ist, ist es mir schon wieder peinlich, dass Julius mich so erlebt hat. Fast wünsche ich mir die Gleichgültigkeit der letzten Tage zurück, weil sie meine Angststörung in ihrer Heftigkeit ausbootet. Eine psychische Krankheit eifert mit der anderen um die Wette – und meistens siegt meine Angststörung, bis auf wenige Ausnahmen. Bevor meine Schamgrenze ihr übliches Limit erreicht, sollte ich die Kusssache klarstellen. »Küsse sind ok. Übrigens. Also… mehr als ok. Küsse sind ne gute Sache«, sage ich und greife nach der Wasserflasche auf meinem Nachtschrank. Julius wird sofort wieder rot und kratzt sich peinlich berührt im Nacken. »Oh. Ok. Cool. Ähm… ja. Ich weiß auch nicht, wo das herkam… ich…« Ich mache einen entschlossenen Schritt vorwärts, nehme Julius‘ Gesicht in beide Hände und sehe noch einen Moment lang seine sich weitenden Augen, bevor ich ihm ebenfalls einen Kuss auf die Stirn drücke. Meine Lippen kribbeln. Sie haben schon sehr lange niemanden mehr geküsst – wohin auch immer. »Ich glaube, ich sollte zur Schule gehen«, sage ich dann und tue so, als wäre diese ganze Sache mit den Küssen kein großes Ding, damit Julius nicht vor Scham vergeht. Wenn man sich selbst fast ununterbrochen über irgendwelche Dinge schämt, lernt man irgendwann, wie man anderen Menschen Scham am besten nehmen kann. Julius scheint in der Tat dankbar zu sein, dann er fährt sich kurz mit den Fingern über die Stirn – fast so, als hätte er noch nie einen Kuss dorthin bekommen – und fängt dann an, in seinem Rucksack zu kramen. Tatsächlich hat er Deo und eine Zahnbürste eingepackt und verschwindet wieder ins Bad. Diesmal ganz ohne Fluchttempo. Als ich ins Bad komme, riecht es dort nach einer Mischung aus meinem Duschgel, Julius‘ Deo und Zahnpasta. Ich höre meinen Vater in der Küche herum werkeln und nehme meine eigene Zahnbürste zur Hand. Noch mal duschen schaffe ich nicht, also muss Zähneputzen und Gesicht waschen erst mal reichen. »Hast du dir schon einen Namen überlegt?«, fragt Julius, während er sich seine blonde Haarmähne kämmt und sie anschließend nass wie sie ist in einen Knuddel auf seinem Hinterkopf zusammenbindet. »Ist es eine Katze oder ein Kater?« »Eine Katze.« Ich denke darüber nach, während ich mir die Zähne putze. Es gibt so viele Möglichkeiten. Aber ich habe immerhin noch bis zum Wochenende Zeit, um mich zu entscheiden. Nachdem ich meine Zähne fertig geputzt habe, gehe ich kurzerhand in die Küche. Manchmal, wenn ich meinen Vater ansehe, frage ich mich, was meine Mutter jemals in ihm gesehen hat. Aber da ich weiß, dass die beiden eine relativ glückliche Beziehung hatten, versuche ich darüber nicht allzu sehr den Kopf zu schütteln. Da er weiß ist und ich nicht habe ich Gott sei Dank die Genugtuung mich angemessen von ihm zu unterscheiden. Wenn man uns zusammen sehen würde, würde wohl niemand auf die Idee kommen, dass wir verwandt sind, da ich ganz nach meiner Mutter gebe. Das einzige, was er genetisch beigetragen hat, war meine Haut etwas heller zu machen, als die meiner Mutter und meine Haarstruktur zu beeinflussen. »Am Wochenende zieht eine Katze hier ein«, sage ich ohne Begrüßung und Einleitung. Er sitzt am Küchentisch und liest seine Zeitung. Jetzt schaut er auf und runzelt die Stirn. »Aha?«, sagt er. Manchmal möchte ich sein Desinteresse an meinem Leben gerne in physische Form bringen und ihm damit so richtig eins überbraten. Aber wahrscheinlich ist es so immer noch besser als mit Eltern wie die von Lotta und deswegen schlucke ich meinen Ärger meistens hinunter. »Es ist ein Geburtstagsgeschenk«, erkläre ich. »Solange das Vieh von meinen Sachen wegbleibt«, sagt er über seine Zeitung hinweg. Ich zwinge mich, nicht mit den Schultern zu zucken und nehme das einfach als uneingeschränkte Zustimmung. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um, gehe zurück in mein Zimmer und fange an mich auszuziehen. Julius ist an seinem Handy zugange und schaut auf, als ich hereinkomme und anfange, mir die Schlafsachen vom Körper zu zerren. Da Julius sich regelmäßig in Umkleidekabinen mit jeder Menge Fußballern darin umzieht, dachte ich eigentlich, dass ihn ein bisschen nackte Haut nicht stören würde, aber er blinzelt mehrmals und schaut dann wieder sehr konzentriert auf sein Handy. Vielleicht hat er Angst, dass mir das unangenehm ist. Ich würge zum Frühstück eine halbe Banane runter, den Rest gebe ich Julius auf dem Weg nach unten. Es ist ungewohnt mit ihm zur Schule zu gehen und er scheint kein Morgenmensch zu sein, denn er gähnt alle paar Schritte und macht ab und an angestrengte Geräusche, während wir nebeneinander herlaufen. »Ich hab übrigens angefangen Aristoteles und Dante zu lesen«, informiert er mich kurz vorm Eingang der Schule. Ich erinnere mich daran, wie er das Buch bei mir im Zimmer in den Händen hatte und schlucke angesichts der Tatsache, dass Julius daran ja vielleicht merkt, dass ich auf Jungs stehe. Aber ich könnte das Buch ja auch einfach so mögen. Weil es eine schöne Geschichte ist. »Oh, cool. Erzähl mir, wie es dir gefällt«, sage ich lächelnd. Er grinst verschlafen. »Ich brauche wahrscheinlich zweihundert Jahre dafür. Hab schon ewig kein Buch mehr einfach so gelesen«, meint er. Wir sind so unterschiedlich. Aber irgendwie funktioniert es ja ganz gut. »Der Schreibstil ist auf jeden Fall nicht so anstrengend wie der von Thomas Mann«, sage ich amüsiert und Julius schnaubt. »Bestimmt ist kein Buch so anstrengend wie dieser Scheiß«, gibt er zurück. Ich fühle mich immer noch wie Dreck, aber Julius‘ Gegenwart hilft, die Bewegung und die frische Luft tun mir auch gut und ich denke, dass ich ja immer noch früher nach Hause gehen kann, wenn es nachher gar nicht mehr geht. Ich hab auch keinerlei Hausaufgaben zu heute gemacht, aber meistens kann ich diese Dinge ganz gut improvisieren. Zu meiner grenzenlosen Überraschung gesellt sich Julius in der großen Pause zu mir, nachdem ich auf dem Schulhof in der Sonne Platz genommen habe. Ich kann von hier aus die Traube aus seinen Kumpels sehen, die meistens in der Raucherecke stehen und dort Cem und einigen anderen Gesellschaft leisten. Er wirft sich neben mir auf die Bank und reißt einen Müsliriegel auf, den er wohl gerade beim Kiosk erworben hat. Ehe ich es mich versehe, hat er mir auch einen in den Schoß geworfen und beißt ein großes Stück von seinem ab. Ich lege ein Lesezeichen in mein Buch und stecke es behutsam zurück in meine Tasche. »Hey«, sage ich leise und lächele, ehe ich den Müsliriegel nehme. Es ist ein extragroßer mit Schokolade. »Danke.« »Kein Ding. Wenn du willst, können wir uns nach der Schule irgendwo was kaufen«, mampft er und streckt seine Beine aus. Ich merke, dass viele seiner Kumpels zu uns herüber sehen und frage mich, was die wohl gerade denken. Cem beobachtet uns ebenfalls und ich muss daran denken, wie er mich vorm Fußballspiel gemustert hat. Ich hab Cem definitiv schon von Exfreundinnen reden hören. Das macht ihn dann mit großer Wahrscheinlichkeit bisexuell. Mit einer lesbischen Schwester und einem bisexuellen besten Kumpel kann Julius doch eigentlich nichts dagegen haben, wenn ich schwul bin, oder? Oder weiß er es von Cem nicht und findet es bei Jungs eklig? Das gibt es schließlich oft genug. Aber eigentlich ist er so ein netter Kerl… »Heißt das, du kommst nachher wieder mit zu mir?«, frage ich und höre selber, wie hoffnungsvoll meine Stimme klingt. Julius grinst mich an. »Wenn ich darf.« »Klar.« Ich bin so dankbar, dass ich noch nicht wieder alleine sein muss und noch eine Nacht ruhig schlafen kann. Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an. »Danke«, murmele ich leise und beiße in meinen Müsliriegel. Julius bufft mich mit der Schulter an. »Kein Ding. Ich muss nur später noch zum Training und vorher meine Sachen von zu Hause holen«, erklärt er und schiebt sich das letzte Stück Riegel in den Mund. Dann stopft er den Müll in seine Hosentasche und streckt sich. Ich hätte ihm Frühstück anbieten sollen, aber ich habs vergessen, weil ich selber überhaupt keinen Hunger hatte. »Boah, ich hab Bock auf Döner. Können wir Döner holen?« »Was immer du möchtest«, sage ich. Der sanfte Ton war gar nicht unbedingt beabsichtigt, auch wenn ich mich im Moment wie ein großer Wattebausch fühle, weil Julius mir Gesellschaft leistet, eins meiner Lieblingsbücher lesen will, mir eine Katze geschenkt hat und heute nach der Schule noch mal bei mir übernachtet. Julius dreht den Kopf zu mir um und sieht mich an. Seine Ohren sind rot, als er mich mustert. Es sieht aus, als würde er irgendwas sagen wollen, aber er presst die Lippen aufeinander und hält sein Gesicht dann der Sonne entgegen. Ich krame mein Handy hervor und sehe endlich zu, meinen Freunden bei WhatsApp zu antworten. Zwar denke ich, dass Julius sie wohl auf dem Laufenden gehalten hat, – immerhin haben sie jetzt eine TaminoFanclubII-Gruppe ohne mich – aber sie sollten trotzdem von mir hören. Julius summt irgendetwas neben mir und ich frage mich, ob es ihm mit mir nicht zu langweilig ist, wenn er auch mit seinen Kumpels herumalbern könnte. Aber wenn es ihn stört, dann sagt er kein bisschen, sondern beobachtet mich dabei, wie ich meinen Freunden schreibe und nebenbei langsam meinen Müsliriegel esse, von dem ich wieder nur die Hälfte schaffe und den Rest Julius gebe, der nur zwei Bisse braucht, um ihn aufzuessen. Als es klingelt, bin ich ein bisschen traurig darüber, dass ich nicht noch länger mit Julius in der Sonne sitzen kann. Der Schultag vergeht in einem depressiven Nebel, in dem ich mich nicht am Unterricht beteilige, es aber immerhin schaffe Frau Lüske über mein derzeitiges Problem zu informieren. Wie erwartet gibt sie mir zu verstehen, dass ich ein herausragender Schüler bin, es kurz vor den Sommerferien ist und ich mir keine Gedanken machen soll. Dann wünscht sie mir gute Besserung, was wohl eine seltsame Formulierung für Depressionen ist, aber ich danke ihr trotzdem und bin froh, als ich endlich wieder nach Hause gehen kann. Da Julius Training hat, bin ich erst einmal auf mich allein gestellt und zwinge mich dazu, zumindest ein paar der Hausaufgaben zu machen, die Julius mir gestern mitgebracht hat. Es ist alles ziemlich wischiwaschi, aber wenn ich bedenke, dass die meisten Leute ihr Leben lang solche Hausaufgaben abliefern – oder sie gar nicht erst machen – bin ich wohl auf der sicheren Seite. Neben jeder Menge Forderungen darüber, so viele Katzenbilder wie möglich in die Gruppe zu posten, sobald ich den kleinen Wischmopp zu Hause habe, finde ich auch eine Anfrage von Anni, ob sie einen Termin bei Frau Dr. Dunker für mich in den Sommerferien machen soll. Noch so eine Sache, die mein sogenannter Vater außer Acht gelassen hat, als er mich in diese Stadt geschleift hat, ist, dass ich meine Therapie abbrechen musste und mir selber keine neue suchen konnte. Weil ich leider noch nicht in der Lage bin, mir irgendwo Termine geben zu lassen. Da er das auch nicht für mich tut und ich am Anfang keine Freunde hatte, die mir dabei hätten helfen können, ist eine Fortführung meiner Therapie auf Grundeis gegangen. Wenn ich nach dem Abi wieder zurückgehe, kann ich die Therapie hoffentlich weiter fortsetzen. Ich koche mir Tee, mache bei offenem Fenster laut Musik an und tue so, als wüsste ich nicht, dass mein Vater Stromae ganz scheußlich findet. Als es klingelt, lasse ich ihn zur Tür gehen und bleibe einfach auf meinem Bett liegen, während die frohe Abendsonne in mein Zimmer scheint und mein weißes Shirt orange anmalt. Als Julius den Kopf in mein Zimmer steckt, läuft gerade »Ta fête«. »Döner?«, fragt er. Er hat wieder nasse Haare, weil er direkt beim Training geduscht hat. Ich hoffe doch sehr, dass er vorher noch irgendwas gegessen hat und nicht mit der Grundlage von anderthalb Müsliriegeln und einer halben Banane zum Training gegangen ist. »Döner«, sage ich und setze mich auf. Ich hab keine Ahnung, ob ich auch nur einen halben Döner essen kann. Aber ich bin sicher, dass Julius sich dem Rest erbarmen würde. »Meine Mutter hat angeboten das ganze Zubehör mit dem Auto zu dir zu karren, damit wir es nicht schleppen müssen«, informiert Julius mich, während wir uns zu Fuß auf den Weg zum nächsten Dönerladen machen. »Ihr habt schon alles besorgt?«, frage ich halb beeindruckt, halb entsetzt darüber, dass Familie Timmermann so viel Geld für mich ausgegeben hat. »Jap. Mari und ich haben uns die Katze geteilt und Mama hat den Rest gezahlt. Sie meinte, das wäre ein angemessenes Geschenk als Dank für mein Abi«, erklärt Julius amüsiert. »Aber das wäre wirklich nicht nö–« Julius legt mir die Hand auf den Mund und sieht mich an. Es soll wohl ein strenger Blick sein, aber Julius hat das einfach nicht drauf mit dem streng gucken. Seine grünen Augen funkeln entschlossen. »Pscht. Du verdienst nette Dinge.« Er zieht die Hand von meinem Mund zurück und ich muss mich wahnsinnig zusammenreißen, nicht mitten auf der Straße das Heulen anzufangen. Julius summt wieder leise vor sich hin und ich erkenne eine schiefe Version von »Ta fête« in den Tönen. Tief durchatmen, Tamino. »Danke«, murmele ich sehr leise. Julius grinst nur schweigend und schiebt seine Hände in die Hosentaschen, während er neben mir hergeht. Wir verbringen den Abend mit Döner – ich schaffe wirklich nur die Hälfte und Julius isst seinen kompletten Döner inklusive meiner übrigen Hälfte – und ein paar Folgen Deep Space Nine. Julius sitzt wieder zwischen meinen ausgestreckten Beinen und ich male mit den Fingern Muster auf seine nackten Unterarme, während wir mit der zweiten Staffel anfangen. Ich frage mich, was Julius‘ Mutter davon hält, dass er quasi bei mir eingezogen ist, aber Julius hat nichts darüber gesagt und ich traue mich nicht zu fragen. Seine Gegenwart beschert mir eine weitere Nacht ruhigen Schlaf und den Antrieb, auch am Freitag zur Schule zu gehen. Immerhin habe ich nur sechs Stunden und Julius hat gesagt, dass wir hinterher die Katze holen können. Vor lauter Vorfreude auf meine Katze vergesse ich sogar aufgeregt darüber zu sein, dass ich mit Julius, seiner Schwester und seiner Mutter Auto fahren muss, um die Katze zu holen. Wie es scheint, haben Marina und ihre Mutter das ganze Zubehör schon in den Wagen geladen – inklusive eines Katzenkorbs, in dem sie dann transportiert werden kann. Marina drückt mir eine Packung Leckerlis in die Hand und ich muss mehrere Minuten sehr konzentriert atmen, um nicht vor Julius‘ Familie in Tränen auszubrechen. Verflucht seien die Depressionen und die damit einhergehende mangelnde Kontrolle über meine Emotionen. Wie es sich herausstellt, sieht Julius‘ Tante beinahe genauso aus wie Julius‘ Mutter, was mich vermuten lässt, dass die beiden auch Zwillinge sind. Der größte Unterschied ist, dass Julius‘ Tante dicker ist, weniger Lippenstift und eine dieser Kurzhaarfrisuren trägt, die viele weiße Frauen in ihren Vierzigern tragen. Ich habe nicht wirklich die Kapazität, auf das familiäre Geschnatter zu achten, weil aus einer der geöffneten Türen ein flauschiges Köpfchen mit nur einem Ohr hervor lugt. Während Julius gerade erklärt, dass ich sein Abi gerettet habe und Familie Timmermann ihm deswegen diese Katze schenkt, gehe ich langsam durch den mir unbekannten Flur und lasse mich auf die Knie sinken. Die Katze mustert mich mit riesigen Pupillen – wahrscheinlich ist sie mit der Menge an Menschen in diesem Flur ziemlich überfordert. Als ich die Hand ausstrecke, zögert sie kurz, dann kommt sie langsam hervor und schnuppert an meinem Finger. Meine Tränendrüsen laufen wahrscheinlich gleich über, weil ich schon den ganzen Tag Tränen zurück halte. »Hallo«, sage ich leise und beobachte, wie sie meine Hand ganz genau untersucht. Ich krame nach den Leckerlis, die Marina mir gegeben hat, und halte eines auf der offenen Handfläche hin. Das kommt gut an. Nachdem sie meine Finger ausgiebig abgeleckt hat, macht sie noch ein paar tapsige Schritte auf mich zu und stupst ihren Kopf gegen mein Knie. Ich hoffe, dass niemand mein Schniefen hört. Ich kriege nichts mit vom Rest der Unterhaltungen oder davon, wie wir wieder ins Auto steigen oder von der Fahrt. Alles, was ich anschaue, ist das kleine tapsige Tier mit den großen Augen, das mich durch die Stangen der Korbtür anschaut und jedes Leckerli isst, das ich anbiete. Wenigstens schaffe ich es, noch ungefähr fünfzehn Mal meinen Dank zu stammeln, als ich zu Hause abgesetzt werde und alle mir dabei helfen, die verschiedenen Dinge in die Wohnung zu tragen. Marina übernimmt den recht sperrigen Kratzbaum, da sie laut Julius die meisten Armmuskeln hat. Ich trage den Korb, Julius einen Rucksack voll mit Futterdosen und einen Sack Streu und Julius‘ Mutter das leere Katzenklo und zwei Futternäpfe. Ich umarme Marina und Julius zum Abschied und werde von Frau Timmermann umarmt – etwas, das mich ein wenig überfordert, aber wenigstens ist meine Batterie dank Julius so weit aufgeladen, dass es nicht peinlich wird und ehe ich es mich versehe, bin ich mit dem kleinen Fellknäuel allein in meinem Zimmer und öffne behutsam den Korb. Sie hat bunt gemustertes Fell – weiß und schwarz und rot wild durcheinander und strahlend orangene Augen – und als ich den Korb öffne, huscht sie sofort unters Bett und ich lege mich auf den Bauch, um sie dort zu beobachten. So verbringe ich die nächsten drei Stunden – ich rede mit ihr und sie erforscht den Staub unter meinem Bett. Ich höre sie ab und an niesen und hin und wieder leuchten ihre Augen mir entgegen. Mein Handy vibriert und ich lese die eingegangene Nachricht von Julius. »Hat sie schon einen Namen?« »Ich denke, ich werde sie Ororo nennen, aber mit zweitem Namen sollte sie definitiv Juli heißen.« »Spinner ❤« Ich starre das Herz ungefähr zehn Minuten lang und werde erst abgelenkt, als ein haariges Etwas an meiner Wange schnüffelt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)