Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 20: Theorie und Praxis ------------------------------ »Ich hoffe, das mit dem Rum hält sich in Grenzen«, sagt Lotta leise, nachdem ich noch einmal ausführlich erzählen musste, wie genau das von meinen Freunden als »Kuschelwochenende« betitelte Treffen mit Julius gelaufen ist. Ich friemele an meinem Shirtsaum herum und seufze. »Keine Sorge«, murmele ich. Lotta hat natürlich alles Recht der Welt, das zu sagen und zu befürchten. Ich und Alkohol, wir haben eine recht ungesunde Vergangenheit miteinander und ich habe kein Bedürfnis, wieder an einen Ort zurückzukehren, den ich Gott sei Dank hinter mir gelassen habe. »Vielleicht wäre es eine gute Idee mit Juls darüber zu reden? Du weißt schon, damit er da auch ein Auge drauf haben kann, wenn wir nicht da sind«, meint Anni vorsichtig. Wir liegen zu viert in einem Bündel auf meinem Bett. Noahs Finger spielen mit meinen Haaren, die schon wieder viel zu lang geworden sind und in alle Himmelsrichtungen abstehen. Es ist nicht so einfach, sich einen Termin zu machen, wenn man nicht mit fremden Menschen reden oder irgendwen anrufen will – und dann muss man auch noch einer wahrscheinlich weißen Friseurin erklären, wie sie am besten Haar mit Afrotextur schneiden soll. Nein danke. Vielleicht sollte ich sie einfach wachsen lassen und in einem zusammengebundenen Puschel tragen. »Ich bin nicht sicher, wie ich das Thema am besten ansprechen soll, ohne, dass es komisch ist«, sage ich. Ich kann auch nicht leugnen, dass die Stimme in meinem Kopf, mit der ich schon seit Jahren lebe, immer noch große Vorbehalte und Zweifel bezüglich dieser frischen Freundschaft hegt. Aber da das dieselbe Stimme ist, die mir manchmal nachts einreden will, dass Noah, Anni und Lotta nur aus Mitleid mit mir befreundet sind und mich eigentlich gar nicht mögen, versuche ich sie so gut es geht zu ignorieren. Wie fängt man mit solchen Sachen am besten an? Noah, Anni und Lotta waren alle live dabei und ich musste das Thema nicht künstlich einleiten. Aber ich kann schlecht zu Julius hingehen und sagen: »Hey Julius, es wäre cool wenn du ein Auge auf meinen Alkoholkonsum haben könntest, weil ich vor ein paar Jahren schon ziemlich nah dran war ein jugendlicher Alkoholiker zu werden, nachdem meine Mutter gestorben ist. Haha. Wie wäre es mit noch einer Folge Deep Space Nine?« »Vielleicht kannst du einfach mit ihm drüber sprechen, wenn er dich nächstes Mal zum Saufen einlädt«, schlägt Noah vor. Macht ziemlich viel Sinn, aber mein Herz hämmert trotzdem unangenehm doll bei dem Gedanken daran, diese scheußlichen Dinge vor Julius auszubreiten. Es ist peinlich und ich will nicht, dass er mich komisch anschaut, oder anfängt eine Mitleidsschiene zu fahren oder… »Ich sehe da arges Kopf zerbrechen«, sagt Anni und patscht ihre Hand auf mein Gesicht, was mich zum Lachen bringt und die Spirale in meinem Gehirn anhält. Zumindest für den Moment. Ich rede selbst mit meinen Freunden selten über das Thema, weil ich damals zu dem Entschluss gekommen bin, dass Verdrängung für mich erst mal am besten funktioniert. Vielleicht habe ich nach dem Abi ja genug Zeit und Ruhe, um mich um die Scherben zu kümmern. Aber für ein Jahr muss Sekundenkleber reichen. »Ich fasse es nicht, dass Juls insgeheim so ein Teddybär ist. Weißt du noch, wie du am Anfang über ihn geredet hast? ‚Boah, der Typ ist so ein arroganter Lackaffe. Er hat einen IQ wie ein Stück Brot. Ich will ihm keine Nachhilfe geben…‘«, sagt Lotta und imitiert dabei meinen angestrengten Ton, den ich angeschlagen habe, als ich vor ein paar Monaten angefangen habe, über Julius zu reden. Ich grabbele nach einem Kissen und haue es ihr halb empört, halb liebevoll ins Gesicht. Sie lacht und windet sich zwischen Anni und mir, als könnte sie irgendwohin entkommen, wenn Noahs Beine auf ihr drauf liegen. Ha! Sie ist mir ausgeliefert. Ich haue noch ein paar Mal mit dem Kissen nach ihr, bis Lotta so doll lacht, dass ihr Tränen über die Wangen laufen. »Ich hab nie behauptet, gute Menschenkenntnis zu haben!«, sage ich, nachdem Lotta aufgehört hat zu lachen. »Um fair zu sein… er war ja schon auch einer von diesen Typen, die über Taminos Noten die Augen verdreht haben«, erinnert Noah Lotta. »Ja. Ich hoffe, er hat ein schlechtes Gewissen deswegen«, murrt Anni. »Aber er ist schon ziemlich lieb. Und habt ihr gesehen…« »Wie sie Händchen gehalten haben?«, ergänzt Lotta und seufzt. »So süß…« »Ich dachte eher, er wäre so ein… ‚No Homo‘-Typ«, gebe ich peinlich berührt zu. »Ist er denn eigentlich hetero?«, will Noah wissen. Ich zucke mit den Schultern. »Wahrscheinlich«, sage ich. Ich hab natürlich keine Ahnung und es ist auch ziemlich egal. Die Tatsache, dass Julius asexuell ist, hat mich überrascht und vielleicht auch ein bisschen gefreut, weil das heißt, dass er diesbezüglich mit zur Community gehört. Aber wie seine sonstigen Interessen aussehen, weiß ich nicht. Ich hab ihn noch nicht ein einziges Mal irgendwas über irgendwen sagen hören – egal welchen Geschlechts. Er hat viele männliche Freunde, versteht sich mit den meisten Mädchen im Jahrgang… aber er ist in keiner festen Beziehung und ich gehe noch nicht lang genug auf die Schule, um zu wissen, ob er schon mal eine Freundin oder einen Freund hatte. Ich vermute mal, dass seine komischen Kumpels anders mit ihm umgehen würden, wenn Julius an Kerlen interessiert wäre. Einige von denen sind eindeutig No Homo-Typen. Dieser Lennard zum Beispiel. Und der hat wirklich einen IQ wie ein Stück Brot – von der Meinung rücke ich auch nicht ab. Ich mag ihn nicht besonders, aber ich glaube, er spielt auch in Julius‘ Mannschaft mit. »Hetero oder nicht, ich glaube du hast ihn angesteckt. Mit dem Kuschelvirus«, sagt Lotta zufrieden. Ich muss lachen. »Da hab ich nichts gegen«, gestehe ich und spüre, wie mein Gesicht warm wird. »Er riecht auch ziemlich gut«, meint Lotta. Ich hüstele. »Aha! Das ist dir auch schon aufgefallen!« »Hey! Ich bin auch nur ein Mensch! Und blind bin ich auch nicht!«, sage ich zu meiner Verteidigung. Noah gluckst. »Er sieht schon sehr gut aus«, meint er. »Jap. Und er hat diesen Pferdeschwanz…«, sagt Lotta seufzend. »Ihr müsst aufhören, Julius anzuschmachten«, sage ich streng. »Das sagst du nur, weil es dir peinlich ist, dass er Fußball-Kapitän ist!«, meint Anni gnadenlos. Ich grummele. »Ist ja nicht so, als hätte ich gute Erfahrungen mit Fußball-Kapitänen gemacht«, sage ich ungnädig. »Naja! Aber du kannst doch Julius nicht mit Moritz vergleichen!« Ich dachte eigentlich, dass der Name nach über einem halben Jahr vielleicht nicht mehr dieses unangenehme Gefühl in meinem Magen auslösen würde, aber offenbar hab ich mich getäuscht. In mir zieht sich immer noch alles zusammen, wenn ich den Namen höre und ich atme mehrmals tief ein und aus. »Ah, fuck. Sorry, sorry, sorry«, sagt Anni und ich merke, wie sie sich aus unserem Knäuel löst und mein Gesicht in beide Hände nimmt. »Ich dachte…«, meint sie und sieht ganz verloren aus, wie ihr Gesicht über meinem schwebt. Ich dachte auch. Aber anscheinend nicht. »Schon ok«, presse ich zwischen den Zähnen hervor und konzentriere mich weiter aufs Atmen. »Ich könnte ihm immer noch nachträglich die Fresse polieren«, sagt Anni. »Ich würde sogar seine Arme festhalten«, meint Noah, der sonst ausgesprochen pazifistisch durchs Leben geht. Ich möchte sehr dringend nicht weiter über Moritz reden oder über ihn nachdenken oder ihm so viel Platz in meinem Leben einräumen, dass ich nach mehreren Monaten immer noch konzentriert atmen muss, um keine Panikattacke zu bekommen. Ich ärgere mich über mich selbst, weil ich so schlecht darin bin, mit beschissenen Dingen umzugehen, die in meinem Leben passieren. Lotta nimmt meine Hand und alle Drei schweigen, während ich mit geschlossenen Augen atme und im Stillen Dinge aufliste, die ich in der letzten Woche gelernt habe. Es dauert ein paar Minuten, bis es vorbei ist und ich merke, dass ich ziemlich durchgeschwitzt bin, also sortiere ich mich aus dem Knäuel und setze mich auf. »Ich hab Julius gesagt, dass ich morgen zu seinem Fußballspiel gehe«, sage ich schließlich und fange an, frische Klamotten aus meinem Schrank zu sortieren. Ich weiß, dass die Drei hinter meinem Rücken einen Blick tauschen. »Ich nehme an, Julius weiß nicht…«, fängt Lotta zögerlich an. Ich schüttele den Kopf. »Wir gehen mit hin, ok?«, sagt Noah. Ich drehe mich um und schaffe ein halbes Lächeln. »Ok«, sage ich. »Ich geh eben duschen.« Wir reden den Rest des Samstags nicht mehr über Moritz. Oder über Fußball. Aber wir gehen in den Bürgerpark und kaufen uns Eis, das ich auch vom Geld meines Vaters bezahle. Ich gebe dem Mann, der uns das Eis verkauft, einen zwanzig Euroschein und er ist verwirrt, aber wir winken ihm nur strahlend zu und machen uns auf den Weg. Mir fällt auf, dass Lotta viel Zeit an ihrem Handy verbringt. Als ich sie danach frage, grinst sie nur spitzbübisch und sagt nicht, worum es geht. Wir gucken zusammen die neusten Folgen von Star Trek Discovery und diskutieren einige Fantheorien. Gegen halb zehn bekomme ich eine Nachricht von Julius. »Kommst du morgen?« »Ja. Mit den anderen zusammen, wenn das ok ist.« »Klar. Je mehr Fans, desto besser.« Die letzte Nachricht enthält eine Menge lachende Emojis, drei nach oben gereckte Daumen und einen Fußball. »Soll ich dir ein Schild basteln? ‚Julius, ich will ein Kind von dir‘?« »Ja bitte. Wirf auch gerne Unterwäsche aufs Feld!« Ich gluckse heiter vor mich hin und halte das Handy in die Richtung der anderen, damit sie die neusten Nachrichten lesen können. »Was ist deine Lieblingsfarbe? Dann packe ich schon mal ein paar Boxershorts ein.« »Grün passt am besten zu meinen Augen ;)« Ich grinse mein Handy an, dann fällt mir auf, dass drei Augenpaare mich sehr interessiert beobachten. »Was?«, frage ich. »Ihr flirtet«, erklärt Anni trocken. Noah wackelt mit den Augenbrauen. Ich hole tief Luft und werfe einen Blick auf die Nachrichten. Dann atme ich wieder aus und klappe meinen Mund zu. »Ups?«, sage ich. Lotta und Anni lachen, Noah verdreht die Augen und boxt mir sachte gegen den Oberarm. »Wahrscheinlich hat er es auch nicht gemerkt, dann ist es auch egal«, meint Lotta. »Wäre auch peinlich. Nicht, dass er denkt ich will was von ihm«, hüstele ich. »Weiß er eigentlich, dass du…«, meint Anni und wedelt mit der Hand. Ich seufze. »Anni, vielleicht kannst du dir einfach merken, dass er nichts über mich weiß, außer die vielen Gründe dafür, warum ich die neuen Star Trek Filme nicht mag und dass meine Oma aus dem Senegal kommt«, erkläre ich. Nein, Julius weiß nicht, dass ich schwul bin. Er weiß nicht, dass meine Mutter tot ist und dass ich eine Angststörung habe und dass ich ungute Erfahrungen mit einem Fußballkapitän namens Moritz gemacht habe. Er hat keine Ahnung, dass ich selber gerne Fußball spiele – und das auch ziemlich gut und dass wir – wenn ich nicht weggezogen und aus der Mannschaft ausgetreten wäre vielleicht gegen ihn hätte spielen müssen. Er weiß nicht, dass ich auf dem besten Weg zu einem Alkoholproblem war, weil ich mit dem Tod meiner Mutter nicht klar gekommen bin. Er weiß kein kleines bisschen und ich bin nicht sicher, ob er diese Dinge überhaupt wissen wollen würde. »Er guckt dich an, als würde dir die Sonne aus dem Arsch scheinen«, informiert Anni mich. »Ich bin mir recht sicher, dass er alles über dich wissen möchte und nur nicht so richtig weiß, wie er das am besten sagen soll.« Ich seufze und schaue noch mal hinunter auf mein Handy und die Nachrichten. Mein erster Gedanke ist: Mit Alkohol wäre es nicht so schwierig, über diese Dinge zu reden. Aber das ist das gefährlichste am Alkohol. Er baut meine Hemmschwellen ab, von denen ich so viele habe. Das macht ihn ausgesprochen verführerisch für jemanden, der Angst vor allem hat und sich angetrunken weniger ängstlich fühlt. Ich verwerfe den Gedanken, Julius noch mal zu einem Trinkgelage einzuladen. »Ich versuch‘s mal häppchenweise«, murmele ich. Den Rest des Abends kuscheln und reden wir im Dunkeln und als ich einschlafe, träume ich zum ersten Mal seit langem wieder von meiner Mutter. * Weil das Spiel schon um zehn anfängt, haben wir uns einen Wecker um acht gestellt, weil alle unter die Dusche wollen. Während Lotta duscht, kümmern Anni und ich uns um das Frühstück. Mein Vater sitzt im Wohnzimmer und liest Zeitung und achtet kein bisschen auf uns – es ist ein bisschen so, als wären wir gar nicht da. Immerhin hat er Noah, Anni und Lotta begrüßt, als er mitbekommen hat, dass sie das Wochenende über hier waren. Es macht mich immer ein bisschen zufrieden, wie eisig Anni ist, wenn er zufällig in unserer Gegenwart ist. Ich könnte schwören, dass er ganz genau spüren kann, was sie von ihm hält. Nicht, dass ihm das viel ausmachen würde, aber allein die Tatsache, dass er weiß, dass meine Freunde ihn beschissen finden, ist irgendwie befriedigend. Ein Jahr Schule noch, dann mache ich mich aus dem Staub und werde ihn hoffentlich nie wieder sehen. Ich lehne Annis Vorschlag ab, die Rühreier mit Zimt zu würzen und benutze stattdessen Pfeffer und Fondor. Sie schüttelt den Kopf, als wäre ich ein echter Kostverächter und deckt den Tisch. Noah hat seine Gitarre mit in die Küche gebracht und klimpert ein wenig darauf herum. Unweigerlich muss ich daran denken, wie anders es in dieser Küche wäre, wenn meine Mutter noch am Leben wäre. Sie würde mir beim Frühstück machen helfen und jede Menge Obst schnippeln, mit mir zusammen Lieder singen und mit meinen besten Freunden scherzen. Sie würde sich nach Annis Müttern und Noahs Vater und Schwester erkundigen und Lotta Komplimente zu ihrem selbstgenähten Kleid machen. Sie hätte Julius sehr wahrscheinlich auch gemocht. »Woran denkst du?«, fragt Noah sachte vom Küchentisch aus. Wahrscheinlich sieht man mir an, dass ich mich in meinen eigenen Gedanken verlaufen habe – das passiert manchmal und ich glaube, ich starre dann einfach in die Leere, als könnte ich dort Dinge sehen, die anderen verborgen bleiben. »Mama«, gebe ich ehrlich zurück. Noah nickt. Anni hat ihren Kopf im Kühlschrank und schaut, was sie alles fürs Frühstück hervorkramen kann. Es ist so vertraut und heimelig, dass ich direkt wieder Angst davor habe, wie es sein wird, wenn die Drei heute Abend wieder fahren. Ich rühre in der Pfanne herum und sehe aus dem Augenwinkel zu, wie Anni alles an Aufschnitt auf dem Tisch ausbreitet und dann anfängt, einen Berg Toast zu machen. »Kommen Mari und Linda auch zum Spiel?«, erkundigt Anni sich, während sie umsichtig einen großen Turm aus Toastscheiben baut. »Ich glaube Linda wohl nicht. Marina meinte, dass sie am Wochenende nie vor elf aufsteht«, gebe ich zurück. »Verständlich«, meint Lotta, die gerade in die Küche kommt und bereits fertig gekleidet ist. Sie trägt ein selbstgenähtes Kleid mit Kirschenmuster, dessen Druck perfekt zu ihren rot gefärbten Haaren passt. Ihre Haare sind bereits geföhnt und in einer komplizierten Hochsteckfrisur auf ihren Kopf getürmt. Sie sieht aus, als würde sie auf ein Pferderennen gehen wollen und nicht auf einen Sportplatz. »Rührei ist fertig«, sage ich lächelnd, während sie sich setzt. Noah stellt seine Gitarre beiseite und Anni trägt ihren Toast-Turm zum Tisch, während ich auf jeden Teller Rührei verteile. »Sollen wir deinem Vater was anbieten?«, zischt Lotta. »Nope«, sagt Anni brüsk, setzt sich neben Noah und fängt sehr zackig an, ihr Rührei in sich hinein zu schaufeln, als würde sie erwarten, dass Lotta es ihr wegnehmen und zu meinem Vater ins Wohnzimmer tragen will. Wir machen uns um halb zehn auf den Weg zum Unigelände, auf dem die Spiele der Schule stattfinden. Da die Universität direkt neben der Schule liegt, wird der Sportunterricht oft dort abgehalten und auch für offizielle Veranstaltungen wird das Gelände genutzt. Unsere Fußballmannschaft ist bereits auf dem Feld und macht sich warm, als wir ankommen. Man erkennt Julius sofort, weil er der einzige mit Haaren ist, die die Farbe von Vanillepudding haben. Ich glaube, der Typ, mit dem er seine Dehnübungen macht, ist einer seiner engsten Freunde. Cem. Cem ist ein ziemlich lustiger Kerl – ich habe ihn nicht in vielen Kursen, aber ich musste schon ab und an über seine Bemerkungen im Unterricht schmunzeln. Er trägt immer ein Cap, aber jetzt hat er es abgenommen und ich glaube, ich sehe zum ersten Mal seine kurzen, schwarzen Haare. Er ist kleiner als Julius und die beiden albern herum, während Cem sich auf Julius‘ Rücken stützt, damit Julius im Sitzen mit den Fingern an seine Schuhspitzen kommt. Am Rand verteilt stehen schon mehrere Leute, quatschen und lachen und einige Leute rufen den Spielern auf dem Feld irgendwelche Dinge zu. Ich atme tief ein und denke daran, wie großartig es wäre, auch quer über den Platz zu laufen und mir einen der Bälle zu schnappen. Vielleicht hab ich es schon verlernt. Weil Anni keine Scham über nichts hat, brüllt sie quer über den Platz, um Julius auf uns aufmerksam zu machen. »Oi! Juls!« Julius dreht sich um, entdeckt uns und winkt zu uns herüber. Und natürlich kommt er prompt in unsere Richtung und Cem folgt ihm. »Sah aus, als würdest du dir gleich was brechen«, meint Anni zur Begrüßung und Julius schnaubt empört. »Wie bitte? Ich bin topfit!« »Aber steif wie’n Brett, Alter«, meint Cem und zuckt mit den Schultern. Julius boxt ihn. »Verräter!« Cem grinst Julius an, dann wendet er seine Aufmerksamkeit mir zu und schmunzelt zu mir hoch. Er ist noch ein bisschen kleiner als Julius, das heißt, dass er zu mir aufschauen muss. Ich schiebe nervös meine Brille nach oben. »Der Nachhilfelehrer«, sagt Cem amüsiert. Aus unerfindlichen Gründen wird Julius rot wie eine Tomate. »Jap. Das bin ich«, gebe ich verlegen zurück. »Gut, dass du dich erbarmt hast, sonst müssten wir heute wahrscheinlich schon ohne ihn spielen«, sagt Cem und klopft Julius auf den Rücken. Ich lächele unsicher zu ihm hinunter. »Keine Ursache«, gebe ich zurück. Ich bin wirklich sehr schlecht in Smalltalk. Und dann passiert etwas, mit dem ich eindeutig nicht gerechnet habe. Cem schaut mich an. Und mit anschauen meine ich – er schaut mich von oben bis unten und von unten bis oben an. Und zwinkert. Ähm. Ich öffne den Mund und merke, wie mein Gesicht heiß wird. »Dehnübungen!«, sagt Julius energisch und zerrt Cem weg von der Balustrade, die das Spielfeld umrandet. Cem winkt in unsere Richtung, während Julius ihn davon schleift. »Hat er gerade…?«, frage ich unsicher. »Jup. Hat er«, sagen Lotta und Noah gleichzeitig. Anni pfeift durch die Zähne. »Ein Kerl nach meinem Geschmack«, sagt sie breit grinsend und Noah schnaubt. »Dann hast du dir den falschen Freund ausgesucht«, meint er. Anni streckt ihm die Zunge heraus. »Ich hab mir genau den richtigen ausgesucht, du Horst!« Als das Spiel angepfiffen wird, werde ich von Lotta und Anni gelöchert, ob Cem mein Typ ist und ob ich mir vorstellen könnte, ihn näher kennen zu lernen. »Ich habe keinen Typ«, sage ich abwehrend und mustere Cem, während er neben Julius über den Rasen jagt. »Er hat ein ziemlich gutes Grinsen«, meint Lotta. Ja, ok. Er hat ein ziemlich gutes Grinsen. Und beeindruckende Wangenknochen. Ja, er sieht eindeutig nicht übel aus. Aber er raucht auch wie ein Schlot, ist Fußballer und einer von den coolen Jungs. Coole Jungs sind nichts für mich. Zumindest theoretisch. Ugh, warum ist das passiert? Es bleibt natürlich niemandem verborgen, dass auch mehrere Mädchengruppen das Spiel besuchen und sie scheinen alle ihre Lieblinge zu haben. Besonders beliebt sind offensichtlich Julius, Cem und Daniel – der Torwart, der fast so groß ist wie Noah und vielleicht mein Typ gewesen wäre, bevor das ganze Desaster mit Moritz passiert ist. Julius spielt wirklich sehr gut. Ich kann sehen, warum er der Star der Mannschaft ist und ich komme tatsächlich dazu, einen seiner berühmt berüchtigten Fallrückzieher zu beobachten – etwas, das ich nie besonders gut hinbekommen habe. Ich glaube, dafür sind meine Gliedmaßen zu lang. Ich könnte schwören, dass Julius direkt nach seinem Glanzstück zu uns herüber schaut, als würde er prüfen wollen, ob wir es auch ja gesehen haben. Immerhin hat er es mir ja groß angekündigt, dass er mir einen Fallrückzieher zeigen will, wenn ich zu seinem Spiel komme. »Fußball ist wirklich nur interessant, wenn Leute mitspielen, die man mag«, meint Anni und klatscht ausgelassen in die Hände. Es juckt mich das ganze Spiel über in den Beinen, weil ich auch laufen möchte. Und Tore schießen. Auf die Zuschauer könnte ich dabei gut und gerne verzichten, aber ich vermisse den Sport. Vielleicht ist das das nächste Geheimnis, das ich Julius erzählen kann und wenn er es weiß, dann haben wir ja eventuell die Möglichkeit, irgendwann mal zusammen in den Park zu gehen und ein bisschen zu trainieren. In eine Mannschaft gehe ich besser nicht mehr, nicht nach dem letzten Desaster. Hier in dieser Mannschaft sind auch Kerle wie Lennard, die man wirklich nicht in seiner näheren Umgebung braucht. Er ist mit großer Sicherheit einer von diesen Kerlen, die mit Anti-Insektenspray rumlaufen, nachdem sie mitbekommen haben, dass jemand in ihrer Nähe schwul ist. Nein danke. »Du zappelst«, informiert Noah mich lächelnd. Ich blinzele und stelle fest, dass er recht hat. Ich trete ununterbrochen von einem Bein aufs andere. »Ich will auch«, klage ich und Noah bufft mich mit der Schulter an. »Du könntest...«, meint er. Ich seufze. Ja, theoretisch könnte ich. Theoretisch könnte ich auch Cem fragen, warum er so geguckt hat. Theoretisch könnte ich anfangen, mit Julius‘ Kumpanen in den großen Pausen abzuhängen. Aber praktisch und theoretisch sind immer unterschiedliche Dinge und meistens muss ich die Theorie gegen meine Angst wiegen. Und die Theorie verliert fast immer dabei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Julius nach dem Spiel noch mit seiner Mannschaft feiern will, denn sie gewinnen recht problemlos 4:1 und der Sieg scheint mir Julius‘ schulischen Erfolg zu zementieren. Sehr schön. Die Mannschaft wäre ohne ihn sicherlich bedeutend schlechter. »Wann geht euer Zug nachher?«, frage ich kurz nach dem Abpfiff, während die Mannschaft auf dem Feld ein verschwitztes Knäuel bildet. Ja, es ist definitiv besser, wenn ich nicht mehr in eine Fußballmannschaft gehe. »Ach, wir haben noch ein paar Stunden Zeit«, meint Lotta und winkt ab. Sie hakt sich bei mir unter und ich beobachte, wie Noah Anni einen Kuss aufs Haar gibt. »Dann können wir deine Batterie noch ein bisschen aufladen gehen«, sagt Noah sanft und legt mir einen Arm um die Schulter. Ich werfe einen Blick zurück und sehe Julius inmitten seiner Mannschaftskameraden stehen. Wer drei von vier Toren geschossen hat, verdient es, von seiner Mannschaft gefeiert zu werden. Vielleicht hätte ich ihm gerne gratuliert. Vielleicht hätte ich ihn gerne umarmt. Aber das wäre hier mitten auf dem Sportplatz sicherlich keine gute Idee und er ist zu beschäftigt mit seinen Freunden, um mir noch großartig Beachtung zu schenken. Das ist ok, denke ich. Aber, sagt eine leise Stimme in meinem Kopf, bist du jetzt nicht auch einer von seinen Freunden? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)