Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 19: once more with feeling ---------------------------------- Als ich aufwache, ist mir wahnsinnig heiß und ich fühle mich aus unerfindlichen Gründen so sicher und gut aufgehoben wie seit Monaten nicht mehr. Es dauert ein paar Momente, bis mein Gehirn hochgefahren ist und mich mit den Erinnerungen an die Ereignisse nach Schulschluss beliefert. Ich reiße die Augen auf und sitze so zackig senkrecht im Bett, um mich zu vergewissern, dass ich mir all das nicht nur eingebildet habe, dass ich Anni und Noah zu Tode erschrecke und Lotta beinahe vom Bett fällt. »Keine Sorge, Alter. Wir sind noch da«, sagt Noah lächelnd und ich bin schon wieder in Stimmung mir die Augen aus dem Kopf zu heulen, weil sie wirklich alle hier sind. An meinem Geburtstag. Ich schaffe es nicht einmal, mich wegen Lotta schlecht zu fühlen, die ganz sicherlich riesigen Ärger bekommen wird, sobald sie nach Hause kommt, weil ich einfach so glücklich bin, dass ich platzen könnte. Noah, Anni, Lotta und Julius haben allesamt ihre Handys in der Hand und ich brauche einen Augenblick um zu verstehen, dass sie sich nicht laut unterhalten haben, sondern per WhatsApp. »Wie spät ist es?«, krächze ich und wische mir mit der rechten Hand über die Augen. »Halb fünf. Du hast echt nicht so lang geschlafen«, versichert Lotta mir. »Ja, dafür, dass du ausgesehen hast wie ein Zombie«, fügt Anni hinzu. Ich erinnere mich noch sehr an den Blick in den Spiegel, als ich mich heute Morgen für die Schule fertig gemacht habe und ich sah in der Tat aus wie ein Zombie. Wenn man die ganze Woche lang dauerhaft Panik hat, an seinem Geburtstag zum ersten Mal in seinem Leben allein zu sein, schläft es sich einfach nicht sonderlich gut. Ich habe die ganze Woche lang überlegt, ob ich Julius gegenüber irgendwie erwähnen kann, dass ich am Freitag Geburtstag habe, aber es wäre mir komisch vorgekommen. Und ein bisschen erbärmlich. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, habe ich den üblichen unbeschrifteten Umschlag mit Geld darin auf dem Küchentisch gefunden – das größte Ausmaß der »Zuneigung« meines sogenannten Vaters. Es war nicht mal eine Karte dabei, aber da das jetzt schon seit Jahren so ist, wundert es mich nicht. Julius sitzt immer noch an meinem Fußende, die Beine wie ein Zelt über meine Unterschenkel gestellt und betrachtet mich schmunzelnd. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Besen. »Wir haben eine Gruppe für uns und Juls erstellt«, erklärt Anni. Aha. Sie ist direkt dazu übergegangen, Julius bei seinem Spitznamen zu nennen. Anni hat einfach überhaupt keine Scham. Ich beneide sie regelmäßig darum. »Jap. Und wir haben ihn dazu gezwungen, das Pottermore Quiz für sein Haus zu machen«, fügt Noah hinzu. Er sieht sehr zufrieden aus mit sich. »Gryffindor«, informiert Julius mich. Wer hätte gedacht, dass es mich nach zwei Monaten Bekanntschaft so zufrieden machen würde, dieses schiefe Grinsen zu sehen. Noah streckt seine Hand für eine Brofist aus und Julius haut seine dagegen, da sie zusammen in einem Haus gelandet sind. Was für ein seltsames Bild. Meine zwei Leben sind ganz plötzlich miteinander verschmolzen und ich brauche noch ein paar Augenblicke, um das miteinander zu vereinbaren. »Marina ist auch in Gryffindor. Sie hat einen Kapuzenpulli und ne riesige Fahne bei sich im Zimmer«, erklärt Julius. »Oh! Willst du sie einladen? Vielleicht möchte sie kommen?«, sage ich hastig. Dann ist Julius nicht so allein in einer Gruppe von Leuten, die sich schon seit acht Jahren kennen. Ich bin total beeindruckt, dass Julius mit uns mitgekommen ist. Ich hätte mich das im Leben nicht getraut, wenn ich niemanden außer dem Gastgeber kenne. Wahrscheinlich ist er in Gryffindor ganz gut aufgehoben. »Klar, ich kann sie fragen. Ich glaube, sie ist mit Linda verabredet«, gibt Julius zurück und fängt an auf seinem Handy herumzutippen. »Ich bin sicher, Linda ist auch sehr nett und sie darf gerne mitkommen«, erkläre ich. »Wie viel Knete hat dein alter Mann dir hingelegt?«, fragt Noah. Anni knurrt leise. »Ich glaube zweihundert. War zumindest letztes Jahr so. Ich hab noch nicht reingeschaut«, gebe ich zu und fahre mir durchs Haar. Ich sehe Julius‘ Blick kurz zu mir herüber flackern, als Noah diese Frage stellt. Ich weiß, dass er gesagt hat, dass er gerne mit mir befreundet sein möchte, aber ich hab mich noch nicht getraut, ihm besonders viele Dinge von mir zu erzählen. Das liegt vor allem daran, dass ich mich nicht aufdrängen will und daran, dass ich über vieles ungern rede, weil ich im Verdrängen besser bin. Vielleicht ist er auch nicht so der Typ dafür, dass man ihm von seinen Problemen berichtet. Wer weiß, ob er nicht total überfordert damit wäre. Wundern würde es mich nicht, da ich mit meinem eigenen Leben ja schon total überfordert bin. Für andere Leute muss es dann noch schlimmer sein. »Sie sagt, dass sie und Linda gerne vorbei kommen!«, informiert Julius mich. »Lasst uns was Cooles spielen! Black Stories? Ohhh! Ich will Black Stories spielen!«, sagt Lotta aufgeregt und klatscht in die Hände. »Ich hab Teil sechs und sieben hier irgendwo rumfliegen«, sage ich und versuche mich aus meiner Bettdecke zu befreien, was schwierig ist, wenn vier Leute darauf sitzen. Letztendlich schaffe ich es und komme mir dabei vor wie ein Schmetterling, der sich aus einem Kokon befreit. »In welchem Haus ist Linda?«, will Anni wissen. »Slytherin«, informiert Julius sie. »YES!«, ruft Anni begeistert und stößt die Faust in die Luft. »Ich liebe sie jetzt schon!« Julius lacht. »Wie haben die beiden sich kennengelernt?«, will Lotta wissen. »Spielen beide Volleyball für gegnerische Mannschaften«, erklärt Julius grinsend, während er eine weitere Nachricht auf seinem Handy tippt. Ich beschließe, dass ich die Vier ohne Bedenken noch ein wenig länger allein lassen kann und verschwinde zunächst einmal unter der Dusche und husche anschließend in die Küche, wo der Umschlag immer noch unangerührt liegt. Ich seufze, als ich danach greife. Wie erwartet stecken zwei grüne hundert Euro Scheine darin und ich betrachte sie. Immerhin kann ich meine Freunde so zum Essen einladen – dann hat mein Vater seine gute Tat des Jahres erledigt. »Hey«, ertönt Julius‘ Stimme von der Tür her und ich schaue auf, die beiden Scheine in der Hand. »Hey«, sage ich lächelnd. Julius sieht nervös aus und er kaut auf seiner Unterlippe herum. »Ich wusste nicht, dass du Geburtstag hast«, platzt es dann aus ihm heraus. Ich blinzele. »Ich weiß. Ich habs dir ja auch nicht gesagt«, gebe ich verwundert zurück. Er sieht aus, als würde es ihm zu schaffen machen, dass er das nicht wusste. Aber woher hätte er das ahnen sollen? »Ich will–hmpf«, sagt er und wedelt mit den Armen, als wüsste er nicht so genau, was er sagen soll. Dann seufzt er und gibt es mit dem Sprechen erst mal auf. Stattdessen kommt er zu mir herüber und umarmt mich. Ich gebe ein überraschtes Geräusch von mir, erwidere die Umarmung aber. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, nuschelt er gegen meine Schulter. Ich lächele und drücke ihn noch ein bisschen fester. Julius lässt sich erstaunlich gut drücken. Vielleicht, weil er gute zehn Zentimeter kleiner ist als ich, oder vielleicht weil er einfach gut mit Umarmungen ist. Ich bin immer noch dankbar und ein bisschen ungläubig darüber, dass Julius am letzten Wochenende so viel Körperkontakt mit mir geduldet hat. Er scheint diese ganze Freundschaftssache sehr ernst zu nehmen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass er im nüchternen Zustand Panik kriegt und sich direkt aus dem Bett stürzt, aber nein. Die Vorstellung, dass ich meine Batterie in Zukunft vielleicht ein bisschen regelmäßiger an ihm aufladen kann, macht mich zufrieden. »Willst du noch ein Stück Kuchen?«, frage ich in die Umarmung hinein. Julius hat noch keine Anstalten gemacht, mich loszulassen und ich werde mich sicherlich nicht darüber beschweren. Ich habe das Gefühl, dass ich Frau Lüske und Frau Timmermann einen Dankesbrief schreiben sollte, weil sie mir einen Freund beschert haben. Wer hätte das gedacht, als dieses ganze Nachhilfeelend losgegangen ist? Ich sicherlich nicht. »Eins mit extravielen Smarties drauf?« »Ok.« Er löst sich von mir und ich drücke ihm unfeierlich den Umschlag in die Hand, ehe ich den Rest vom Kuchen schneide. Als es an der Tür klingelt, geht Julius ungefragt aufmachen. Ich frage mich, ob er vielleicht schon durchschaut hat, dass ich eine Angststörung habe. Dann wiederum wirkt er sonst nicht unbedingt wie ein Mensch, der sich mit solchen Dingen auskennt. Ich drücke ihm im Flur sein Stück Kuchen in die Hand und nehme den Umschlag. »Wollt ihr Pizza oder Chinesisch oder Döner oder…?«, rufe ich in mein Zimmer. »Pizza!«, kommt es einstimmig zurück. Mir wird ganz warm ums Herz. »Pizza für dich auch ok?«, frage ich Julius. »Pizza geht immer«, entgegnet er, just als Marina und Linda die Treppe herauf kommen. Marina hat einen Muffin organisiert und eine kleine Kerze hinein gesteckt. »Ich wusste nicht, dass du Geburtstag hast!«, sagt sie zur Begrüßung und streckt den muffinfreien Arm nach mir aus, um mich zu umarmen. »Herzlichen Glückwunsch!« »Herzlichen Glückwunsch, Tamino«, sagt Linda lächelnd. Ich habe sie bislang nur auf einem Foto gesehen, aber ihre Augen hinter den eckigen Brillengläsern sind wirklich genauso riesig wie auf dem Bild, das ich von ihr kenne. Ihre langen, braunen Haare hat sie sich über eine Schulter geflochten und sie trägt ein übergroßes Shirt mit Wonder Woman Motiv als Minikleid mit einer Netzstrumpfhose darunter. »Oh mein Gott, das Shirt ist das beste, was ich je gesehen habe!«, ertönt Lottas begeisterte Stimme hinter mir und plötzlich ist der Flur voller Leute, die sich einander vorstellen und noch mehr Kuchen essen und ich muss mich wirklich zusammenreißen, um nicht schon wieder zu heulen, weil mein Herz so voll ist, dass es vermutlich gleich überläuft. »Ich nehme Pizzabestellungen entgegen«, sagt Anni. Sie hat den Flyer bereits in der Hand und drückt ihn Julius gegen die Brust, zückt einen Kugelschreiber und greift nach einem Notizblock auf der Kommode im Flur. »Döner und Hollandaise«, sagt Julius. Ich schüttele amüsiert den Kopf in seine Richtung und er streckt mir die Zunge raus. Anni hingegen nickt anerkennend. »Gute Wahl«, sagt sie und notiert nacheinander all unsere Pizzawünsche, ehe sie ungefragt unser Telefon schnappt und ins Wohnzimmer verschwindet, um dort in Ruhe zu telefonieren. Nachdem sie wiederkommt folgen noch weitere Komplimente über T-Shirts, da Noah eines mit Gandalf darauf anhat, Anni eins in Mischung aus »Herr der Ringe« und »A Song of Ice and Fire« trägt und Marina mehrere Star Trek und Ghibli Buttons an ihrer Handtasche befestigt hat. Alles in allem scheinen alle sich hervorragend zu verstehen. »Wir können nicht allzu lange bleiben, weil wir noch woanders eingeladen sind«, sagt Marina entschuldigend zu mir, während wir uns alle in mein Zimmer sortieren. Noah, Marina und Julius sitzen auf dem Bett, Linda, Anni und Lotta haben sich einfach auf den Fußboden gehockt, als ich zurück ins Zimmer komme. Ich reiche Anni schweigend den Umschlag mit dem Geld, damit sie zahlen kann, wenn unsere Lieferung kommt. »Kein Problem«, sage ich verlegen. »Danke, dass ihr überhaupt gekommen seid.« Wir unterrichten Marina davon, dass sie mit ihrem Bruder in einem Haus gelandet ist und sie verlangt ihm ein Highfive ab. »Dann kann ich dir ja zum Geburtstag einen Schal in den Hausfarben schenken«, sagt sie zufrieden. Julius schnaubt. »Solange er nicht selbstgestrickt ist.« »Hey! Werd nicht frech! Ich bin achtzehn Minuten älter als du!« »Aber du kannst ums Verrecken nicht stricken!« »Wann habt ihr Geburtstag?«, will ich sofort wissen. Vielleicht ist es ein bisschen gemein, weil ich Julius meinen Geburtstag nicht vorher verraten habe, aber ich möchte es trotzdem gerne wissen. »Am fünften August«, gibt Marina bereitwillig zur Auskunft. »Ich hab schon ein Geschenk für dich«, sagt Linda verträumt. Sie erinnert mich von ihrer Art her ein bisschen an Luna Lovegood. Ich speichere mir den fünften August in meinem Handykalender und stelle fest, dass der Termin noch in den Sommerferien liegt – das heißt, ich werde nicht hier sein, wenn Julius Geburtstag hat, weil ich die ganzen Sommerferien in meiner Heimat verbringe. Ich will Julius gerade diesbezüglich vorwarnen, als mein Handy anfängt zu vibrieren. Die üblichen Panikglocken in meinem Gehirn gehen los und ich werfe einen raschen Blick auf das Display. Es ist Oma. »Salut, Nana. Nan nga def?«, sage ich lächelnd. Wenn ich mit meiner Oma telefoniere, ist es immer ein komischer Mischmasch aus Wolof und Französisch. Ich antworte meistens auf Französisch, weil ich Wolof besser verstehen als sprechen kann, aber wenn ich ein paar Sätze fehlerfrei kenne, dann benutze ich sie auch. Ich weiß, dass Oma sich darüber freut. Julius beobachtet mich, als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen, während ich mit meiner Oma telefoniere, die fragt, ob ihr Brief schon angekommen ist und mir erklärt, dass ich mein Geschenk bekomme, sobald ich das nächste Mal bei ihr zu Besuch bin. Dann will sie wissen, ob mein Vater immer noch ein nutzloser Mistkerl ist. Ich versuche es irgendwie abzumildern, aber meiner Oma kann man nichts vormachen. »Hat er dir wieder einen Umschlag hingelegt?«, will sie mit strenger Stimme auf Wolof wissen. »Ja. Ich lade meine Freunde damit gleich zum Pizzaessen ein«, gebe ich auf Französisch zurück. Marina lacht Julius für seinen Gesichtsausdruck aus, was mich zum Schmunzeln bringt. Lotta erklärt leise flüsternd, dass meine Oma am Telefon ist, während Oma auf meinen Vater flucht, was mich wiederum zum Lachen bringt. »Wenn ich nicht so weit von euch weggewohnt hätte, hättest du zu mir ziehen können, weißt du«, sagt sie grummelnd am anderen Ende. »Ich weiß. Danke, Nana.« »Dann wäre alles viel besser geworden!« »Ja, wahrscheinlich. Aber ich hab einen neuen Freund gefunden«, erkläre ich. Noah grinst und übersetzt ohne Rücksicht auf meine endlose Scham für Julius, was ich gerade gesagt habe. Ich könnte schwören, dass Julius rote Ohren bekommt. »Das ist gut, mein Junge. Das beruhigt deine alte Nana.« »So alt bist du wirklich noch nicht.« »Sag das meinen Knochen! Mein Rheuma ist nicht besser geworden!« Als es klingelt, verabschiede ich mich von meiner Oma und gehe in die Küche, um den Pizzaschneider zu besorgen, während Anni die Pizza bezahlt und mit einem großen Stapel Kartons zurück in meinem Zimmer verschwindet. Ganz nach Lottas Wünschen spielen wir beim Essen ein paar Runden Black Stories – Linda und Anni sind ziemlich unschlagbar darin, die genau richtigen Fragen zu stellen, was nach sieben Runden zu einem ausgelassenen Slytherin-Doppel-Highfive führt – und während ich an meinem letzten Stück Pizza kaue, beobachte ich, wie alle Anwesenden, die noch nicht die Handynummern der jeweils anderen haben, diese austauschen, bevor Linda und Marina sich auf den Weg zu ihrer nächsten Verabredung machen. »Danke für die Pizza«, sagt Marina zum Abschied und umarmt mich noch mal. »Viel Spaß auf der Feier«, sage ich und schaue den beiden nach, als sie händchenhaltend die Treppe hinunter verschwinden. Jetzt habe ich auch endlich einen Moment Ruhe und kann mein Handy überprüfen. Tatsächlich. Da ist eine neue Gruppe bei WhatsApp und natürlich hat Anni sie »TaminoFanclub« genannt. Sie hat wirklich keinerlei Scham. »Ich kann nicht meinem eigenen Fanclub beitreten«, sage ich ihr, als ich ins Zimmer zurückkomme. Ich hoffe inständig, dass niemand Julius gesagt hat, in welchen Namen Anni unsere ehemalige GoldenQuartet-Gruppe umbenannt hat. »Klar. Du bist super und solltest dein eigener Fan sein«, sagt Anni. Ich gluckse und trete der Gruppe bei. Da ich als letzter beigetreten bin, habe ich keine Möglichkeit, die Unterhaltungen von vorher zu lesen, die die anderen miteinander hatten, während ich geschlafen habe. Vielleicht frage ich sie später danach, wenn Julius weg ist. »Psst, Tamino«, sagt Lotta und zupft an meinem Shirt. »Hm?« »Ich weiß, das Juls zum Schlafen freigeschaltet ist, aber… ist er auch fürs Singen freigeschaltet?« Vier gespannte Augenpaare richten sich auf mich und ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. »Ähm… vielleicht? Ich meine… er hat ja schon–«, stammele ich zur selben Zeit, in der Julius sagt: »Du musst nicht, wenn du nicht willst!« Anni giggelt sehr zufrieden und Noah wirft mir einen Blick zu, von dem ich lieber nicht wissen möchte, was genau er bedeutet. »Ich hab nämlich diese Liste zusammen gestellt, von der du gesprochen hast«, fährt Lotta fort und verbucht mein Gestammel und Julius‘ rücksichtsvolle Antwort offenbar als positives Feedback, denn sie kramt in ihrem Rucksack nach einem ausgesprochen zerknitterten Stück Papier. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Noah vom Bett aus nach seiner Gitarrentasche angelt. Mein Herz hämmert irgendwo in der Nähe meines Kehlkopfes und ich schlucke nervös, als ich das Stück Papier entgegen nehme und die Liste überfliege. Ich muss schmunzeln. »Wie soll ich denn das Lied aus Buffy alleine singen?«, frage ich. Lotta streckt mir die Zunge raus. »Keine Sorge. Noah hat sich schon freiwillig als Giles gemeldet und ich kann Tara machen«, sagt sie. »Ich singe nicht«, verkündet Anni, als wüssten wir nicht ganz genau, dass sie in etwa klingt wie eine Kreissäge, die seit fünf Jahren nicht mehr geölt worden ist. »Kennst du Buffy?«, will Lotta von Julius wissen. »Mari und Linda haben mich mal zu ein paar Folgen… eingeladen«, sagt er. Ich bin ziemlich sicher, dass er eigentlich »gezwungen« hat sagen wollen und schnaube. »Kennst du die Musicalfolge?« »Die musste ich mindestens viermal anschauen.« »Cool. Dann kannst du ja Spike singen«, sagt Lotta zufrieden und fängt schon wieder an in ihrem Rucksack zu kramen. Ich sehe eindeutige Panik in Julius‘ Augen und schwanke zwischen Schadenfreude und Mitleid. »Warum darf Anni aussetzen und ich nicht?«, fragt Julius empört. »Ich kann nicht singen!« »Ich auch nicht«, sagt Lotta und hält mir einen zusammen getackerten Stapel Papier entgegen. Ich erkenne schnell, dass sie sehr motiviert alle entsprechenden Songtexte ausgedruckt hat. Noah bekommt ebenfalls einen Stapel – mit großer Wahrscheinlichkeit die Noten, die er zum Gitarre spielen braucht. Während Anni und Julius sich darüber kabbeln, warum Anni schweigen darf und Julius nicht, prüfe ich noch einmal die Liste. 1. Sia – Elastic Heart 2. Destiniy’s Child – Survivor 3. Halestorm – Here’s to Us 4. Kesha – Praying 5. Delta Rae – Outlaws 6. Buffy OST – Walk through the Fire 7. Young the Giant – Cough Syrup 8. fun. – Carry On 9. Andreas Bourani – Delirium 10. Tanz der Vampire – Nie geseh’n Es wäre nicht Lotta, wenn nicht mindestens ein Lied aus Tanz der Vampire auf der Liste gestanden hätte und ich bin amüsiert darüber, dass sie es ganz unten notiert hat, als wäre es ihr ganz zum Schluss eingefallen. »Singst du das Duett mit mir?«, frage ich Lotta lächelnd. Sie strahlt mich an und nickt. »Wir können gleich mit Buffy anfangen, damit Julius es hinter sich bringen kann«, meint Noah. Er sieht auch ziemlich schadenfroh aus. Während ich die Texte durchgehe und mich zu meinen Freunden aufs Bett quetsche, verteilen die anderen weitere Rollen aus dem Lied und Anni erbarmt sich für Anya und Willow, die beide nur jeweils eine oder zwei Zeilen singen. Zu fünft passen wir gerade so auf mein Bett, wenn wir uns alle mit dem Rücken zur Wand setzen. Da Noah seine Gitarre auf dem Schoß hat, haben er und Anni keine Möglichkeit Platz zu sparen, indem sie sich stapeln. Anni sitzt neben Noah, Lotta neben Anni, Julius neben Lotta und ich am Ende des Bettes neben Julius. Ich würde mich vor ihm ja gerne verstecken, aber wenn er sich schon hat breit schlagen lassen, den Abend mit mir und meinen Freunden zu verbringen und mit uns zu singen, dann kann ich mich auch ein bisschen zusammen reißen. Lotta verteilt noch mehr Texte. Sie ist wie immer bestens ausgestattet und ich beobachte Julius‘ Gesicht, als sie ihm seinen Zettel in die Hand drückt. »Alles ok?«, frage ich leise. Er dreht den Kopf zu mir und sieht mich mit ziemlich großen, grünen Augen an. »Das ist fast schlimmer als die Französischklausur«, sagt er, aber er muss wohl bemerken, wie mein Gesichtsausdruck sehr besorgt wird, denn er winkt hastig ab. »Das war übertrieben! Alles ok!« Kurze Stille. Dann… »Danke, dass ich noch mal zuhören darf«, murmelt er. Lotta hat ihn offensichtlich gehört, denn sie strahlt übers ganze Gesicht, sodass man beinahe Angst hat, dass ihre Wangen einen Krampf bekommen. Ich fühle mich sehr warm und viel weniger aufgeregt als vorher. Julius sitzt sehr dicht bei mir – unsere Seiten sind direkt aneinander gepresst, weil auf dem Bett nicht mehr Platz ist. Noah stimmt seine Gitarre und Lotta summt leise vor sich hin. Ich denke darüber nach, Julius‘ Hand zu halten, weil sie direkt auf seinem Oberschenkel liegt und mich anlacht – aber ich darf nicht vergessen, dass Julius immer noch ein normaler Kerl ist und nicht mit seinen Freunden Händchen hält. »Kann losgehen«, sagt Noah schließlich und man hört für einen Augenblick nur Papierrascheln, ehe er die ersten Töne anstimmt. Ich hole Luft und fange an, Buffys Part zu singen. Am Anfang ist es schwierig, ganz loszulassen, weil ich es noch nicht gewöhnt bin, vor Julius zu singen und ich merke, wie er mich von der Seite beobachtet. Aber als der erste Refrain kommt, schließe ich einfach die Augen und versuche mich zu beruhigen. Julius singt seine Zeilen sehr leise und wie er angekündigt hat, kann er keinen einzigen Ton halten, aber ich freue mich trotzdem wie ein Schneekönig – vor allem, weil Anni definitiv noch viel schlechter singt als Julius. Mein Herz schwillt auf die doppelte Größe an, als am Ende der Teil kommt, an dem alle gemeinsam singen und ich hoffe, dass die anderen vielleicht auch bei einigen der anderen Lieder mit einsteigen. Julius bindet neben mir seinen Zopf neu und lehnt dann seinen Kopf an die Wand, während Noah die ersten Töne für Elastic Heart anstimmt. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Lotta einige der Lieder speziell für mich ausgesucht hat, da manche von den Texten sich sehr persönlich anfühlen. Aber mit Sia bin ich noch auf der sicheren Seite. Mitten beim zweiten Refrain verknote ich mir fast die Zunge, weil Julius kurzerhand nach meiner Hand gegriffen hat. Ich starre hinunter auf meinen Oberschenkel, wo jetzt unsere beiden Hände verhakt miteinander liegen. Julius ist knallrot im Gesicht und er hat Gänsehaut auf den Armen und die Augen immer noch geschlossen. Ich sehe, wie Lotta die Hand auf ihren Mund presst, um ein Geräusch zu unterdrücken und ich höre meine eigene Stimme ein wenig zittern. Das ist definitiv der beste Tag in meinem Leben seit vielen, vielen Monaten und Julius lässt meine Hand auch während der nächsten acht Lieder nicht los. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)