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Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

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to boldly go

Dinge, an die man sich auch nach mehreren Jahren mit einer Angststörung nicht gewöhnen kann:
 

1. Dieses Alarmglockengefühl im Kopf, sobald man aufwacht.

a) aus mehr oder weniger gutem Grund

b) einfach so
 

Mit genau diesem Gefühl wache ich am Samstagmorgen auf. Es passiert recht häufig, meistens allerdings ohne Grund. Heute jedoch weiß ich zwei Sekunden nach Öffnen meiner Augen, woher die Alarmglocken kommen. Ich habe miserabel geschlafen und mir die ganze Nacht lang Gedanken darüber gemacht, was ich am Samstagnachmittag tun soll.
 

1. Ich könnte einfach nicht hingehen. Ausgeschlossen, weil Frau Timmermann und Frau Lüske mir dann auf den Pelz rücken und ich damit nicht umgehen kann.

2. Ich könnte so tun, als wäre ich krank und das Unheil nach hinten verschieben. Dafür müsste ich allerdings bei den Timmermanns anrufen. Ausgeschlossen.

3. Ich gehe dahin und ziehe es durch. Und wenn Julius dann in der nächsten Deutschklausur vier Punkte schreibt, dann wird er nicht zum Abi zugelassen und ich bin ihn zumindest los. Zumindest teilweise ausgeschlossen, weil ich es nicht ertragen könnte, mich mit Frau Lüske und Frau Timmermann auseinander zu setzen, wenn Julius nicht zum Abi zugelassen wird.

4. Ich gehe hin und ziehe es durch und zwinge Julius dazu, bessere Noten zu schreiben.
 

Ich glaube nicht wirklich, dass Möglichkeit vier so einfach durchzuführen ist, aber es ist leider die einzige Variante, die übrig bleibt. Alles andere kann ich auf keinen Fall bewältigen, also muss ich das kleinste Übel wählen. Und dieses kleinste Übel verursacht laut dröhnende Alarmglocken in meinem Kopf. Es ist ein bisschen so, als würde andauernd jemand Horrorfilmmusik im Hintergrund abspielen, selbst wenn man nur Zähneputzen geht oder ein Toast mit Marmelade isst.
 

Gegen ein Uhr ist mir so schlecht, dass ich es nicht mal schaffe, irgendwas zum Mittag zu essen. Also beschäftige ich mich damit, meine Schulsachen in meinen Rucksack zu stopfen, die ich für die Nachhilfe brauche. Ich packe auch eine Thermoskanne mit Pfefferminztee ein, weil ich dann nicht fragen muss, ob ich irgendwas trinken kann. In den Spiegel schaue ich lieber nicht, weil ich mir dann auch noch Gedanken über meine riesigen Augenringe machen müsste und trotte einfach um halb drei los, ohne meinem Vater Bescheid zu sagen, wohin ich gehe. Es interessiert ihn ja auch ohnehin nicht.
 

Um mich zu beruhigen spiele ich auf dem Weg zu der Adresse, die Julius mir genannt hat, Pokemon Go. Ich brüte immerhin zwei Eier aus und fange zwei Evolis, was mir einen neuen Pokedex-Eintrag beschert, da ich mir jetzt ein Nachtara weiterentwickeln kann. Allerdings beruhigen meine vibrierenden Nerven sich nur ein winziges bisschen und als ich vor dem Wohnblock stehe, in dem Julius wohnt, sind meine Hände schon wieder wahnsinnig schwitzig und mein Herz macht einem Mäuseherz Konkurrenz. Timmermann steht auf einem der Klingelschilder die mir sagen, dass die Wohnung sich um zweiten Stock befindet und ich habe kaum Augen für das ziemlich hässliche Zitronengelb des Gebäudes, bevor ich einen zittrigen Finger dazu zwinge, auf die Klingel zu drücken. Die einzige, winzige Erleichterung ist, dass es keine Freisprechanlage gibt. Wenn ich jetzt auch noch einer Freisprechanlage hätte antworte müssen, wäre ich entweder weggerannt oder ohnmächtig geworden.
 

Der Türöffner summt und ich trete in ein langweilig grau gefliestes Treppenhaus mit drei Wohnungsparteien in jedem Stockwerk. Es kommt mir vor, als wären meine Beine aus Beton, als ich die Treppe in den zweiten Stock hinauf steige. So lange hab ich noch nie gebraucht, um bis in einen zweiten Stock zu gelangen.
 

Die linke der drei Türen ist geöffnet und eine Frau mittleren Alters mit blonden, hochgesteckten Haaren und einer grellroten Bluse steht dort und sieht mir lächelnd entgegen. Meine Gedanken rasen, weil ich nicht weiß, wie ich sie begrüßen soll. Wenn ich ihr die Hand gebe, dann merkt sie, wie schwitzig meine Handinnenflächen sind. Ich schlucke und versuche ein Lächeln. Scheiße.
 

»Halle, Tamino«, sagt sie und tritt zur Seite, damit ich eintreten kann. Es ist ein recht großer Flur mit Holzfußboden und jeder Menge Schuhe in allen möglichen Größen und Farben. Ich kann nur vermuten, dass all die Sportschuhe Julius gehören. Ich kralle meine Hände einfach in die Träger meines Rucksacks und hoffe, dass ich auf diese Weise um einen Handschlag herumkomme.
 

»Wie schön, dass du da bist. Möchtest du irgendwas trinken? Julius ist gerade unter der Dusche, aber er sollte gleich fertig sein.«
 

Toll, er ist duschen. Fehlt nur noch, dass er wie der australische Surfer, der in ihm steckt, nur mit Handtuch bekleidet zurück in sein Zimmer kommt und alles volltropft wie in einem schlechten Porno.
 

Ich ziehe etwas unbeholfen die Schultern hoch und schaue mich um.
 

»Soll ich meine Schuhe einfach hierzu stellen?«, frage ich schließlich und sie nickt. Ich merke, wie sie mich mustert und es macht mich nervös. Also nehme ich meinen Rucksack ab und schlüpfe aus meinen Schuhen, stelle sie sorgfältig in eine Lücke auf einem Schuhregal und greife dann wieder nach meinen Sachen. Dann fällt mir auf, dass ich ihre Frage noch nicht beantwortet habe und fahre mir peinlich berührt durch die Haare.
 

»Wasser… vielleicht?«, sage ich.
 

Ich hasse es, wie leise meine Stimme klingt, wenn ich nervös bin. Was zu neunzig Prozent der Zeit der Fall ist.
 

»Julius‘ Zimmer ist gleich hier vorne. Setz dich doch schon mal, ich besorge dir ein Glas Wasser«, sagt Frau Timmermann und rauscht mit ihrer augenkrebserregenden Bluse in Richtung Küche davon. Ich komme mir komisch vor, in Julius‘ Zimmer zu kommen, wenn er da nicht drin ist. Dann wiederum wäre es auch nicht besser, wenn er da wäre, also öffne ich die Tür und trete ein. Es ist genauso wie ich es mir vorgestellt habe.
 

Das Zimmer ist recht groß und es ist voll mit Fußballpostern und jeder Menge Trophäen in Form von Pokalen, Medaillen und Urkunden. Wow. Das Bett ist ungemacht und auf dem Schreibtisch stapeln sich jede Menge Sportzeitschriften. Kein Platz, um dort zu arbeiten. Es gibt einen niedrigen Tisch vor einem schwarzen Sessel, auf dem ein paar Schulsachen liegen. Julius hat keine Gardinen, nur etwa zehn Bücher und dafür ein recht großes Regal mit DVDs darin. Ich werfe einen kurzen Blick darauf. Dann setze ich mich in den schwarzen Sessel, nehme meinen Rucksack auf den Schoß und starre die Trophäen an, während ich darauf warte, dass Julius aus der Dusche oder seine Mutter aus der Küche zurückkommt.
 

Julius‘ Mutter kommt mit einem blauen Glas voller Sprudelwasser zurück, stellt es vor mir auf dem Tisch ab und schenkt mir ein Lächeln, bevor sie wieder geht. Vielleicht hat sie gemerkt, wie unwohl ich mich fühle. Vielleicht hat sie auch einfach was Besseres zu tun, als sich mit mir zu unterhalten.
 

Ich kaue nervös an meinen Fingernägeln herum und nehme zwischendurch einen großen Schluck Wasser. Julius duscht ganz schön lange. Als die Tür aufgeht, wappne ich mich für den Surferauftritt, aber stattdessen lugt ein fremder, blonder Haarschopf durch die Tür und beginnt den Satz »Juls, kann ich mir deine– Oh. Du bist nicht Juls.«.
 

Ich stelle hastig den Rucksack beiseite und schmeiße dabei um ein Haar das Glas vom Tisch. Wow, Tamino. Einfach toll. Unweigerlich habe ich das Bedürfnis, mich aus dem Fenster zu stürzen.
 

»Nein. Ich bin Tamino«, sage ich heiser.
 

Sie muss Julius‘ Schwester sein. Die beiden sehen quasi gleich aus, mit Ausnahme der Frisur und der Menge an Sommersprossen. Sie hat das ganze Gesicht voll damit und ihre Haare sind sogar noch kürzer als meine. Aber sie hat dieselben grünen Augen, dasselbe schiefe Grinsen und sie ist sogar genauso groß wie Julius. Also sprich: gute zehn Zentimeter kleiner als ich.
 

»Oooh«, sagt sie langgezogen. »Der Nachhilfelehrer!«
 

Ich nicke peinlich berührt. Sie grinst breit und holt gerade Luft, um etwas zu sagen, als ihr Blick auf mein Shirt fällt, auf dem »Vulcan Science Academy« steht. Ihre Augen werden rund wie Untertassen.
 

»Oh mein Gott. Was für ein gutes Shirt!«
 

Ich bin kurz davor eine Panikattacke zu kriegen, weil plötzlich ein fremder Mensch mit mir über mein Shirt reden will, aber dann wiederum rede ich lieber über Star Trek, als mit Julius über Felix Krull, also räuspere ich mich und schaffe so etwas wie ein halbes Lächeln.
 

»Danke.«
 

Meine Stimme ist schon wieder so leise. Ugh.
 

»Bester Captain?«, fragt sie. Ich fühle mich wie in einem Quiz.
 

»Unentschieden zwischen Sisko und Janeway«, sage ich. Sie nickt zufrieden.
 

»Damit kann ich leben. Kirk und Spock?«
 

»Quasi verheiratet.«
 

»Reboots?«
 

»Nur, um Zoe Saldana und John Cho anzuschauen.«
 

Sie seufzt zufrieden, als hätte sie gerade in einen besonders perfekten Cookie gebissen. Dann scheint etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, denn sie dreht sich um.
 

»Du hast mir nicht gesagt, dass dein neuer Nachhilfelehrer Star Trek Fan ist«, sagt sie anschuldigend nach hinten gewandt. Mein Herz fängt sofort wieder an zu hämmern. Julius‘ Haare sind noch nass und er hat sie in einem unordentlichen Knödel zusammen gebunden. Gott sei Dank ist er angezogen. Jetzt sieht er etwas verwirrt aus, bis er mich entdeckt und dann mit den Schultern zuckt.
 

»Ich wusste nicht, dass er Star Trek Fan ist«, meint er und schiebt sich an seiner Schwester vorbei ins Zimmer. Ich nehme noch einen großen Schluck Wasser.
 

»Vielleicht kannst du meinen Bruder bekehren. Er findet, dass man nicht gleichzeitig Star Wars und Star Trek mögen kann«, sagt Julius‘ Schwester. Ich weiß ihren Namen überhaupt nicht.
 

»Ich mag beides«, sage ich unsicher. Julius verdreht die Augen. Seine Schwester sieht sehr zufrieden aus.
 

»Lieblingscharakter?«
 

»Finn.«
 

»Gekauft! Viel Spaß euch beiden!«
 

Mit diesen Worten verschwindet sie und ich wünschte, ich könnte stattdessen ihr Nachhilfe geben. Julius sieht mich mit einem merkwürdigen Blick an.
 

»Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist. Pauken oder zu Star Trek bekehrt werden«, meint er dann und wirft sich auf sein ungemachtes Bett. Ich starre ihn recht ausdruckslos an und frage mich, ob er wirklich glaubt, dass mir das hier mehr Spaß macht als ihm.
 

»Ich hab nicht vor, dich zu bekehren«, murmele ich und greife dann nach meinem Rucksack, um meinen Kram auszupacken. Julius beobachtet mich kurz dabei, dann steht er wieder auf und räumt mit einem großen Wisch alle Sachen vom Tisch, ehe er sich auf dem Fußboden niederlässt und das Kinn in die Hände stützt.
 

»Womit fangen wir an?«, will er wissen.
 

»Deutsch. Die Klausur ist als nächstes dran.«
 

Er seufzt theatralisch.
 

»Das Buch ist so langweilig«, klagt er.
 

»Hast du es durchgelesen?«, erkundige ich mich misstrauisch. Ich könnte schwören, dass er ein bisschen schuldbewusst dreinblickt. Ich stöhne und fahre mir mit der Hand durchs Haar.
 

»Wie soll ich dir Nachhilfe geben, wenn du nicht mal das blöde Buch gelesen hast?«
 

Julius hebt abwehrend die Hände.
 

»Alter, ich hatte darauf genauso wenig Bock wie du und meine Mutter hat mich praktisch überfallen. Wie hätte ich das Scheißteil bis heute lesen sollen? Ich hab noch ein Leben außerhalb der Schule, man«, erklärt er bockig und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich massiere mir die Schläfen.
 

»Dann fangen wir eben mit was anderem an und du liest das Buch dieses Wochenende.«
 

Er starrt mich an.
 

»So schnell kann kein Mensch lesen.«
 

Ich hebe eine Augenbraue.
 

»Schön, ja, du kannst vielleicht so schnell lesen! Ich aber nicht!«
 

»Willst du dein Abi bestehen, oder nicht? Dann lern eben schneller zu lesen«, sage ich ungehalten und stopfe das Buch wieder in meinen Rucksack. Julius schweigt und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass er auf seiner Unterlippe herum kaut.
 

»In welchem Fach hast du sonst noch Probleme?«, frage ich also.
 

»In allen? Es läuft nicht besonders gut…«
 

»In welchem Fach läuft es am wenigsten?«
 

»Vielleicht Französisch?«
 

Ich meine… ja. Julius ist miserabel in Französisch. Dann wiederum hab ich keine Ahnung, wie ich ihn innerhalb von zwei Monaten auf ein passables Level bringen soll. Und das in mehreren Fächern. Ich will schließlich auch noch irgendwann Freizeit haben.
 

»Mon dieu…«, murmele ich. Er grummelt leise.
 

»Woher kannst du überhaupt so gut Französisch?«, will er wissen und klingt wie ein kleines, trotziges Kind. Seine Arme sind immer noch verschränkt.
 

»Ma grand-mère vient du Sénégal. Elle parle le français couramment«, gebe ich zurück. Julius starrt mich an. Seine Augen sind wirklich sehr grün. Ich lege den Kopf schief und versuche zurückzuschauen. Augenkontakt ist normalerweise ziemlich schwierig für mich, aber ich zwinge mich dazu, nicht wegzuschauen. Schließlich bricht er als erstes den Kontakt und grummelt erneut.
 

»Also... deine Oma kommt... woher ?«
 

»Quoi?«
 

»Oh mein Gott. Nein. Auf keinen Fall!«
 

»Je suis désolé, je ne comprends pas l’allemand.«
 

»Ich spreche auf keinen Fall Französisch mit dir! Ich bin total schlecht! Weißt du, wie peinlich das ist?«
 

Ich seufze.
 

»Schön. Meine Oma ist Senegalesin und ich bin zweisprachig aufgewachsen.«
 

Er sieht fast ein bisschen erleichtert aus, dass ich aufgehört habe, Französisch zu sprechen.
 

»Vielleicht können wir einfach die Französischhausaufgaben zusammen machen«, sagt er und zieht die Schultern hoch.
 

»Von mir aus. Ich hab mein Buch aber nicht dabei. Wir brauchen deins.«
 

Er steht auf und fängt an in einem Stapel auf seinem Schreibtisch zu kramen.
 

»Wie heißt deine Schwester?«, will ich wissen. Er wirft mir einen amüsierten Blick über die Schulter zu.
 

»Sie ist vergeben«, meint er. Ich verdrehe die Augen.
 

»Das hab ich nicht gefragt!«
 

Ich steh ohnehin nicht auf Frauen. Aber das muss er ja nicht wissen.
 

»Marina«, gibt er zurück und zieht sein Französischbuch von ganz unten im Stapel hervor. Wenn es da immer liegt, ist es kein Wunder, dass er so schlecht in Französisch ist. Dann schlurft er zurück zu seinem Platz, lässt sich auf den Boden plumpsen und schiebt das Buch zu mir rüber. Ich sehe ihn fragend an.
 

»Ich weiß nicht, was wir aufhaben«, sagt er. Wenn ich kein Brillenträger wäre, würde ich mir jetzt die Hand auf die Augen legen.
 

»Ok, so geht das nicht«, sage ich.
 

»Was?«
 

»Das! Alles! Wie soll ich jemandem Nachhilfe geben, der überhaupt keinen Bock hat, was zu lernen?«
 

»Alter, ich hab mir das mit der Nachhilfe nicht ausgedacht!«
 

»Dann vergiss dein Abi halt«, sage ich bissig und zurre schlechtgelaunt meinen Rucksack zu. Julius scheint hin und hergerissen zwischen den Polen »Unlust« und »Ich muss mein Abi packen«. Ich habe keine Zeit, um mir Gedanken darüber zu machen, welcher Pol gewinnt. Was für eine Zeitverschwendung.
 

»Warte«, meint er verbissen, als ich aufstehe, um zu gehen. Ich sehe ihn fragend an.
 

»Sorry«, nuschelt er. Er hat schon wieder die Schultern hochgezogen und ich wüsste wirklich gerne, was in seinem Kopf vor sich geht. Wie genau will er sein Abi retten, wenn er nicht nur keinen Bock zum Lernen hat, sondern auch konsequent keine Hausaufgaben erledigt und sich mündlich nur insofern beteiligt, als dass er dumme Kommentare in den Unterricht quatscht, nach denen keiner gefragt hat.
 

»Also, was soll ich machen?«, fragt er. Der entnervte Teil meines Gehirns will einfach nur sagen »Dich nicht so anstellen« und dann das Zimmer verlassen. Ein anderer Teil meines Gehirns zwingt mich dazu, das nicht zu sagen. Wahrscheinlich ist es die 80%-Hälfte mit der Angststörung, die Leuten nur schwer die Meinung sagen kann.
 

»Hausaufgaben aufschreiben und erledigen. Mündliche Beteiligung. Du hättest deine miserablen schriftlichen Noten alle retten können, wenn du im Unterricht mitgemacht hättest. Frag Herrn Frank, ob du ein Referat halten kannst. Er ist froh, wenn er sich für 40 Minuten nicht um irgendwas bemühen muss. Frag Herrn Rosenheim, ob du ihm deine Hausaufgaben zur Korrektur abgeben kannst. Frau Krüger bietet regelmäßig an, Mappen für Extrapunkte einzusammeln. Es ist echt keine hohe Kunst.«
 

Julius sieht mich an, als hätte ich vollständig den Verstand verloren. Ich meine, ich tue all diese Dinge nicht. Aber ich brauche das auch alles nicht. Ich bin mündlich und schriftlich gleichermaßen gut, deswegen brauche ich keine Extrapunkte sammeln. Aber wenn man wirklich Schwierigkeiten hat, gibt es genug Möglichkeiten sich zumindest mit einiger Anstrengung auf eine Drei zu katapultieren. Man muss es natürlich wollen.
 

Julius verschränkt die Arme auf dem Tisch und lässt seinen Kopf darauf fallen. Ich beobachte ihn, wie er eine gute Minute so liegen bleibt, ehe er den Kopf wieder hebt und sich dann ein recht knittrig aussehendes Blatt Papier heranzieht.
 

»Noch mal langsam von vorne«, sagt er resigniert. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen und denke für einen Moment, dass er mich veralbern will. Aber er fängt tatsächlich an die Worte »Hausaufgaben notieren« aufzuschreiben. Also zähle ich alles noch mal von vorne auf. Und dann noch ein paar mehr generelle Sachen, die man eigentlich wissen sollte. Stör nicht den Unterricht. Lies so oft wie möglich Hausaufgaben vor, damit das Lehrpersonal sieht, dass du sie gemacht hast. Wenn dir selber kein guter Beitrag einfällt, wiederhole noch mal etwas, was andere vor dir gesagt haben in anderen Worten.
 

»Jeden Tag mindestens eine halbe Stunde Französischvokabeln lernen«, sage ich. Julius gibt ein Geräusch von sich wie ein verletztes Nashorn.
 

»Jeden Tag?«
 

Ich hoffe, dass mein Blick so stählern ist, wie ich es beabsichtige. Es klopft an der Tür.
 

»Ja«, sagt Julius. Er klingt wie das Leiden Christi. Seine Mutter kommt mit einem Teller voller Kekse ins Zimmer und lächelt mich strahlend an. Ich versuche zurückzulächeln. Als sie bei dem niedrigen Tisch ankommt, wirft sie einen Blick auf Julius‘ Notizen.
 

»Ich kann es nicht glauben, dass du dir extra notieren musst, deine Hausaufgaben zu erledigen«, sagt sie schnippisch. Julius wird eindeutig rot. Ich versuche so interessiert wie möglich meine Fingernägel zu begutachten.
 

»Nimm dir einen Keks, Tamino«, sagt sie zu mir, stellt den Teller ab, wirft ihrem Sohn einen strengen Blick zu und verlässt das Zimmer. Ich nehme mir einen Keks.
 

»Wenn wir die Französischhausaufgaben jetzt zusammen machen, kannst du sie gleich morgen vortragen«, erkläre ich. Julius seufzt und greift nach dem Französischbuch.
 

»Page 147, exercice 5«, sage ich. Ich sehe, wie es in seinem Kopf rattert, während er versucht die Zahl in seinem Kopf zu übersetzen.
 

Wir haben einen sehr langen und steinigen Weg vor uns.



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Kommentare zu diesem Kapitel (8)

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Von: abgemeldet
2018-05-29T18:57:23+00:00 29.05.2018 20:57
Oha, Julius ist ja wirklich ein hoffnungsloser Fall... Und da ist es nicht gerade hilfreich, dass Tamino derartige Angstzustände vor alles und jeden hat. Das kann ja was geben.
Ich musste so dermaßen über die Szene mit Pokémon Go lachen :D da erkenne ich mich 100% selbst drin wieder. Aber auch Marinas Auftritt war genial, was für Nerds! Oder der Vergleich mit dem schlechten Porno...
Sehr schön, weiter so~
Von:  Serato
2017-10-15T09:54:32+00:00 15.10.2017 11:54
oh ja ich kann julius verstehen X'D schule? lernen? baaaah!

Der arme Tamino wirds nicht leicht haben
Von:  Riccaa
2017-10-07T21:37:39+00:00 07.10.2017 23:37
Hey,
ich habe echt ein riesiges Grinsen im Geschicht seit Tamino so locker flockig angefangen hat Französisch zu reden. Zu herrlich, wirklich.
Marina ist jetzt schon einer meiner Lieblingscharaktere :) Alleine schon deswegen, dass sie so unbeschwert mit Tamino reden kann, da das für ihn ja schwierig ist und nicht wirklich Leute hat mit denen er dort reden kann.
In dem einen oder anderem Punkt kann ich Julius sehr verstehen, zum Beispiel, dass ich auch nie meine Sachen im Block abhefte und die da teilweise das ganze Jahr über drinne liegen und total zerknittern :D

Ich muss gestehen, dass ich deine Geschichte jetzt schon zwei oder drei mal gelesen habe und erst jetzt komentiere. Aber ich finde echt so toll, dass ich sie locker noch drei mal lesen könnte und musste jetzt einfach meinen Senf dazugeben ;) Nicht wundern wenn ich jetzt noch öfters mal auftauche. ^^
Antwort von:  Ur
07.10.2017 23:55
Mein Block sieht auch genauso aus wie der von Julius :D Und bisher hats mir auch nicht geschadet :'D Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn du bisher nicht kommentiert hast, ich freu mich jedenfalls, dass du es jetzt noch nachholst! Ich werd mich über jeden Kommentar sehr freuen ^-^
Von:  Concilio
2017-06-18T09:16:01+00:00 18.06.2017 11:16
Hey,

Mir gefällt die Story sehr gut. Die Charaktere sind Sympathisch und dein Schreibstil ist flüssig. Tamino ist weder der typische Nerd (finde ich) noch ist Julius der typische beliebte Obermacker. Beide sind sehr schön Charakterisiert. Ich freue mich schon auf weitere Kapitel!

LG
concilio

PS: Star Trek ist das beste!!!
Antwort von:  Ur
19.06.2017 07:11
Vielen Dank für den lieben Kommentar :) Ich freu mich, dass die beiden dir so gut gefallen ^-^
Von:  Aschra
2017-06-16T19:00:01+00:00 16.06.2017 21:00
Huhu,
Ich mag das Kapitel, langsam wird mir Julius doch etwas sympatisch. Ich hab grinsen müssen, als er seinen Kopf auf dem Tisch legt, irgendwie erinnert mich das an mich.
Ich hab Tamino ganz doll lieb.
So schön

LG
Antwort von:  Ur
17.06.2017 08:41
Das freut mich zu hören. Julius ist schon auch irgendwie eine arme Sau :'D Ich hab Tamino auch lieb! Danke fürs Feedback <3
Von:  MiuAyumi
2017-06-15T14:21:21+00:00 15.06.2017 16:21
Oh maaaan ... ich freue mich ja übelst das du wieder was neues hochlädst ne... aber arrrrg gleichzeitig ist es wieder diese Schreckliche zeit des wartens xD (aber gute Dinge braucht weile... omg ist das richtig? hat der türke wieder falsch gesprichwortet?! Orz)
ok ich darf als Künstler nicht meckern...
aber ich hab mich übelst gefreut das so schnell ein neues kapitel kam! Und ich liebe es. Das Julius tatsächlich von der Größe her kleiner ist... ich hab's nicht kommen sehen xD aber er IST klein und süß! (Also Charakterlich... finde Ich
.. denke ich?) Ich bin gespannt wie sich das entwickelt. Und ich mag es wie tamino mit ihm redet! XD und julius Schwester scheint sonne pur zu sein <3 Hach... entschuldige mein wirres gelaber xD

Danke für dieses kapitel! <3
Antwort von:  Ur
15.06.2017 16:29
Ich verstehe, was du meinst :'D Ich lese eigentlich gar keine WIPs mehr, weil ich immer Angst habe, dass Leute nicht weiterschreiben :X Umso erleichterter bin ich, dass du trotzdem vorbeischaust! (Und es heißt gut Ding will Weile haben, aber man hat es auch so hervorragend verstanden :D)

Jup, Julius ist kleiner. Also, er ist auch nicht klein, aber Tamino ist ne ziemliche Bohnenstange. Danke für den lieben Kommentar <3 Ich versuche mich zu beeilen!
Antwort von:  MiuAyumi
15.06.2017 22:54
Tja sprichwörter kann ich... (beste war bisher "kehr in deinem eigenen garten!" Buhuhuhuuuu orz) ...

Bisher hast du ja alles fertig gemacht! QvQ ich hoffe ja, dass ich irgendwann deine Geschichten in meine regale stellen kann! <3 ich will die alle nochmal lesen. * v *

Kein stress!! >v<
Von:  Yamasha
2017-06-15T09:56:28+00:00 15.06.2017 11:56
Tamino scheint auch aus sich raus kommen zu können. Ich hätte nicht gedacht, dass er solche klaren Ansagen machen kann mit seiner Angststörung. Gefällt mir aber. Auch wenn er immer noch nicht Nein sagen kann. Aber das kann ich auch nicht. Und ich habe keine Angststörung. Ich verstehe ihn also.
Und Julius... Na ja, er wird mir tatsächlich sympathisch. Anscheinend möchte er durchaus sein Abi, ohne etwas dafür zu tun. Na ja, kann ich verstehen. Lernen war soo langweilig!
Aber ich mag seine Schwester. Ich denke, sobald Tamino sich in dem Haushalt ein bisschen wohler fühlt, können die beiden gute Freunde werden.

Wobei ich zugeben muss, dass ich 147 momentan auch nicht auf Französisch weiß...^^'
Antwort von:  Ur
15.06.2017 14:26
Na klar geht das ;) Ich muss es wissen, ich hab eine Angststörung :'D Und ich wohne mit jmd, der auch eine hat. Und habe Freundinnen, die eine haben. Es äußert sich bei jedem unterschiedlich (wie die meisten Dinge ^^). Und das macht nichts, dass du das nicht auf Französisch weißt, ich bin auch bei weitem nicht fließend, aber für so ein paar Tamino-Fetzen reicht es Gott sei Dank noch *Stirn abwisch* Danke für deinen lieben Kommentar! Ich freu mich sehr, dass es dir bisher gefällt ^-^ (Das bleibt hoffentlich so :D)


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