Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 1: Die Kunst des Neinsagens ----------------------------------- Dinge, die generell und unter allen Umständen schlichtweg beschissen sind: 1. Wenn der eigene Vater sich so dermaßen einen Dreck um das Wohlergehen seines Sohnes kümmert, dass er kurz vorm Abi beschließt, einen neuen Job anzunehmen und seinen Sohn mit in einer fremde Stadt zu schleifen – weg von seinem Freundeskreis und einer gewohnten Umgebung, in der man effektiv fürs Abi pauken kann. 2. Wenn die neue Schule, auf die man kommt, scheiße ist und man einfach keinen Anschluss findet weil man a) super schüchtern ist b) eine Angststörung hat c) das ist, was Leute allgemeinhin als ‚Nerd‘ und als ‚Streber‘ bezeichnen 3. Wenn die Schule, auf die man geht, einen riesigen Hype um die Schul-Fußballmannschaft macht und der Kapitän dieser besagten Mannschaft zwar gut Fußball spielt, aber ansonsten scheinbar die Lerndisziplin eines kalten Herings hat und deswegen droht, nicht zum Abi zugelassen zu werden. a) Und wenn wegen dieser Umstände Lehrer und die Eltern des Typen beschließen, dass der Junge dringend Nachhilfe braucht, weil er sonst eventuell seine Möglichkeit auf ein Sportstipendium verliert. b) Und wenn eines Tages das Telefon klingelt und dein egoistischer Vater dir den Hörer in die Hand drückt, obwohl er weiß, dass sein Sohn eine Angststörung hat. »Hallo?«, sage ich und hoffe, dass meine Stimme nicht allzu sehr zittert. Meine Hände jedenfalls sind sehr schwitzig und ich habe einen unangenehmen Kloß im Hals. Toll. So kriege ich meine Hausaufgaben bestimmt noch fertig. Hinterher brauche ich vermutlich erstmal ein dreistündiges Nickerchen, um mich zu beruhigen. Wieso ist mein Vater ein ignoranter Dreckskerl? »Tamino Wilke?«, ertönt eine Frauenstimme am anderen Ende. Ich räuspere mich. »Ja?« »Hallo! Mein Name ist Kerstin Timmermann, ich bin die Mutter von Julius.« Es dauert peinlich lange, bis ich in meinem Oberstübchen nach dem Namen Julius Timmermann gegraben habe, bis mir klar wird, dass es die Mutter von besagtem Fußballkapitän ist. Der mit der Disziplin eines kalten Herings. Ich räuspere mich, um den Kloß im Hals loszuwerden und scheitere kläglich. »Was kann ich für Sie tun?«, frage ich unsicher und stehe von meinem Bett auf. Rastlos tigere ich durchs Zimmer und zupfe mit meiner freien Hand an meiner Unterlippe herum. Meine schwarzen Locken hängen mir ins Gesicht und ich versuche sie aus dem Weg zu pusten. Natürlich klappt es wie immer nicht. »Wahrscheinlich hast du schon davon gehört, aber Julius hat im Moment ziemliche Probleme in der Schule…« Ich verkneife mir ein Schnauben. Das ‚wahrscheinlich‘ am Anfang des Satzes impliziert, dass ich natürlich weiß, was mit Julius los ist, weil er ja so berühmt an unserer Schule ist. Haha. »Ähm…«, sage ich geistreich. Ich weiß nicht, was ich sonst dazu sagen soll. Sie klingt ja eigentlich ganz nett, aber ehrlich gesagt auch so, als würde sie ihrem Sohn regelmäßig metaphorisch den Hintern pudern und ihn für einen missverstandenen armen Tropf halten, obwohl er wahrscheinlich einfach entweder nur faul ist, oder schlichtweg nicht besonders schlau. Kerstin Timmermann scheint sich einzugestehen, dass ich vielleicht keine Ahnung davon habe, was ihr Sohn so in der Schule treibt. Tatsächlich haben wir so gut wie alle Kurse miteinander, aber ich achte nie allzu sehr auf ihn. Da er mich auch schon oft genug als Loser oder Streber bezeichnet hat, lege ich keinen großen Wert auf seine Gesellschaft. »Es ist so, dass er wahrscheinlich nicht zum Abi zugelassen wird, wenn seine Leistungen sich nicht in den nächsten zwei Monaten verbessern und er hat eine Aussicht auf ein Sportstipendium, weißt du?« Nein, weiß ich nicht. »Ich verstehe nicht so richtig, was das mit mir zu tun hat«, gebe ich zu und schiebe mir die Locken aus der Stirn. Kerstin Timmermann seufzt theatralisch. Ich frage mich, ob sie genauso blonde Haare hat, wie ihr Sohn. Der trägt seine Haare übrigens im Pferdeschwanz. Er ist das komplette Gegenteil von mir. Meine Haut ist braun, seine blass. Ich hab schwarze Locken von meiner senegalesischen Oma geerbt, er hat glattes, blondes Haar. Meine Augen sind dunkelbraun, seine hellgrün. Ich hab eine Brille und er nicht. »Es wäre wirklich umwerfend, wenn du ihm Nachhilfe geben könntest, Tamino. Frau Lüske spricht in höchsten Tönen von dir und sie ist Julius‘ Tutorin, musst du wissen. Es war ihre Idee, dass du Julius bei den nächsten Klausurvorbereitungen helfen könntest. Wir würden dich dafür natürlich auch bezahlen.« Den letzten Satz fügt sie rasch hinzu, als würde das die Aussicht auf Nachhilfe für ihren Sohn attraktiver machen. Was nicht der Fall ist. Abgesehen davon, dass mein Vater ein Arschloch ist, pumpt er mich mit jeder Menge Taschengeld voll. Vielleicht, weil er weiß, dass er ziemlich versagt hat und das Gefühl hat, er müsse es irgendwie gut machen. »Ähm…«, sage ich erneut und mein Gehirn ist definitiv eingefroren. Was soll ich dazu sagen? Ich will Julius ganz sicher keine Nachhilfe geben, aber ich bin auch meistens zu panisch, um ‚Nein‘ zu Leuten zu sagen. »Fünfzehn Euro die Stunde scheint angemessen, nicht? Ich bin sicher, dass es auch für dich eine gute Prüfungsvorbereitung wäre! Julius hat mir gesagt, dass ihr dieselben Kurse habt.« Wahrscheinlich hat sie Recht. Warum genau Julius überhaupt den sprachlichen Zweig gewählt hat, ist mir schleierhaft, da er keinen besonderen Spaß oder ein Talent für Englisch oder Deutsch zu haben scheint. Und auch in Geschichte und Französisch macht er keine besonders tolle Figur. »Das mag sein, aber…« »Ich wäre dir wirklich sehr dankbar. Frau Lüske sagte, dass du in all deinen Kursen glatt auf eins stehst.« »Das ist richtig…« »Es gibt keinen besseren Kandidaten. Frau Lüske hat betont, wie sinnvoll es wäre, einen Nachhilfelehrer für alle Fächer zu haben, statt für jedes Fach einen neuen zu suchen.« Ich verfluche Frau Lüske. Eigentlich mag ich sie sehr gerne und sie ist eine wahnsinnig kompetente Lehrerin, aber wie sie auf den Gedanken kommt, dass ich gerne Julius‘ Abi retten würde, ist mir absolut schleierhaft. Sie hat schon mehrfach mitbekommen, dass Julius über meine mündliche Beteiligung oder meine guten Noten die Augen verdreht. Wahrscheinlich würde er mir nicht mal zuhören wollen, wenn ich ihm irgendwas erkläre. »Ich glaube nicht, dass… also… Julius mag mich nicht besonders«, erkläre ich peinlich berührt und würde am liebsten im Boden versinken. Wahrscheinlich sagt sie mir gleich, dass ich mir das alles nur einbilde und dass ihr Sohn keiner Fliege was zuleide tun könnte. »Nun, er wird sich zusammenreißen müssen«, sagte Frau Timmermann mit eiserner Stimme und ich bin so perplex, dass ich nicht so recht weiß, was ich sagen soll. »Wenn es dir recht ist, kannst du am Samstag zu uns kommen. Es steht ja bald eine Geschichtsklausur an, wenn ich richtig informiert bin. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Tamino.« Ich versuche mir kurz vorzustellen, wie mein Vater sich tatsächlich so für meinen Werdegang interessiert, dass er bei einem Mitschüler anruft und um Nachhilfe bittet. Seufzend massiere ich meine linke Schläfe. Ich möchte gerade einen letzten schwachen Versuch unternehmen, Frau Timmermann abzusagen, da hat sie schon beschlossen, dass ich praktisch zugesagt habe. »Komm einfach, wann es dir am besten passt. Wir sind ab drei Uhr zu erreichen. Bis Samstag!« Und dann legt sie einfach auf, als wüsste sie ganz genau, dass ich vorgehabt habe, ihr zu widersprechen. Ich starre den Hörer an und komme mir vor wie in einem schlechten Film. Eigentlich würde ich mich gleich hinlegen und schlafen, aber ich will auch unbedingt das Telefon loswerden, also trage ich es in den Flur und lege es auf die Station. Feindselig betrachte ich es. Ich weiß genau, wieso ich Telefone hasse. * Ich habe herzlich wenig Lust, am nächsten Tag zur Schule zu gehen. Denn dann muss ich Julius sehen und er weiß sicher, was seine Mutter verbrochen hat. Ich frage mich unweigerlich, wie sehr er versucht hat, sie davon abzuhalten. Wahrscheinlich hat er ungefähr zehn Stunden getobt und gebockt. Das hätte ich vielleicht auch machen sollen. Mein Vater hat nicht mal gefragt, wer da eigentlich am Telefon war. Wenn man mit einer Bezugsperson in eine fremde Stadt zieht, zu der man eigentlich keinen Bezug hat, dann ist Einsamkeit ziemlich unausweichlich. Das Schulgebäude sieht groß und imposant aus, als ich am Donnerstag davor stehe. Im Gegensatz zu meiner alten Schule ist es ein riesiger Betonklotz, dessen Fenster einen andauernd dazu einladen, sich hinauszuwerfen, damit man dem Gestank nach Linoleumfußboden und Stress endlich entkommen kann. Ich bin heute Morgen mit dem üblichen Gefühl unterschwelliger Panik aufgestanden, das sich extrem verschlimmert hat, seit mein Vater mich aus meiner Stadt und von meinen Freunden weggeschleift und in diesem Misthaufen wieder abgeladen hat. »Heghlu’meH QaQ jajvam«, denke ich, während ich die Tür aufmache. Ich könnte Julius einfach die ganze Zeit auf Klingonisch beleidigen, wenn er mir blöd kommt. Aber damit würde ich wohl mein Nerd-Image zementieren. Dann wiederum kann es ja eigentlich kaum noch schlimmer kommen. Mit jeder Treppenstufe werden meine Hände schwitziger und mein Herzschlag schneller. Acht Stunden heute. Sechs davon mit Julius, wenn ich mich recht erinnere. Immerhin in Musik bleibe ich von ihm verschont, da er entweder Kunst oder Darstellendes Spiel gewählt hat. Hoffentlich muss ich ihm dafür nicht auch noch Nachhilfe geben. Mir reicht es immer schon, wenn ich ihm dabei zuhören muss, wie er die französische Sprache abschlachtet, sobald Herr Rosenheim ihn dran nimmt. Bei anderen stört es mich nicht, wenn sie schlecht Französisch reden, aber weil Julius sich für so einen tollen Hecht hält, stört mich an ihm einfach alles. Sobald ich den Klassenraum betrete, in dem wir Deutsch haben, sehe ich ihn von einer Traube umringt am Fenster sitzen und lachen. Sein Lachen erstirbt sofort, als er mich eintreten sieht, aber da ich immer kurz vor knapp in der Schule erscheine, hat er keine Gelegenheit, mich anzusprechen, da in diesem Moment Frau Lüske erscheint. Sie ist eine dicke Frau in den Fünfzigern, trägt ihr graues Haar in einem Pagenschnitt und auf ihrer schmalen Nase sitzt eine knallrot umrahmte Brille. »Guten Morgen«, dröhnt sie und ihre Augen finden meine sofort. Sie nickt mir mit einem augenscheinlich stolzen Blick zu und ich seufze. Frau Lüske ist die einzige Lehrerin in diesem Betonklotz, für die es sich lohnt, morgens aufzustehen. Aber ich kann ihr nicht so recht verzeihen, dass sie mir Julius an die Backe getackert hat. »Guten Morgen«, kommt es mehr oder minder einstimmig zurück. Frau Lüske knallt ihre Ledertasche aufs Pult, gräbt darin herum und packt dann mehrere Unterlagen, Mappen und ein sehr zerlesenes Exemplar von Thomas Manns Felix Krull heraus – die Klassenlektüre, die wir momentan behandeln. Normalerweise bin ich mündlich immer an vorderster Front, aber heute stelle ich mein Kinn einfach in meiner Hand ab und starre missmutig vor mich hin, während ich nichtssagende Schnörkel auf meinen Block male. Frau Lüske schaut mehrmals auffordernd zu mir herüber, aber ich habe keine Lust, meinen Arm zu heben. Julius beteiligt sich auch nicht. Ich meine, das tut er ohnehin nie wirklich, aber heute fällt es mir einfach besonders auf, weil er mir besonders auffällt. Grimmig denke ich daran, dass Felix Krull in all seinem Narzissmus eigentlich ganz gut zu Julius passt. »Julius, Tamino. Ich würde Sie gerne noch sprechen, bevor Sie in die Pause gehen«, sagt Frau Lüske nach der Doppelstunde Deutsch, in der ich mich nicht einmal gemeldet, dafür aber ein ganzes Blatt voller Kringel gemalt habe. Mein Herz springt mir sofort in die Kehle und fängt an zu hämmern. Mein Gehirn schreit »Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht« gegen meine Schädelinnenseite, aber das hält meine Füße letztendlich nicht davon ab, sich mechanisch Richtung Pult zu bewegen. Julius sieht mich kurz an und starrt dann auf Frau Lüskes Pult. Oh ja, es wird ganz toll. »Deine Mutter hat mich gestern Abend noch angerufen, Julius, und mir gesagt, dass Tamino sich bereit erklärt hat, dir Nachhilfe zu geben.« Ich gebe ein trockenes Hüsteln von mir, das mir einen fragenden Blick von Frau Lüske und einen leicht säuerlichen von Julius einbringt. »Sie wollen Ihr Abitur doch schaffen, Julius«, sagt Frau Lüske und es ist eigentlich nicht als Frage formuliert, aber Julius nickt ein wenig mechanisch. Seine blonden Haaren sind heute in einem unordentlichen Knuddel hinten auf seinem Hinterkopf befestigt. Er sieht aus wie ein Surfer an der Küste Australiens. Ich verkneife mir ein Augenverdrehen. »Dann würde ich vorschlagen, dass Sie Ihr Bestes geben und sich an Tamino halten. Sie wissen, dass wir in drei Wochen den nächsten Aufsatz schreiben. Wenn Sie wieder nur vier Punkte schreiben, kann ich Sie beim besten Willen nicht mit fünf Punkten im Zeugnis benoten. Und wie ich höre, sieht es bei den Kollegen Rosenheim, Krüger und Frank auch nicht viel besser aus.« Ich könnte schwören, dass Julius gerade mit jedem ihrer Worte um gute zwei Zentimeter geschrumpft ist. Fast tut er mir ein bisschen leid. Ich würde ungern vor jemand anderem mein Versagen aufgelistet bekommen, auch wenn ich natürlich sowie wissen muss, wo es eigentlich hapert. Ich wische mir meine feuchten Handinnenflächen so unauffällig wie möglich an meiner Jeans ab und wünsche mir, irgendwo anders zu sein. »Wenn Sie Hilfe für einen Lehrplan brauchen, Tamino, dann wenden Sie sich gerne an mich«, sagt Frau Lüske gönnerhaft in meine Richtung, während sie ihre Unterlagen und ihre Ausgabe von Felix Krull in ihre Tasche stopft. »Ok«, sage ich und meine Stimme klingt winzig klein. So klein, wie ich mich fühle. Ich kann unmöglich alleine zu Julius nach Hause gehen. Das ist fast so schlimm, wie zum Arzt zu gehen. Ich stecke meine Hände in die Hosentasche und wünsche mir plötzlich, viel kleiner zu sein, damit ich weniger Platz wegnehme. Frau Lüske nickt uns beiden noch einmal zu, dann rauscht sie aus dem Klassenzimmer und lässt uns zurück. Julius räuspert sich. »Du hättest meiner Mutter nein sagen sollen«, sagt er anschuldigend. Ich starre auf meine Schuhe. »Ich hab‘s versucht. Sie war sehr… nachdrücklich«, antworte ich so leise, dass ich mir am liebsten die Zunge abbeißen würde. Ich hasse es, dass ich solche Angst davor habe, Leuten klar und deutlich nein zu sagen. Es ist keine besonders gute Eigenschaft, es immer allen recht machen zu wollen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich in einem Bus sitze und selber gar nicht der Fahrer bin, sondern weiter hinten hocke und meiner Angststörung am Steuer Richtungen zurufe, die sie einfach eiskalt ignoriert. Julius stöhnt angestrengt und fährt sich übers Gesicht. »Weißt du überhaupt, wo ich wohne?«, will er wissen. »Nee«, gebe ich zurück. Er schnaubt. Dann sagt er mir seine Adresse, schwingt sich seinen Rucksack mit Schwung über die Schulter und stapft an mir vorbei aus dem Klassenzimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)