Die Angst vor der Einsamkeit von Elefantastisch ================================================================================ Mo ließ den Blick schweifen und dachte bei sich, dass sie jetzt gerne überall anders wäre außer hier. Die Frau eines Ratsmitgliedes hatte Geburtstag und alle bedeutenden Familien in Erebos waren eingeladen. Was eine erbärmliche Farce war, wenn sie sich ehrlich waren. Hier ging es doch nur darum, dass jeder zur Schau stellen konnte, was er hatte. Die Familie selbst hatte das Haus blank wienern lassen, das teuerste Geschirr hervor geholt und die üppigste Blumendekoration bestellt, die sich finden hat lassen. Die Gäste ihrerseits hatten keine Kosten und Mühen gescheut, um in Sachen Aussehen, Kleidung und Geschenk alle anderen Gäste zu übertrumpfen. Ereignisse wie diese waren sinnlose Huldigungsakte an den Kapitalismus und dienten rein dem Zwecke, eine Plattform zu haben, um sich zur Schau zu stellen und morgen neuen Gesprächsstoff zum Lästern zu haben. Oh, Madame hatte aber schon zugenommen. Und Frau hat bei ihrer Kleiderauswahl wohl auch bei den Dienstboten zugegriffen. Familie hat heuer aber schon am Geschenk gespart. Und die Gastgeber hätten sich mit den Blumen schon etwas mehr Mühe gebe können. Im Februar wohlgemerkt! Diese Unmengen an Blüten waren unter enormen Energieaufwand mitten im Winter in Glashäusern großgezogen worden und würden morgen wieder weggeworfen werden, trotzdem reichte es machen Gästen nicht. Mo kratzte sich am Unterarm und fing dafür einen Stoß ihres Angetrauten ein. Ihr zukünftiger Gemahl war ihr von ihren Eltern vorgesetzt worden und war eben von diesen heute darin unterwiesen worden, sie am Kratzen zu hindern. Von Zeit zu Zeit hatte Moira das Gefühl, es in ihrer Haut nicht mehr auszuhalten, der Hass auf sich und die Gesellschaft war zu groß und schien ihre Haut sprengen zu wollen. Aber das Gewebe war zu elastisch, weshalb Mo sich am liebsten die ganze Haut einfach vom Leib gerissen hätte, um ihre Seele zu befreien. Kam aber natürlich nicht in Frage, ihre Mutter würde ihr den Hals umdrehen, wenn Mo ihre makellose Haut beschädigen würden, also hatte Mo als, wenn auch wenig zufrieden stellenden, Kompromiss begonnen, sich an den Unterarmen zu kratzen. Ihre Mutter achtete immer penibelst darauf, dass Mos Fingernägel sauber manikürt waren, was sie zu einem perfekten Werkzeug machten, um sie sich ins Fleisch zu graben und langsam an der weichen Innenseite am Unterarm nach oben zu ziehen. Nicht so befriedigend wie Rasierklingen, aber weit weniger aufmerksamkeitserregend. Mo redete sich immer auf die Katze hinaus, wenn sie nach den Kratzspuren gefragt wurde und ihre Mutter hatte sie damit zufrieden stellen können, dass die Haut juckte. Jetzt saß Mo eben regelmäßig beim Dermatologen, der natürlich nichts fand, aber immerhin ließ ihre Mutter sie meist in Ruhe. Außer in öffentlichen Situationen wie diesen, weil Eurybia der Ansicht war, dass Kratzen nicht schick war. Mühsam unterdrückte Mo den Impuls. Sie wollte hier raus, wollte raus aus ihrer Haut. Um sie herum war alles so künstlich. Künstlich bunt, künstlich freundlich, künstlich laut. Hollywood. Und sie war hier in ihrem ganz eigenen Stummfilm in Schwarz-weiß. Sie wollte schreien, wollte raus aus dieser Farce, wollte all diesen Menschen hier sagen, dass sie hirnlose Marionetten des Systems waren. Aber sie schwieg. Lächelte. Gönnte sich noch ein Gläschen Champus mit den Reichen und Schönen, eh sie sich entschuldigte, um auf die Toilette zu gehen. Im Flur ignorierte sie betreffende Örtlichkeit allerdings und ging geradeaus weiter zur Treppe. Das zweite Stockwerk lag leer und dunkel da, die Festlichkeiten konzentrierten sich auf den ersten Stock und das Dienstpersonal war in der Küche zugegen. Bei ihrer Ankunft hatte Mo im Obergeschoss einen Balkon gesehen, der über der Einfahrt thronte, dort wollte sie hin. Leise tapste sie den Gang entlang, für einen kurzen Augenblick bildete sie sich sogar ein, laute Metallmusik hinter sich zu hören. Als würde hier jemand Metall hören. Nachdem sie einige Türen geöffnet hatte, fand sie eines der Schlafzimmer, von dem aus sie nach draußen gelangt. Wie erhofft lag die Einfahrt unter dem Balkon verlassen und dunkel dar. Die Feier wurde im Saal im ersten Stock abgehalten, der den Blick auf die hintere Seite des Gebäudes und den kunstvoll gestalteten Garten freigab. Dort waren in den Bäumen bunte Laternen drapiert und später sollte dort dann ein Feuerwerk am Himmel aufleuchten. Sinnlos in die Umwelt gepumpte Schadstoffe, für einen Augenblick der Freude am Zenit. An der Stirnseite des Gebäudes war von alledem aber nicht zu bemerken. Vereinzelt waren erleuchtete Rechtecke am Boden sichtbar, wo Licht in den Dienstzimmern brannte, der munter vor sich hinplätschernde Springbrunnen war dezent erhellte und weiter unten, am Ende des langen Auffahrtsweges, wurde das Eingangstor von den Straßenlaternen miterleuchtet. Irgendwo war der Ruf eines Vogels zu vernehmen. Und Mo fühlte sich hier in der Stille weniger allein als gerade eben noch, als sie umgeben von Menschen war. Die kühle Nachtluft stieg ihr in die Nase, brachte den Geruch von schweren Blumen mit sich und hinter Mos Rücken bauschte eine leise Brise die Vorhänge. Die Stille kroch ihr über die Haut, hüllte sie ein, liebkoste sie. Mo mochte das Alleinsein, fürchtete aber die Einsamkeit. Nachts wachte sie schweißgebadet und verstört auf, herausgerissen aus Träumen, in denen sie einsam und verlassen durch die Finsternis geirrt war. Entgegen dem weitverbreitetem Glauben waren Alleinsein und Einsamkeit nicht dasselbe. Dummerweise gingen beide oft miteinander einher. Mo war gerne alleine, für sich, ohne Gesellschaft. Dann konnte sie ungezwungen sein, tun, wonach ihr beliebet. Dann malte sie, nähte, ging in den Wald, nur um die Vögel zu beobachten und den Duft der Bäume einzuatmen. Meistens zog sie diese Art der Beschäftigung auch jeglichen gemeinschaftlichen Aktivitäten vor. Nicht immer, Mo war keine völlige Einzelgängerin, das musste man auch sagen. Sie hatte drei, vier enge Freunde, mit denen sie viel Zeit verbrachte und mit denen sie gerne Zeit verbrachte. Aber eben nicht immer. Allerdings wurde gerade das von ihr erwartet. Abrufbereit zu sein und allzeit bereit für gemeinsame Aktivitäten. Und wenn sie es nicht war, waren die Leute sauer auf sie. Warum sie schon wieder keine Zeit habe, wurde sie dann gefragt. Warum sie denn nicht mal bei was mitmachen könne. Warum sie denn so eine Spaßbremse sei. Und mit Spaßbremsen wollte sich niemand abgeben. Also wurde sie immer seltener gefragt, ob sie überhaupt mitkommen wollte. Die Anfragen wurden weniger und somit auch der Kontakt zu anderen. Das Handy blieb immer öfters still und die Zeit, die Mo ohne Gesellschaft verbrachte, wurde immer mehr. Und in diesem Moment passierte sie die Grenze zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Es war eine Gradwanderung. Ersteres war von ihr gewollt, letzteres erlebte sie unfreiwillig. Und das führte in die Zwickmühle. Mo konnte es nicht akzeptieren, dass sie gerne allein war, konnte die gesellschaftslose Zeit nicht genießen, weil im Unterbewusstsein die Angst lauerte, dass die Einsamkeit dann auch kommen würde. Ihre schwarzen Klauen nach ihr ausstrecken und sie in die dunkle, leere Ödnis hinabreißen würde. Also raffte Mo sich auf, suchte die Gesellschaft, die sie eigentlich zumeist verabscheute und ließ sich zu Aktivitäten mitreißen, die sich zumeist ebenfalls verabscheute, alles nur um nicht als Geisel der Einsamkeit zu enden. Ihr sündhaft teures Kleid stellte sich als enorme Behinderung heraus, als Mo ungelenk auf die Balkonbrüstung kletterte. Ihre hochhackigen Schuhe hatte sie am Boden zurück gelassen, der Stein der Umrandung fühlte sich kühl und rau an unter ihren Zehen. „Angenommen du wärst eine der Dienstboten hier im Haus. Würdest du deinen restlichen Abend damit verbringen wollen, menschlichen Blut-, Muskel- und Knochenmatsch vom Asphalt kratzen zu wollen?“ Mo riss die Augen auf. Ihr war nicht aufgefallen, dass ihr jemand gefolgt war. Sie hatte sich doch mehrfach umgesehen. Nein! Alle Zeichen hatten dafür gesprochen, zu springen. Der Wind, der sie im freien Fall leise umspielt hätte. Das Rauschen der Bäume und das Plätschern des Brunnens, die ihren Sturz untermalt hätten. Das Bewusstsein, ein friedliches Ende zu finden und aus ihrem goldenen Käfig auszubrechen. Endlich frei sein. Mo spürte kalte Schweißperlen ihre Wirbelsäule hinab wandern. Sie sollte springen. SOFORT! „Ich könnte mir jedenfalls bessere Beschäftigungen für den Abend vorstellen.“ Erst jetzt erkannte sie die Stimme. Hyperion. „Was machst du hier?“ „Wohnen.“ Mo stutzte. Eigentlich hatte sie gemeint, warum er nicht unten bei der Feier war, warum er ihr gefolgt war (zumindest glaubte sie nicht, dass er sich vom Festsaal zufällig zur gleichen Zeit durch die düsteren Gänge hierher verirrt hatte). Und sie hatte eine dementsprechende Antwort erwartet. Sie überlegte. Ja, jetzt wo er es sagte. Die Gastgeberin des heutigen Abends war seine Mutter, daran hatte Mo überhaupt nicht gedacht. Wobei sie eigentlich generell noch keine Gedanken daran verschwendet hatte, wer heute gefeiert wurde. Was machte es auch für einen Unterscheid? Der Ablauf, die Gäste, die Intentionen – es war ohnehin immer dasselbe. „Dann solltest du umso mehr unten beim Fest sein.“ „Ich bin nicht eingeladen.“ Und wieder stutzt Mo. Auch mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Und jetzt wo er es sagte: sie hatte ihn heute tatsächlich den ganzen Abend noch nicht gesehen. Ihr fiel das kurze Aufwallen von Metall-Musik ein, als sie hergekommen war. Vermutlich war er just in diesem Moment aus seinem Zimmer gekommen. „Warum?“ „Weil ich nie eingeladen bin.“ Sie hörte ihn kurz schnauben, konnte aber nicht zuordnen, ob es ein abfälliges oder belustigtes war. Mo stand nach wie vor auf der Balkonbrüstung und Hyperion in ihrem Rücken, so dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Aber sie meinte, seine ungleichen Augen auf sich zu spüren. „Ich hab‘ die Ehre, heute Abend tun und lassen zu können, was ich will.“ „Eine ziemlich einsame Ehre.“ „Ich hab den Abend heute mit guter Musik und meinem Hobby verbracht. Und du?“ Mit schlechter Musik, schlechter Gesellschaft und schlechten Gedanken. „Den Erwartungen entsprechend.“ „Deinen Erwartungen oder denen der anderen?“ Aussagen wie diese machten Mo wütend. Und ungehemmt in ihren Worten. „Ja klar, für dich ist alles so einfach. Weil du ohnehin nie Teil der Gesellschaft warst. An dich stellt niemand Erwartungen, Anforderungen. Du brauchst dich nicht anzupassen, um dazu zu gehören – weil du ohnehin nie dazu gehören wirst.“ Mo schob einen Fuß nach vorne. Fühlte die Leichtigkeit des Nichts unter ihren Zehen und die Härte des Steins unter ihren Sohlen. Die Grenze zwischen Fliegen und Stehenbleiben, Tod und Leben. Zu oft hatte Mo es schon gehört, wie einfach denn nicht alles war. Von ihren Eltern, ihrem Umfeld, ihrem Bruder. Einfach anpassen. Einfach weniger nachdenken. Einfach mitmachen. Und von ihren tatsächlichen Freunden. Einfach sie selbst sein. Einfach zu sich stehen. Einfach die Zweifel fallen lassen. Einfach. Wenn es so einfach wäre, hätte Mo es schon längst getan. Und vielleicht war es für ihre Ratgeber auch tatsächlich einfach. Für Moira aber nicht. Ein Nilpferd würde in einer Herde Elefanten nie dazugehören, auch wenn es noch so sehr versuchte, sich anzupassen. Wenn es aber nicht versuchte, sich anzupassen, bestand erst gar nicht die Chance, dass es als Teil der Gruppe anerkannt werden würde. Und andere Nilpferde waren nun mal nicht in Sicht, also blieb nur die Wahl zwischen der unpassenden Gruppe oder der Einsamkeit. Mo schob den zweiten Fuß nach vorne. Entweder sie versuchte weiterhin, Teil einer Gruppe zu sein, zu der sie nicht dazu passte oder sie akzeptierte, dass sie nie Teil sein würde und gab sich der schwarzen Leere der Einsamkeit hin. Beides keine schönen Alternativen. „Warum ist es so wichtig, dazu zu gehören? HIER dazuzugehören? Ich hab‘ es im Kunstkurs in deinen Augen gesehen. Die Rebellion, die du ständig unterdrückst. Birnen müssen nicht perfekt sein. Sei ehrlich: willst du überhaupt zu solchen Leuten dazu gehören?“ Nein, weil sie die Ansichten, Meinungen und Vorstellungen dieser Leute nicht teilte. Und ja, weil es nun mal die breite Masse war, weil es sonst nun mal keine andere Leute gab, nur die Außenseiter und Verstoßenen. „Ja“, hauchte Mo und schluckte ihre Tränen hinunter. Mo weinte oft, für sie waren Tränen eigentlich kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck menschlicher Emotionen und konnten neben Trauer auch Freude oder Wut ausdrücken und befreiend sein. Eigentlich. Alle anderen sagte und zeigten ihr nämlich, dass ihre Tränen nicht erwünscht waren. Tränen waren nicht erwünscht, von Mo wurde erwartet, immer gut gelaunt, handzahm und lächelnd zu sein. „Die andere Option wäre die Einsamkeit.“ „Nicht, wenn du sie als deinen Freund betrachtest und nicht als deinen Feind. Komm schon, tu nicht so, als wäre es so viel schöner, deinen Abend zwar in Gesellschaft aber eben mit dieser Horde konsumgetriebener, blinder und systemverhangener Lackaffen zu verbringen, als allein aber dafür mit Dingen, die du magst. Und bevor du jetzt wieder anfängst zu jammern: die Leute, die dich tatsächlich sehen wollen, dabei haben wollen, werden sich so oder so bei der melden. Und die, denen du nur bequem bist, wenn du ihren stumpfsinnigen Mist mitmachst, die können dir auch gestohlen bleiben. Wenn du mich fragst, ist eine Hummel in einem Wespennest mehr einsam, als wenn sie alleine auf einer Blume sitzt.“ „Du meinst ein Nilpferd in einer Elefantenherde.“ Sie hörte Hyperion leise lachen. Mo hatte bisher geglaubt, dass solcherlei Gedanken nur ihr durch den Kopf gingen, dass sie damit alleine war und niemand sonst ihren Gedankengängen folgen konnte, umso mehr überraschte es sie jetzt, hier jemanden gefunden zu haben, dem es ähnlich erging. Und dann noch ausgerechnet Hyperion. Wobei: eigentlich hatte sich Mo noch nie richtig mit ihm befasst. Er war immer schon der Außenseiter gewesen, mit dem sich niemand abgeben wollte und Mo hatte Angst gehabt, auch zum Außenseiter zu werden, wenn sie mit ihm in Verbindung gebracht worden wäre. „Du hast mir noch kein einziges Mal direkt gesagt, dass ich nicht springen soll.“ „Werd‘ ich auch nicht. Weil es deine Entscheidung ist. Ich werd' nicht drum betteln, dass du es nicht tust oder dir nachspringen oder mit einem Schrei auf den Lippen zur Brüstung rennen und zuschauen, wie dein Körper am Asphalt wie eine Melone explodiert. Reisende soll man bekanntlich nicht halten. Aber ich glaube, dass mit dir ein großer Geist verloren gehen würde.“ Moira ließ den Blick schweifen. Sog den Sternenhimmel in sich auf, das Rauschen der Bäume und das Plätschern des Springbrunnens, das Gefühl der kühlen Luft auf ihrer Haut. Ein letztes Mal. Dann kletterte sie von der Brüstung herab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)