Unwritten von Puppenspieler ================================================================================ Oktober • Restart ----------------- Es war das einzige freie Wochenende im Oktober, das sie haben würden. So kurz vor den Vorrunden der Spring High ging natürlich Training über alles. Futaba stand dahinter. Ehrlich! Sie wollte immerhin gewinnen, keine Frage. Aber Futaba stand auch sehr dahinter, zwischendurch einmal Urlaub davon zu haben, dem Ball hinterher zu hetzen, als gäbe es kein Morgen. Auch wenn man ihr das selten glaubte, wenn man sie so sah, sie hatte auch ein Leben außerhalb von Volleyball.   Und dieses Leben führte sie gerade hinaus in den nächsten Wald.   Futaba mochte den Herbst nicht sonderlich. Regen und Kälte und Wind waren noch nie ihre Favoriten gewesen, und auch wenn das bunte Laub hübsch war, das half einfach selten gegen all die Kontrapunkte, die die Jahreszeit mit sich brachte. Sie mochte den Sommer. Sie mochte Gluthitze und kühlende Sommerregen, die aber noch warm genug waren, um einfach nicht zu stören. Sie liebte Strandspaziergänge und das grelle Licht, das in den Augen brannte und die ganze Welt ein bisschen zu hell leuchten ließ. Sie mochte den Frühling, sobald er anfing, warm zu werden, und aufhörte, eklig zu sein. Futaba mochte den Herbst nicht. Das Problem damit war – Ricchan mochte ihn. Ricchan mochte buntes Laub und goldene Sonnenstrahlen, die gerade so noch wärmten, aber nicht mehr überhitzten. Ricchan mochte die Geräuschkulisse eines lauen Herbsttages, wo Blätter unter den Füßen raschelten und das sommerliche Insektenkonzert längst Geschichte war. (Futaba liebte Käfersammeln. Sie vermisste den Zikadenlärm, wenn er zu verstummen begann.)   Zu Ricchan passte es. Ricchan war selbst ein bisschen wie der Herbst, fand Futaba. Ricchan war wie ein stillerer, eleganterer Sommer, war goldene Sonnenstrahlen und leuchtendes Herbstlaub, war leises Blätterrascheln und manchmal auch ein stürmisches Unwetter, wenn man sie verärgerte. Futaba, wenn es danach ging, war eher der Sommer. Grell und laut und viel zu hektisch, aber simpel und geradlinig.   Eigentlich war der Punkt, an dem Sommer und Herbst sich trafen, mit Abstand die schönste Zeit im Jahr.   Ricchan wartete schon vor den ersten Ausläufern des Waldes. Zwischen glühend roten Herbstblättern und strahlendem Sonnenschein stand sie da, mehr als einen Kopf größer als Futaba, schlank und schön geformt. Außerhalb der Schule trug sie Hosen, und trotzdem sah sie damenhafter aus, als Futaba in ihrem ordentlichen Faltenrock und den hohen Absätzen das jemals könnte. Sie strahlte, als Ricchan sich ihr zuwandte, ihr Lächeln erinnerte wieder einmal viel zu sehr an die Mona Lisa. Geheimnisvoll, aber gerade deshalb so anziehend. Futaba wollte ergründen, was dahintersteckte. Sie sah wunderschön aus. Viel mehr wie ein Model als eine willkürliche High-School-Schülerin. Fand Futaba zumindest. Tatamiya hatte sie herzlich ausgelacht, als sie das einmal kommentiert hatte; „Nicht jeder, der groß ist, ist automatisch Model!“ Objektiv betrachtet war Ricchan also nicht strahlend schön, vermutete Futaba. Subjektiv betrachtet machte ihr Herz trotzdem einen riesigen Hüpfer von ihrem Anblick. Jedes Mal, egal, wie oft sie sie sah. „Ricchan~!“ Ricchans Mona-Lisa-Lächeln wurde wärmer, als sie sich herabbeugte, damit sie sich überhaupt ordentlich zur Begrüßung umarmen konnten. Trotz der hohen Absätze war der Größenunterschied zwischen ihnen einfach immer noch viel zu deutlich. Es ärgerte Futaba ein bisschen, denn das Opfer, das sie mit den Absätzen brachte – sie büßte Beweglichkeit und Tempo ein! –, schien so unselig fruchtlos. Ricchan bot ihr den Arm und Futaba hängte sich augenblicklich bei ihr ein.   Es ist kein Date. Manchmal musste Futaba sich daran erinnern. Ricchan war ihre beste Freundin. Über etwas anderes hatten sie noch nie gesprochen, auch wenn sie sich Valentinsschokolade schenkten, beim Shoppen händchenhaltend durch die Stadt spazierten, und immer wieder in den kitschigsten Cafés Kuchen essen gingen. Manchmal trafen ihre Lippen sich. Zufällig. Nebensächlich, selbstverständlich. Es gehörte einfach dazu. Zwanglos. Keine tiefere Bedeutung. Und Futaba war nicht mutig genug, das zu ändern. Nächstes Jahr.   Es war seit zwei Jahren schon nächstes Jahr.   „Futaba.“ Da war etwas in der Art, wie Ricchan ihren Namen rief, das Futaba immer unnötig breit grinsen ließ. Sie sah zu ihrer Freundin auf, deren Blick ruhig geradeaus gerichtet war. Futaba folgte, doch mehr als ein ewiges Labyrinth aus rotem Laub und braunem Holz und goldenem Sonnenlicht erblickte sie nicht. Es war hübsch, aber sie hätte den Anblick jederzeit gegen Ricchans Lächeln eingetauscht. „Hm?“ Ricchan schwieg, zuerst. Sie zog den Arm zurück, an dem Futaba baumelte, ergriff stattdessen ihre Hand. Ricchans Finger waren lang und schlank und elegant. Futaba mochte das Gefühl, ihre Hand zu halten – zumindest solange, wie sie nicht darüber nachdachte, wie winzig ihre eigene Hand im Vergleich war. „Schaffen wir’s?“ Sie wurde unbewusst langsamer, während ihre Gedanken wanderten. Futaba brauchte keine Erklärung, um die Frage zu verstehen. Schafften sie es? Sie konnten weit kommen. Aber früher oder später… Gegen Niiyama? Niiyama, deren Drittklässler auch noch geblieben waren? Sie blieb stehen, zwischen buntem Herbstlaub und Blätterrascheln, das ein auffrischender Herbstwind mit sich brachte. Sah hinauf in den Himmel. Ein paar rote Blätter segelten in ihrem Augenwinkel zu Boden. „Nein“, sagte sie schließlich nach einem viel zu langen Schweigen. Sie sah ernsthaft zu Ricchan auf, den Mund zu einem entschlossenen, fast grimmigen Strich verzogen. „Aber das hindert uns nicht daran, trotzdem unser Bestes zu geben. Am Ende des Tages ist doch am Wichtigsten, dass wir noch in den Spiegel sehen können, ganz egal, wie die Resultate sind.“   Sagte sie jetzt. Sie wusste trotzdem, sie würde wieder Rotz und Wasser weinen, wenn es vorbei war. Ricchan wusste es auch, das verriet ihr amüsiertes Kopfschütteln, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte und Futaba einfach mit sich zog. Über knisterndes Herbstlaub und goldgesprenkelte Wege. „Es zu wissen macht es nicht leichter“, sagte Ricchan leise. Futaba nickte, ohne wirklich etwas zu erwidern zu wissen. Es war schwierig. Sie würde trotzdem nicht von vornherein die Flinte ins Korn werfen können. Sie würde sich trotzdem daran klammern, dass jede Regel eine Ausnahme hatte, und dass jede Erwartung falsch sein konnte. Sie würde alles geben, sie würde weinen und fluchen, wenn sie trotzdem verloren, und am nächsten Tag würde sie mit aller Energie weitermachen können, weil da keine Reue war, die sie niederdrückte. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Ricchan sprach nie viel. Futaba war oft eine Plappertasche. Sie mochte es. Sie ergänzten sich irgendwie gut. Manchmal mochte Futaba es außerdem, still zu sein. Besonders, wenn sie mit Ricchan zusammen war. Es war entspannend. Das Rascheln der Blätter unter ihren Schritten klang hübsch, der Wind in den Bäumen genauso. Futaba seufzte zufrieden. So wenig sie den Herbst im Ganzen mochte – Herbst und Ricchan waren eine wunderbare Kombi.   Ihre Gedanken begannen zu wandern, während sie weiter schweigend durch das Herbstlaub spazierten. Zu der Plastikbox, die bei ihr Zuhause auf dem Schreibtisch stand. Sie hatte sie zusammen mit der Erklärung, was zum Henker es damit auf sich hatte, von Numanoi bekommen. Wenn sie fertig war, würde sie sie an Ricchan weitergeben. Und dann würde es weitergehen. Maika brauchte sie noch. Die Idee war großartig. Futaba war sofort Feuer und Flamme dafür gewesen, und auch jetzt löste die Erinnerung Begeisterung in ihr aus. Der einzige Minuspunkt war, dass sie viel zu ungeduldig war, um so lange zu warten. Ein Regentropfen traf sie an der Stirn. Verdutzt blieb Futaba stehen und streckte die Hand aus. Sie sah hinauf in den Himmel, erblickte eine schwere, dicke Regenwolke, die sich offenbar genau über ihnen befand. Irgendwo war noch genug Raum für Sonnenlicht, denn die goldenen Sprenkel vom Boden waren noch nicht ganz verschwunden. „Wie gut, dass ich einen Schirm dabei habe“, murmelte Ricchan. Sie warf einen Blick in Futabas Richtung, der das Mädchen sofort herzlich auflachen ließ. Natürlich hatte sie ihren Schirm vergessen. Sie vergaß ihn immer. Ricchan wusste es, deshalb war Ricchans Schirm groß genug für zwei. Sie hatte ihn im Frühjahr neu gekauft, extra groß, und hatte völlig nüchtern erklärt, dass es nur Futabas Schuld war. Es störte sie nicht, schuld zu sein. „Wir sollten zurückgehen, huh?“   Das Prasseln des Regens war bald ohrenbetäubend laut. Was als harmloses Tröpfeln begonnen hatte, war längst ein ausgewachsener Regenschauer der ganz ätzenden Art. Futaba lief so eng an Ricchan gedrückt, wie möglich war, um sich bloß vor allen kalten Tropfen zu beschützen. Es war keine schöne Geräuschkulisse. „Hey. Ricchan, hast du eigentlich eine Ahnung, seit wann Tatamiya-Senpai Oikawa-San aufgegeben hat? Und warum?“ Es war das erste Thema, das ihr einfiel. Hauptsache, es übertönte den Regen. Und es war kein schlechtes Thema; Ricchan lachte leise. „Seit dem Trainingscamp zur Golden Week, glaube ich? Jedenfalls hab ich seit dem nichts mehr von Anti-Oikawa-Plänen gehört. Und warum… puh. Mit dem Alter kommt die Weisheit, würde ich sagen.“ Futaba lachte herzlich, schlug eine Hand vor den Mund, um die schiere Lautstärke einzudämmen. Als sie zu Ricchan hochblickte, sah sie Amüsement auf dem hübschen Gesicht ihrer Freundin. Der Wind zerzauste Ricchans langes, glattes Haar zu einer wilden, hellen Mähne, und es war ein wunderschöner Anblick, der Futaba effektiv von allem anderen ablenkte.   Auch davon, dass der Wind stark genug wurde, um ihren Schirm zu verbiegen. Ein besonders heftiger Windstoß entriss ihnen das lädierte Teil komplett. Futaba sah großäugig zu, wie es krumm und schief im Dickicht landete. Sie wusste nicht, ob lachen oder fluchen.   Jetzt standen sie ohne jeden Schutz im Regen, der gnadenlos auf sie niederprasselte. Sie tauschten einen Blick, während um sie herum das Unwetter zunahm. War da in der Ferne ein Donnergrollen? „Ich kann auf Absätzen nicht laufen“, jammerte Futaba, zog die Schultern unzufrieden hoch. Sie hasste Unwetter. Sie mochte Blitz und Donner nicht. Noch ein Grund, den Herbst nicht zu mögen. Sommergewitter waren ja irgendwie erträglich, aber sowas hier? Nein. Ricchans Blick war nicht sonderlich mitleidig. „Du hättest keine Absätze tragen müssen“, erinnerte sie lakonisch. Und sie hatte recht, grundlegend. Ricchan hatte nie etwas gegen Futabas Körpergröße gesagt – aber es störte sie selbst! Sie wollte nicht schrecklich winzig neben Ricchan sein. Jetzt bereute sie es fast ein bisschen.   Wobei es ohnehin keinen Unterschied gemacht hätte. Ein paar Sekunden im Regen reichten, und ihre Haare klebten ihnen nass im Gesicht, die Kleidung am Körper. Eigentlich könnten sie genauso gut gemächlich zurückspazieren, wenn es nur danach ging, durchnässt waren sie eh schon. Aber es war kalt, wurde nur kälter, und da war ein neuerliches Donnergrollen, das Futaba zusammenfahren ließ. Sie wollte nicht trödeln. Sie schnaubte. Kurzentschlossen kickte sie die Stöckelschuhe von den Füßen, völlig ignorant dafür, wo im Dickicht sie landeten.   „Laufen wir.“   Sie rannten. Rannten, wobei Ricchan so viel eleganter aussah als Futaba selbst, die zwei Schritte machen musste für jeden, den ihre Freundin machte, über ihnen das Regenprasseln und Blitz und Donner im Rücken. Bis sie einen Unterstand erreicht hatten, waren sie so nass, dass es sinnlos war, sich unterzustellen. Aber trotzdem klang es attraktiver, auf den nächsten Bus nach Hause zu warten, statt jetzt noch den ganzen Weg zu laufen, also blieben sie in dem Bushäuschen, atemlos und erschöpft. Futabas Haar tropfte. Ihre Nasenspitze tropfte. Ihr Rock auch. Ricchans Jacke tropfte. Futabas Füße taten obendrein weh, und sie ließ sich ächzend auf einen der Plastiksitze fallen. Ricchan setzte sich neben sie, streckte die Beine aus. Ihre Jeans war dunkel vor Nässe. Da grollte immer noch Donner in der Ferne, aber einmal raus aus dem Wald fühlte Futaba sich zumindest etwas wohler. Wenn jetzt nur der Bus noch käme… „Kalt“, murmelte sie unzufrieden. Ricchan gab einen zustimmenden Laut von sich und legte den Arm um sie. Sich nass aneinanderzudrücken machte die Kälte im ersten Moment nur noch schlimmer, aber Futaba fühlte sich zum ersten Mal seit dem ersten Donnergrollen wieder zufrieden, lehnte den Kopf an Ricchans Schulter und zog die Knie an, bis ihre Fersen Platz auf ihrer Sitzkante fanden. Einmal an die Nässe zwischen ihnen gewöhnt war Ricchans Nähe warm, und sie duftete nach irgendetwas blumigem, das Futaba nicht zuordnen konnte, aber das typisch Ricchan war. Kühle Lippen pressten gegen ihre Stirn, und Futaba sah blinzelnd auf. Im Gegensatz zu ihr sah Ricchan nicht einmal ansatzweise unzufrieden aus. Ricchan mochte Regenstürme und Gewitter. Ricchan war der Herbst, natürlich fühlte sie sich wohl.   „Wann willst du eigentlich deine Schuhe wiederholen?“   Ihre Stimme bebte vor unterdrücktem Lachen. Futaba sah sie einen Moment lang verdutzt an, blickte dann erst auf ihre schmutzignassen Strümpfe hinunter, sah zu Ricchan zurück. Und dann lachte sie. Ricchan stimmte mit ein, ungewohnt laut und kräftig. Futabas Stirn kollidierte mit Ricchans Schulter, als sie sich haltsuchend an sie klammerte, trotz der Kälte war ihr plötzlich beinahe unerträglich warm und ihr Herz war sicher auf doppelte Größe angeschwollen. Sie küsste Ricchan, eine Geste, die entsetzlich scheiterte, weil sie so sehr lachten, weil die Regennässe auf ihrer Haut alles kalt und klebrig machte, und trotzdem fanden ihre Lippen wieder zueinander, nur um sich erneut in herzlichem Gelächter zu trennen. Zwischen Regenprasseln, Donnergrollen und dem Echo ihres Lachens beschloss Futaba, dass sie nächstes Jahr dringend aus ihrem Vokabular streichen musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)