Necromance von KnK-Romane (Von Tod und Liebe) ================================================================================ Kapitel 3: #Karma ----------------- Der Wecker klingelte sie wie gewöhnlich gnadenlos, viel zu früh und in all seiner Grausamkeit aus ihrem Bett, in dem sie sich heute Nacht unruhig und voller konfuser Träume umhergewälzt hatte. Zeit um zu sich zu kommen blieb ihr nicht. Um den Zug nicht zu verpassen und pünktlich zur ersten Vorlesung zu kommen, musste sie sich sofort auf die Beine quälen. Lyrika streckte ihren Rücken, blinzelte missmutig und mit kleinen Augen zu ihrem Fenster, vor dem eine schwarze Krähe auf der Gaube des Nachbargebäudes saß und durch das die frühmorgendlichen Sonnenstrahlen fielen und ihre Nase kitzelten. In typisch deutscher Manier kippte sie das Fenster, um etwas frische Luft in ihr kleines Reich zu lassen, während sie sich im Bad wusch, die Zähne putzte und dabei verschlafen in ihr Spiegelbild starrte. Keine halbe Stunde später saß sie in ihrem Zug in Richtung Bath, sah die Landschaft an sich vorbeirauschen und ließ sich von den angenehmen Klängen epischer Filmmusik berieseln. Die Szenen des letzten Nachmittags wollten ihr nach wie vor nicht aus dem Kopf gehen.Sie hatte gestern Abend ein wenig mit ihren Internetbekanntschaften darüber gechattet und gehofft, dass es ihr helfen würde, alles zu verarbeiten. Doch immernoch sah sie die toten, blauen Augen des jungen Mannes vor ihrem geistigen Auge und die Frage, ob er noch lebte kreiste durch ihre Gedanken. Was hatte er gehabt? Konnten die Ärzte ihm helfen? Vielleicht war er ja auch im Krankenhaus verstorben oder sie hatten ein inoperablen Herzfehler entdeckt - oder einen Tumor! Lyrika stöhnte und sank in sich zusammen, vergrub ihre Nase in ihrem voluminösen Halstuch. Wie fast jedes Lebewesen hatte Mutter Natur sie mit einer gesunden Portion Neugierde bestraft. Sie versuchte sich mit einem dieser Trendspiele auf ihrem Smartphone abzulenken und schrieb ein wenig mit ihren Freunden hin und her, bis ihr von dem Wanken des Zuges schlecht wurde. Der Vorlesungstag verging so zäh wie alter Kaugummi unter der Schuhsohle und je größer ihre Langweile wurde, desto stärker wuchs der Wunsch zu wissen, was aus Perry geworden war. Laut Polizeibericht war er in das Royal United Hospital gekommen. Mit dem Bus war es etwa 30 Minuten von der Uni entfernt. Was würde denn dagegen sprechen nach dem Ende der Hochschule dort einen kleinen Besuch abzustatten? Sie würde einfach nach ihm an der Information fragen, und wenn er in Lebensgefahr war und auf der Intensivstation lag, würde sie einfach wieder weggeschickt werden. Andernfalls würde sie sein Zimmer suchen, und wenn sie genug Mut hatte, ihm gute Besserung wünschen und fragen, was die Ärzte herausgefunden hatten. Dann würde sie einfach wieder nach Hause fahren und ihre Neugierde wäre gestillt. Alles prima. So zumindest in der Theorie. In der Praxis bekam sie schon Herzflattern, als sie den Bus Nummer 14 Richtung Crown Road betrat. Dieses Flattern wurde schließlich zu einem Stolpern und als sie an dem Krankenhaus ausstieg und Richtung Haupteingang ging, war sie sich sicher, bereits klinisch Tod zu sein. Ein EKG würde wohl nur noch ein einziges monotones Piepen von sich gegeben. Lyrika ging auf die Dame am Informationsschalter zu. Es war eine junge Frau, deren Haare mit Strähnchen aufgehellt und zu einem Pferdeschwanz zusammen gemacht waren. In der Eingangshalle war es recht ruhig. Lediglich ein älterer Herr mit gebrochenem Bein wurde auf Krücken von seiner Frau Richtung Ausgang geleitet. Ansonsten sah man nur in den Gängen den ein oder anderen Patienten oder Pfleger hin und herlaufen. „Guten Tag“, grüßte Lyrika die Frau, welche daraufhin den Kopf hob und sie freundlich ansah. „Ja, bitte? Was kann ich für dich tun?“ „Ich suche, ähm, einen jungen Mann, der gestern mit dem Krankenwagen hierher gekommen sein muss. Sein Name ist Perish Ferryman, ich würde ihn gerne besuchen“, erklärte Lyrika. „Ja, einen Moment, ich schaue nach ihm.“ Die Frau tippte etwas in den PC ein und scrollte. Sie legte die Stirn kraus und korrigierte etwas. Dann scrollte sie wieder, ehe sie zu ihr aufsah. „Tut mir leid, ich finde hier niemanden unter dem Namen. Wie ist denn das Geburtsdatum?“ „Uff, Keine Ahnung. Er müsste so in meinem Alter sein, also so zwanzig. Plus minus ein, zwei Jahre“, versuchte Lyrika zu erklären, doch der Blick der Frau ließ sie schnell die Hoffnung verlieren. „Ich glaube, so werden wir nicht fündig. Ist er dein Freund?“ „Oh, nein, nein. Ich habe gestern bei ihm erste Hilfe geleistet. Wir kennen uns eigentlich gar nicht. Ich wollte nur gerne wissen, was aus ihm geworden ist. Aber außer seinem Namen, habe ich leider keine Informationen“, Lyrika seufzte und senkte den Blick, „Trotzdem Danke“ „Keine Ursache“, sagte die Empfangsdame und sah sie mitleidig an. Geschlagen wandte sie sich wieder ab und verließ das Krankenhaus auf dem Weg, den sie gekommen war. Was für eine frustrierende Zeitverschwendung. Da wollte sie einmal sozial sein- aber das Karma sagte eindeutig Nein. Wo sie nun ohnehin schon in der Stadt war, kaufte sie noch etwas für das Abendessen ein und telefonierte auf dem Rückweg kurz mit ihren Eltern, die darauf bestanden, dass sie alle paar Tage ein Lebenszeichen von sich gab. Schließlich war sie wieder auf dem Weg zurück in ihre kleine Wohnung und nutzte die Fahrtzeit um sich abermals Gedanken zu machen. Hatte er ihr einen falschen Namen genannt? Aber warum sollte er? Gestern war er fast gestorben - nein. Er war gestorben. Vermutlich war er einfach verwirrt gewesen und war vielleicht sogar selbst davon überzeugt, dass er so hieß. Perish Ferryman. Andererseits hatte er sich ja sogar mit seinem Spitznamen Perry vorgestellt. Lyrika griff sich in die Haare und massierte sich kurz die Schläfen. Das Ganze war doch zum Mäuse melken. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt würde sie ihn ohnehin nie finden! Wer weiß, ob es ihn überhaupt gab und er nicht irgendeine Einbildung ihrer lebhaften Fantasie gewesen war. Vielleicht war sie die verrückte. Am besten war es, wenn sie die ganze Geschichte einfach vergaß. In Gedanken packte sie all die Bilder in ein kleines Päckchen und ließ es von einem Schmetterling abholen. Mit schillernden Flügeln flatterte das Geschöpf davon, nahm alle Sorgen und belastenden Bilder mit sich in eine fremde Welt des Vergessens. Schlimmstenfalls müsste sie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Das würde zumindest ihre Eltern freuen. Da sie so in sich gekehrt war und zurückgezogen lebte, den Kontakt zu anderen Menschen mied und sich im Internet verschanzte, hielten sie ihre Tochter schon lange für „anders“ und hatten ihr mehr als einmal vorgeschlagen, sich in einer Klinik helfen zu lassen. Das, was nur niemand verstand war, dass sie gar nicht unglücklich war. Ganz im Gegenteil. Wenn sie abends auf ihr Bett sank und den Laptop auf ihren Schoß zog, war sie glücklich. Sie mochte halt einfach keine Menschen, so wie andere keinen Spinat mochten. Die nächsten Tage versank die Biologiestudentin tagsüber in ihren Vorlesungen und Hausarbeiten, die sie schreiben musste und abends in Serien, Zeichnungen und Rollenspielen mit ihren Freunden im Internet. Ab und an, wenn Morpheus sie nicht schnell genug in seine Arme schließen wollte, nahm sie ein Buch zur Hand, trank einen großen Schluck aus den Strömen der Lethe und tauschte so nach und nach die Bilder des Vorfalls gegen Neue aus, bis sie sich kaum noch an das Gesicht des jungen Mannes erinnern konnte, den sie vor einigen Tagen gerettet hatte. Samstag morgen warf sie die Türklingel viel zu früh aus dem Bett. Murrend fischte Lyrika ihre Brille vom Nachttisch um ihr Sichtfeld auf HD zu schalten und schlurfte mit zerzaustem Haar und in ihrem karierten Lieblingsschlafanzug zur Tür und drückte den Öffner einige Sekunden lang. Sie überlegte, welche ihrer Bestellungen über Amazon Prime sie nun entgegen nehmen könnte. Vermutlich waren ihre neuen Kopfhörer, die sollten nämlich mit UPS kommen und die lieferten immer so früh. Aber umso besser, so konnte sie sich gleich mit neuem Sound auf den Ohren zurück in ihre Kissen sinken lassen. Der Paketbote nahm die Holztreppen mit großen Schritten und übersprang sicherlich einige Stufen. „Guten Morgen, Horror-Lady“, sagte eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Lyrika bekam nicht, wie erwartet, ein elektronisches Gerät zum Unterschreiben entgegen gehalten, sondern blickte auf einen jungen Mann mit zotteligen, braunen Haaren, der eine zerschlissene Jeans trug und ein weißes T-Shirt mit hochgekrempelten Ärmeln, mit einem Finger hielt einen Rucksack, den er sich über die Schultern geworfen hatte. Seine geschwungenen Lippen mit dem markanten Muttermal und die blauen Augen ließen keinen Zweifel zu. Trotzdem schob sie nochmal ihre Brille zurecht, um sicherzugehen, dass die 2,5 Dioptrien links und 3,0 Dioptrien rechts, ihr keinen Knick in die Optik machten. „Perish?“, Lyrika konnte nicht fassen, dass er vor ihr stand. Der Schmetterling flatterte zurück und knallte ihr Erinnerungspäckchen mit schadenfrohem Gelächter mitten in ihr Gesicht und twitterte eine Nachricht in die Welt: #Karma Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)