Necromance von KnK-Romane (Von Tod und Liebe) ================================================================================ Kapitel 4: Ein Wunder --------------------- „Was machst du hier?“ Lyrika hatte den jungen Mann hereingebeten und ihm einen Platz an ihrem kleinen Tisch angeboten. Herzlich dankend hatte Perry abgelehnt und sich stattdessen einfach auf ihr Bett gepflanzt. „Ich wusste nicht wohin“, sagte er und streckte sich lang aus, während er die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Offenbar fühlte er sich hier schon sehr heimisch - zum Leidwesen der sozial inkompetenten Lyrika. Diese fühlte sich alleine durch die Anwesenheit eines anderen Menschen in ihren eigenen vier Wenden unter Druck gesetzt. Ganz zu schweigen davon, dass sie aussah wie eine Vogelscheuche. Gerade frisch aus dem Bett aufgestanden hatte sie nicht einmal Zeit gehabt, sich die Zähne zu putzen oder die Haare zu kämmen. „Kommst du aus dem Krankenhaus?“, fragte sie ihren ungebetenen Gast, dieser nickte zur Antwort. „Was sagen die Ärzte, was du hast? Und was heißt, du wusstest nicht wohin? Was ist mit deinen Eltern?“ „Ein angeborener Herzfehler. Die Ärzte sagen, dass ich unter Amnesie leide, dadurch, dass mein Gehirn mit Sauerstoff unterversorgt war. Sie haben versucht meine Verwandten zu erreichen, aber es sieht aus, als wäre ich eine Waise. Jedenfalls konnten sie niemanden finden. In meinem Personalausweis steht eine Adresse in Pennsylvania, also auch kein Ort, an den ich jetzt einfach gehen könnte“, erklärte Perry, und obwohl es eine eigentlich ziemlich traurige Geschichte war, schien es ihm nichts auszumachen. „Ich erinnere mich an nichts und das Erste, was ich in meinem Gedächtnis sehe, ist dein erschrockenes Gesicht. Du bist die Einzige, die ich kenne.“ Lyrika saß ihm gegenüber auf ihrem Schreibtischstuhl und rollte mit diesem nervös ein wenig vor und zurück. „Und woher weißt du, wo ich wohne?“ „Ich hab die Empfangsdame vom Krankenhaus nach dir gefragt, weil ich gehofft hatte, dass du versuchen würdest dich nach mir zu erkundigen. Sie leistete richtige Detektivarbeit um dich zu finden“, er hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen, das ein wenig entschuldigend wirkte, „Ich hoffe, es war okay und ich nerve dich nicht.“ Die Biologiestudentin presste die Lippen kurz zusammen. Sie antwortete lieber gar nicht, bevor sie ihn belog. „Was hast du jetzt vor?“, fragte sie stattdessen und er setzte sich nun auf, blickte sie direkt aus seinen blauen Augen an. Schmunzelnd und ein wenig verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. „Ich hatte gehofft, ich kann ein wenig hier bleiben?“ „Hier?“, hustete Lyrika erschrocken. „Jup.“ „Bis wann denn?“ Die Vorstellung, dass sie ihr kleines Reich mit einem Jungen teilen sollte, passte ihr gar nicht. Das hier war ihre Wohnung! Ihre erste, eigene Wohnung und sie genoss ihre Einsamkeit hier! Wenn hier noch jemand wohnen würde, wäre sie nicht mehr frei, sondern gefangene ihrer eigenen Ängste. Das ging nicht. Das würde sie nicht zulassen. „Bis ich mich erinnere oder irgendetwas heraus gefunden habe, wo ich wohne“, sagte der junge Mann und als er sah, wie Lyrika missmutig die Augenbrauen kräuselte und sich offenbar darauf vorbereitete ihm einen Korb zu geben, sah er sie aus seinen hilflosen Augen so flehend an, wie er nur konnte. Es vergingen einige Sekunden des Schweigens, in denen sie einen inneren Kampf ausfocht. „Ok“, resignierte Lyrika seufzend und erleichtert ließ sich Perry wieder zurück auf die Matratze fallen. „Danke, ich hatte gehofft, dass ich mich auf dich verlassen kann. Ich wusste gleich, dass du ein guter Mensch bist, als ich dich des erste Mal gesehen habe.“ Das war doch nicht zu fassen. Wieso hatte sie ‚ja‘ gesagt? Sie hasste Menschen! Sie liebte die Ruhe und Einsamkeit und Perry wirkte nicht gerade wie jemand, der ständig still in der Ecke saß. Nun hatte sie einen Mitbewohner am Hals. Lyrika seufzte und als sie zu ihm herüber sah, hatte er die Augen geschlossen und ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Das Gefühl von Mitleid machte sich in ihr breit. Wie musste es sich anfühlen, wenn man sich an nichts mehr erinnern konnte und vollkommen alleine in der Welt war? Natürlich war sie der Überzeugung, dass sie niemanden brauchte. Doch sie war auch in einer Familie aufgewachsen. Ihre Eltern und ihr Bruder waren stets selbstverständlich für sie gewesen. Der Gedanke, sie zu verlieren war zugegeben schmerzhaft. Und Perry hatte wohl niemanden mehr, war völlig allein auf dieser Welt und wusste nicht einmal, wo er wohnte. Sie war der einzige Grashalm, an den er sich halten konnte und trotzdem hatte sie eben abweisen wollen. Für einen Moment fühlte sie sich schlecht. „Ich gehe mal Duschen. Fühl dich einfach wie zu Hause, aber das scheinst du ja eh schon zu tun.“ „Alles klar!“ Lyrika atmete tief au, betrachtete ihn einen Moment lang und fragte sich, was ihm passiert war, was seine Geschichte war. Vielleicht könnte sie ihm helfen es heraus zu finden. Aber zu aller erst wollte sie ein paar klare Gedanken fassen. Also tapste sie barfuß zu ihrem Kleiderschrank, nahm sich ein paar Klamotten heraus und betrat dann den kleinen Nassraum. Wenige Wimpernschläge später genoss sie das warme Wasser, das ihren Körper hinab lief. Das hier würde der erste Samstag werden, den sie mehr oder minder gezwungen in männlicher Gesellschaft verbringen würde und alleine bei der Vorstellung wurde ihr schlecht. Um Zeit zu schinden, dehnte sie ihren Badezimmer Aufenthalt so lange wie möglich. Doch letztendlich hatte sie keine Ausreden mehr. Gekleidet in einfache Jeans und einem grauen Sweatshirt stand sie vor dem Spiegel und schob sich ihre große Hornbrille nach oben. Auf in den Kampf. Sie straffte ihre Schultern und trat heraus in ihr Wohn- und Schlafzimmer. Perry stand an ihrem Schreibtisch, hatte ihren Laptop aufgeklappt und blickte mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm. „Nicht an meinen Laptop!“, rief Lyrika und machte quasi einen Hechtsprung zu ihrem neuen Mitbewohner, nur um demonstrativ den Deckel des Gerätes vor seiner Nase zu zu klappen. „Mein Notebook ist tabu!“ Es war ihr das aller Wichtigste und sie wollte nicht, dass jemand anderes damit rumspielte. Immerhin bewahrte sie dort alle privaten Daten auf! Perish hob die Hände unschuldig an. „Sorry“, sagte er, „wollte nur mal gucken, was das für ein schwarzer Kasten ist.“ „Ein Laptop natürlich, was hast du denn gedacht?“, fuhr sie ihn forsch an, besann sich dann jedoch eines Besseren. Offenbar hatte er es ja nicht in böser Absicht gemacht oder um sie auszuspionieren. „Wenn du surfen willst, dann frag mich bitte vorher“, ruderte sie versöhnlich zurück und der Braunhaarige legte irritiert den Kopf schief. „Niemand hat die Absicht jetzt zu surfen.“ Für ein paar Sekunden schwelgten beide in Verwirrung, ehe es Lyrika war, die die Stille durchbrach. „Wollen wir vielleicht etwas essen gehen, du hast sicher Hunger. Ich kann uns ein paar Sandwiches machen, dann können wir ein wenig das schöne Wetter genießen.“ Das Leuchten in seinen Augen war Antwort genug. Einige Zeit später spazierten sie am Flussufer des Avon entlang und suchten sich ein schönes Fleckchen um ihre Decke auszubreiten. Beide zogen die Schuhe aus und krabbelten auf die Unterlage. Lyrika hatte Sandwiches gemacht und etwas Obst geschnitten. Melone und Erdbeeren. Dazu gab es ein bisschen Minzschokolade und Eistee. „Bedien dich“, sagte sie und stellte alles bereit. Perry betrachtete das Obst etwas skeptisch. Vielleicht war er ja wie fast jeder Mann allergisch gegen Vitamine. Schließlich jedoch griff er eine der roten Früchte, roch kurz daran und ließ sie dann in seinen Mund wandern. Verwundert weiteten sich seine Augen leicht und er nahm sich sofort noch eine. „Mh, das“, begann er noch mit vollem Mund, „das schmeckt ja grandios!“ Lyrika hob die Augenbrauen, „es ist ja auch eine Erdbeere. Jeder mag Erdbeeren. Hast du etwa sogar vergessen, wie sie schmecken?“ „Ja, scheint wohl ganz so“, Perry griff nach einer Scheibe Melone und biss hinein. „Oh. mein. Gott!“ Er ließ sich theatralisch nach hinten fallen und Lyrika senkte ihren Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen. In diesem Moment war er fast wie ein kleines Kind, dass die normalsten Dinge der Welt zum ersten Mal entdeckte, voller Wissbegier und unbefleckter Neugierde. „Findest du das nicht superlecker?“, fragte Perry entsetzt, da Lyrika seine Begeisterung nicht ganz so teilen konnte. „Doch, finde ich“, erwiderte sie, „aber ich esse das öfters mal, deswegen ist es nicht so ein“, sie suchte händeringend nach Worten, „Erlebnis. Warte ab, bis du die Schokolade probierst“ „Welches ist die Schokolade?“ Sie öffnete die Tafel und brach ihm einen Riegel ab, reichte ihn ihm herüber. Wieder roch er erst daran und biss dann ein Stück ab. Es trieb ihm nahezu Tränen in die Augen. Lyrika konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt einen Menschen so glücklich und berührt von solch einfachen Dingen gesehen hatte. Vielleicht war es nicht nur ein Fluch sein Gedächtnis zu verlieren, sondern in der ein oder anderen Sache auch ein Segen. So viele Dinge waren in unseren Leben selbstverständlich geworden und wir hatten es in unserem Überfluss verlernt dankbar zu sein. Anstatt sich über die kleinen Dinge zu freuen, jammerten wir viel zu oft über Kleinigkeiten und machten uns so selbst unser Leben schwer. Schließlich blieb Perry auf dem Rücken liegen und blinzelte in die Sonne, welche zu dieser Jahreszeit schon recht viel Kraft hatte. Tief atmete er die Luft in seine Lungen und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf seine geschwungenen Lippen. „So warm“, murmelte er. Die Biologiestudentin legte sich zögerlich neben ihn auf die Decke und blickte seitlich zu ihm. Er schloss seine Augen, als eine leichte Briese über sein Gesicht strich und ihm die wilden Haare vor die Stirn wehte. Wie jemand, der lange Zeit in Isolation und Gefangenschaft gelebt hatte, genoss er einfach die Natur und schien sie mit allen Sinnen zu fühlen. Ihn so glücklich und friedvoll zu setzen, trotz der schwierigen Situation, in der er sich befand, erfüllte sie mit einem warmen Gefühl. Vielleicht war es die Bewunderung, die sie für ihn übrig hatte und vielleicht sie einfach berührt von der Genügsamkeit, die er zeigte. Gemeinsam genossen sie den milden Samstag und erstaunlicherweise empfand Lyrika Perrys Gesellschaft als gar nicht so störend und unangenehm, wie sie es eigentlich erwartet hatte. Abgesehen von den vielen Fragen, die er über die einfachsten und selbstverständlichsten Dinge dieser Welt hatte, drängte er sich ihr nicht auf und zwang sie auch nicht zu Gesprächen. So fiel ihr gedanklicher Druck, sich um jemand Anderen kümmern zu müssen, langsam von ihr ab. Es wirkte schließlich sogar so, als interessiere er sich gar nicht für sie selbst, sondern einfach nur für alles, was es zu entdecken gab - sei das ein Marienkäfer, der über ein Blatt krabbelte oder gar einfach nur die Wiese selbst und wie sich die Grashalme zwischen den Fingern anfühlten. Gegen Nachmittag zog sich der Himmel etwas zu und sie packten ihre Sachen wieder ein, um sich auf den Weg nach Hause zu machen. „Was ist das denn eigentlich für ein Herzfehler? Kann es wieder passieren? Musst du auf etwas achten?“, wollte Lyrika wissen, als sie sich langsam vom Fluss entfernten. Perry nahm ihr den Rucksack ab und warf ihn sich über eine Schulter. „Keine Ahnung wie genau sich das nennt. Die Ärzte sagen, dass ich meinen Kreislauf nicht zu stark belasten darf und sie haben mir Medikamente verschrieben. Es kann natürlich jederzeit wieder passieren. Aber dafür hab ich ja dich“, sagte er grinsend. Lyrika hob tadelnd einen Finger. „Das probieren wir gar nicht erst aus. Ich habe noch keinen Vertrag als Schutzengel unterschrieben, ich mache das ja rein ehrenamtlich!“ Perry lachte und sie betraten die wunderschöne, alte Steinbrücke des Ortes, welche beide Uferseiten miteinander verband. Der Ort, an dem er zusammengebrochen war. „Wir sollten dir noch eine Gästematratze besorgen. Ich habe ja gar kein Sofa“ „Ich kann auch einfach auf dem Boden schlafen“, sagte Perry anspruchslos, wie er war. „Quatsch. Luftmatratzen gibt es schon ziemlich günstig!“ Als sie gerade die Brücke verließen und auf eine der stärker befahrenen Straßen bogen, hörten sie plötzlich einen Tumult hinter sich. „Haltet den Dieb!“, rief eine aufgebrachte Frauenstimme. Ein Mann brach durch einige Passanten hindurch und umklammerte dabei irgendetwas. Lyrika wirbelte herum und sah ihn in quasi direkt auf sich zustürzen. Mit ungebremster Geschwindigkeit wurde sie von dem Dieb einfach beiseite gerempelt und fiel dadurch direkt auf die viel befahrene Straße zu. Lyrika konnte nichts anderes tun, als die Augen zusammenzukneifen und ein Stoßgebet gen Himmel zu schicken. Ihr Leben zog an ihr vorüber. Entfernt hörte sie das vergebliche Quietschen von Reifen und in ihrem Kopf war absolute Gedankenleere. Es gab nur eine einzige Sache, die ihr nun das Leben noch retten konnte: Ein Wunder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)