Necromance von KnK-Romane (Von Tod und Liebe) ================================================================================ Kapitel 1: Lebe, oh, bitte Lebe! -------------------------------- Necromance „That is not dead which can eternal lie, and with strange aeons even death may die.“ -H.P. Lovecraft 1. Lebe! Oh, bitte lebe! Der Hörsaal war voll. Lyrika verzog die Lippen und rümpfte die Nase. Sie hatte Biologie als ihr Studienfach gewählt, nicht nur, weil es sie interessierte, sondern auch, weil sie gehofft hatte, dass sich für dieses wissenschaftliche Fach nur wenige interessieren würden. Doch da hatte sie sich getäuscht. Rechts, Links, oben, unten - überall Menschen! Ein tiefer Seufzer entfloh ihrer Kehle und sie machte sich auf dem kleinen Tisch lang, und legte ihren Kopf in der Armbeuge ab. Sie war zwar nicht in der Lage sich wegzubeamen, aber wenigstens konnte sie die Augen zumachen und so tun, als wäre niemand hier. Sie war vor kurzem mit ihrer Familie nach England gezogen und hatte sich zu Beginn ihres Studiums an der University of Bath eine eigene Wohnung in einer kleinen, nahegelegenen Stadt namens Bradford of Avon, gesucht. Lyrika liebte ihre Eltern und ihren größeren Bruder Alex, aber sie war froh, dass sie nun ihr eigenes, kleines Reich hatte. Der Abschied aus Deutschland war ihr nicht sonderlich schwer gefallen. Schon seit jeher war sie die Außenseiterin in den Schulen und fand ihre Freunde eher im Internet als im Klassenraum. Dank Smartphones und Laptops war es ihr also quasi ganz egal, in welcher Stadt oder in welchem Land sie lebte, solange das WLan klappte. Denn so konnte sie mit ihren Freunden aus dem Internet jederzeit in Kontakt bleiben und zusammen mit ihnen in selbsterdachten Fantasiewelten versinken. Über das Chatten mit ihren ausländischen Bekanntschaften und das exzessive inhalieren von Fernsehserien in Originalton, war ihr Englisch ziemlich gut, und da sie ohnehin nicht viel redete, hatte sie auch keine Angst vor einer Sprachbarriere in ihrem neuen Heimatland. Sie war vor zwei Monaten zwanzig geworden, war ein wenig zu dünn und ihre weiße Haut war ein starker Kontrast zu ihren dunklen, langen Haaren und den braunen Augen. Sie war wie das gruselige Mädchen aus dem Waisenhaus, das am Ende alles in Brand steckte, weil sie ihr Leben lang ausgestoßen war. Bloß, dass sie eben Eltern hatte und nicht pyromanisch veranlagt war. Sie blieb bloß einfach in ihrer eigenen kleinen Blubberblase und fühlte sich unter Menschen unwohl. Wenn sie sich eine Superkraft aussuchen könnte, wäre es definitiv Unsichtbarkeit. Dann könnte sie überall sein, alles mitkriegen, und niemand würde sie sehen. Ja, das wäre schön. Vielleicht würde sie im Laufe ihres Studiums und ihrer Forschungen ja ein Mittel finden, was dem Menschen dazu verhalf. Sie fing an, etwas auf ihrem Block herum zu kritzeln. In ihrer Freizeit zeichnete sie gerne Comics. Doch da die Menschen dazu neigten, sie auf ihr Talent anzusprechen, kritzelte sie es schnell wieder durch. Lyrika schnaufte, sah auf ihr Handy. 14:19 Uhr. In elf Minuten hatte sie es für heute geschafft und könnte nach Hause gehen. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl umher. Gott, war das langweilig. Dann endlich - die Erlösung. Der Professor verabschiedete die Studierenden und verließ den Saal. In Windeseile fegte Lyrika ihre Schreibutensilien in ihren Rucksack und reihte sich zwischen den anderen Studenten ein, um im Ententrott aus der Reihe heraus und die Stufen herauf zum Ausgang zu watscheln. Ihr Weg führte sie über den schön und natürlich angelegten Campus, bis zu der North Road, dort fuhr sie mit dem Bus zu dem Bahnhof, wo sie schließlich mit dem Zug zurück nach Bradford fuhr. Die kleine Stadt zählte rund 10.000 Einwohner und lag an dem Fluss Avon, der auch ihr Namensgeber war und über den eine alte, romantische Steinbrücke führte. Die Stadt lag genau am Hang eines Hügels und reichte hinab in das Tal. Lyrika hatte sich dazu entschlossen außerhalb von Bath zu wohnen um dem Lärm und Rummel der Stadt zu entgehen. Sie mochte es ruhiger, ländlicher und trotzdem war es nicht weit entfernt, sodass das Netz gut war und sie innerhalb einer halben Stunde zu der Universität gelangte. Das Wetter an diesem Freitag Nachmittag war für englische Verhältnisse erstaunlich gut. Unter ein paar wattigen Wolken blinzelte die Sonne ab und an durch und ließ ihre Strahlen facettenreich auf dem Fluss spiegeln. Sie sog die Luft tief in ihre Lungen, schloss die Augen einen Moment und genoss die Einsamkeit und die Klassiker von Linkin Park in ihren Ohren, als ihre private Idylle plötzlich durchbrochen wurde. Um sie herum sprangen ein paar Menschen zur Seite und schrien erschrocken auf. Aufmerksam geworden drehte sich Lyrika zu der Quelle des Aufruhrs und sah einen jungen Mann auf dem Bürgersteig liegen. Er griff sich an die Brust rang mit offenem Mund nach Luft. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er erstickte! „Oh Gott!“ rief Lyrika. Um sie herum waren die meisten Menschen in schockierte Starre gefallen. Ein Mann tippte hektisch auf seinem Smartphone und rief offenbar den Notarzt. Ein weiterer versuchte die stehen gebliebenen Menschen davon abzubringen zu starren. Sie hechtete zu dem Jungen, der sich wenige Meter von ihr auf dem Boden windete. Sie kniete sich zu ihm hin und sah ihm in die weit aufgerissenen Augen. „Halt durch!“ sie griff nach seiner krampfenden Hand. Lyrika hatte keine Ahnung, was er hatte, wie sie helfen konnte. War es ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Sollte sie ihn beatmen? Herzmassage? Heimlichgriff? Alles, was sie tun konnte, war seine Hand zu halten und ihm zu versichern, dass alles gut werden würde. Niemals würde der Krankenwagen rechtzeitig kommen. „Ist hier jemand Arzt, Sanitäter, irgendwas?!“, hörte sie eine Stimme im Hintergrund rufen. Eine Mutter zog ihren schockierten Sohn fort. Die krampfende Hand in ihrer wurde lockerer. Das Zucken des Mannes weniger. Um Himmels willen, nein!! „Bleib bei mir! Bleib hier! Du musst durchhalten!“ rief Lyrika. Doch so verzweifelt sie es auch versuchte, sie konnte förmlich sehen, wie in diesem Moment das Leben aus den blauen Augen des Fremden wich. „Nein, nein, nein...“ sie strich sich durch das schwarze Haar. Zwei Finger breit über dem Solarplexus. Lyrika legte ihre Hände auf seine Brust, atmete einmal tief durch und begann mit kräftigen Stößen eine Herzmassage. Beatmung! Herzmassage! Beatmung! Lebe! Oh, bitte lebe! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)