The Gates of Salem von rosenluchs (Astron) ================================================================================ Kapitel 4: Eine Familiengeschichte ---------------------------------- „Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Lehrerschaft!“ Am Donnerstagmittag bittet der Direktor Joseph Fisher den Schülern um Aufmerksamkeit. Es bildet sich eine Traube um den 60 Jahre alten, kräftigen Afroamerikaner, der in seinem grauen Sakko und seiner grauen Knickerbocker stattlich gekleidet ist. „Wie ihr alle wisst, findet heute Abend das Vorjubiläum statt. Ich möchte im Voraus einen Dank an die Sponsoren aussprechen, die uns bei der Organisation behilflich waren. Zum Beispiel dem Nähclub der Abraham Lincoln Middle School, der speziell für diesen Anlass Tischdecken genäht hat.“ Direktor Fisher unterbricht sich und nimmt einem Lehrer ein Blatt Papier ab, das er nun der Schülerschaft zeigt. Darauf zu sehen sind Reihen von Passfoto-großen, durch Gabelungen miteinander verbundene Kästchen. „Aber das Highlight sind diese heute morgen hinzu gekommenen Stammbaum-Arbeitsblätter vom Buchladen 8 Book Mile in Danvers. Die füllt ihr innerhalb der nächsten Stunden mit euren Eltern aus und schreibt dazu einen Aufsatz über eure Familiengeschichte. Diese werden dann alle im Rahmen des Sozialkunde-Projektes über Ahnenforschung in der Turnhalle ausgestellt.“ Rasch werden die Arbeitsblätter unter die mit gemischten Gefühlen murmelnden Schüler ausgeteilt. „Dafür ist die Unterrichtszeit jetzt zu Ende.“ Auch Maja und ihre Kollegen bekommen einige Blätter in die Hand gedrückt. „Das wird spaßig“, gluckst Gerda, als sie gerade ein Arbeitsblatt entgegennimmt. „Herrje! Aber ich weiß nicht, wie unsere ganze Verwandtschaft auf dieses eine Blatt passen soll.“ „Wir müssen auch nur unsere Eltern und Großeltern nehmen. Dann haben wir auch weniger zu schreiben“, rät ihr Kay. „Aber einer unsere Urgroßväter war ein berühmter General, ein Großonkel Parteichef und Generalsekretär. Vergessen?“ „Berühmte Verwandte... Wenn auch ich welche hätte...“, murmelt Emily schwärmerisch. „Ich weiß nicht so recht, ob ich berühmte Vorfahren habe. Aber mein Onkel ist ein berühmter Musiker“, spricht Maja schüchtern aus. „Was? Dein Onkel ist Musiker? Sag mir seinen Namen, vielleicht kenne ich ihn“, springt Yvonne aufgeregt vor Maja hin und her. Vorhin stand die noch bei ihren High Society-Freunden. „Jeremy Fagan. Hier dürfte er nicht so bekannt sein, aber in New York City, wo er seit zwei Jahren wohnt“, antwortet Deborah, die sich zu ihr gesellt hat. „Okay… dann kenne ich ihn doch nicht.“ „Ich glaube, wir sollten jetzt alle nach Hause gehen. Uns bleibt nicht mehr so viel Zeit“, fügt sich Leona ein. „Ruhig, Süße! Die Feier fängt ja erst um sieben an.“ Das wird ein Kinderspiel!, denkt sich Lilith, während sie nach Hause läuft. Ihre Familie wohnt in der angeblich düsteren und unheimlichen Abour Avenue. In dieser Straße sei fast das ganze Jahr über Spätherbst, sagt man sich hinter vorgehaltener Hand. Kahle Bäume und ein großer, alter Friedhof prägen das schaurige Bild der sogenannten Lauballee. Dabei ist es schon September. In der Abour Avenue sieht es nicht ganz anders aus wie in ganz Salem: Die Bäume beginnen, ihre Blätter abzuwerfen. Tatsache ist jedoch: Einige Bäume sind schon ganz alt oder ganz tot. Viele der gegenüber vom Friedhof stehenden Häuser sind unbewohnt. Man erzählt sich, dass es hier von Geistern nur so wimmelt und die Menschen dort im Einklang mit dem Jenseits leben. Doch weder Lilith noch ihre Eltern oder die Anwohner haben etwas groß Außergewöhnliches oder Übersinnliches erlebt. Am Anfang der Abour Avenue, auf der Friedhofsseite, steht ein großes weißes Haus. Lilith hat es schon immer bewundert: Dreistöckig, mit einem riesigen parkähnlichen Grundstück, einem Garten voller Blumen, Obstbäume und Kräuter, und einer riesigen Garage. Dies alles gehört der Familie des Bürgermeisters, Mather Hawthorn. Seine Kinder gehen, so weit Lilith weiß, in die 10. Klasse. Doch außer der Klasse selbst und einigen Lehrern hat eigentlich sonst niemand die Zwillinge zu Gesicht bekommen. Wenn überhaupt. Häufiger werden die Beiden zu Hause unterrichtet. Oder gehen auf ein Internat. Von ihren Gothicfreunden, von denen einige in die Zehnte gehen, weiß Lilith nur einiges über die Hawthorn-Zwillinge: Die beiden seien gleich groß, dürr und hätten starrende, fast weiße Augen und rotorange Haare. Auch die Namen der Beiden hatte Lilith durch Cris in Erfahrung gebracht. Diese hat sie jedoch wieder vergessen. Einzig „Vicky“ (sic!) ist ihr hängen geblieben. Einige Häuser weiter, auf der gegenüberliegenden Seite, befindet sich eine eher schäbige Hütte. Einstöckig, in die Breite gezogen, mit Moos und Efeu überwachsen und an vielen Stellen nicht bewohnbar. Auch das Grundstück sieht sprich- und wortwörtlich aus wie Kraut und Rüben. Das ist das Haus einer alten Frau, die von den Einwohnern „die alte Aggy“ genannt wird. Wie immer sitzt die alte Aggy auf ihrem Schaukelstuhl unter dem moosbedeckten Dach ihrer morschen Veranda. Und wie immer hat sie das vergilbte, zerschlissene und an vielen Stellen mit bunten Flicken ausgebesserte lange Kleid an. Um ihrer Hüfte, ihren Schultern und in ihren weißgrauen, struppigen Haaren hat sie sich bunte Seiden- und Stofftücher gebunden. Aus ihrem faltigen, wind- und wettergegerbten Gesicht über der langen, gebogenen Nase schauen zwei hellbraune, fast rosa Augen geradewegs zu Lilith. Ihre faltigen, knorrigen Hände ruhen auf dem großen Ast, der ihr als Gehstock dient. Lilith bleibt kurz stehen. Erwidert den Blick der alten Frau, die sie nur zu gut kennt. Wenn auch nur aus der Ferne. In ihren Augen ist die alte Aggy die archetypische Hexe schlechthin. Nur ohne Katze. Da erinnert sich Lilith an die kurzfristige Hausaufgabe für heute Abend. Rasch setzt sie ihren Nachhauseweg fort. Gefolgt von dem Blick der alten Aggy. Auf ihrem Bett mit den Kuscheltieren und der rosa Barbie-Bettwäsche grübelt sie nun vor sich hin. Dabei hatte sie sich diese Hausaufgabe viel einfacher vorgestellt. Sie weiß nicht, womit sie anfangen soll: Mit dem Stammbaum oder mit dem Aufsatz? Sie steht auf, nimmt das Arbeitsblatt mit sich und begibt sich zum Flur. Dort zieht sie an einer Schnur, die von der Decke hinunter hängt. Dadurch öffnet sich die Luke zum Dachboden. Langsam besteigt Lilith die Stufen zum staubigen, muffigen Dachgeschoss. Gründlich durchstöbert sie die dort gelagerten Kartons, Truhen, Schränke. Doch sie findet keine alten Familiendokumente oder andere Besitztümer eines Vorfahren. Alles dort Gelagerte ist noch sehr neu. So geht Lilith zu ihren gerade eingetroffenen Eltern, die auf dem Arbeitsblatt zumindest die Bilder einiger Familienmitglieder einkleben sollen. Währenddessen erzählt Lilith: ,,In Geschichte beschäftigen wir uns gerade mit Ahnenforschung. Und Mr. Stratfort sagte, dass es sehr wichtig sei, seine eigenen Wurzeln zu kennen. Deshalb will ich mehr über uns wissen.“ Ihre Eltern sind nach kurzer Zeit fertig. „Wir haben uns große Mühe gegeben“, kommt die überzeugend anmutende Antwort ihrer Mutter, die ihr den Stammbaum wiedergibt. Die Frau mit den wasserstoffblonden Haaren und den kornblumenblauen Augen lächelt dabei ein wenig. Doch das Ergebnis ist enttäuschend: Die einzigen Bilder, die darauf sind, sind die von Mutter, Vater und sie. „Das kann nicht alles sein!“, empört sich Lilith. „Wo sind meine Tanten, Onkeln, Großeltern? Warum habe ich niemanden von denen kennengelernt?“ Die Eltern sehen sie bedauernd an. „Wir sind eine weit verstreute Familie“, äußert sich ihr Vater. Kratzt verlegen seinen Kopf mit den ergrauenden, kastanienbraunen Haaren. „Unsere Verwandten leben viel zu weit weg von hier, als dass sie uns besuchen könnten.“ „Und vor zwanzig Jahren hat Großtante Barbara bei einem Brand alle Familiendokumente verloren“, fügt die Mutter hinzu. „Und alle anderen haben auch ihr Auto und Telefon verloren, ohne sie danach zu ersetzen. Ich glaube euch kein einziges Wort. Wisst ihr, manchmal fühle ich mich bei euch für nichts wert auf dieser Welt“, sagt Lilith und geht enttäuscht auf ihr Zimmer zurück. Für nichts wert auf dieser Welt. Lilith setzt sich an ihren weißen Schreibtisch. Fängt an zu schreiben. Über ihre Familie, von der sie nichts weiß. Noch nie und niemals. Für nichts wert auf dieser Welt. Lilith malte sich schon immer aus, wie es wäre, wenn sie andere Eltern hätte. Eine andere, richtige Familie. Die ihr nichts zu verheimlichen hat. Die ihr wirklich das Gefühl geben, eine von ihnen zu sein. Die ehrlich zu ihr ist. Für nichts wert auf dieser Welt. Was sie jetzt über ihre Familie geschrieben hat, ist ausgedacht und zusammen gelogen. Sie liest sich ihren Aufsatz durch, als hätte ihn jemand Anderes geschrieben: „Die Familie Connery ist in den Vereinigten Staaten von Amerika weit verbreitet und dementsprechend weit verstreut. In Salem, Massachusetts lebt eine dreiköpfige Familie mit diesem Namen, bestehend aus: Albert Connery, Buchhalter der Massachusetts Credits. Theresa Connery, Geburtsname unbestimmt. Sekretärin der Witch Heights Grundschule. Und Lilith Connery, der einzigen Tochter. Seit mehreren Generationen lebt die Familie in Salem, Massachusetts. Da jedoch sowohl Albert als auch Theresa Connery in Heimen und Pflegefamilien aufwuchsen, ist über jegliche weitere Verwandtschaft nichts bekannt.“ Lilith wirft den Aufsatz mitsamt Stammbaum in ihre lila Umhängetasche. Wenigstens sind es mehr als fünf Sätze geworden. Knapp eine halbe Seite. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)