Blutsbande von Cedar ================================================================================ Kapitel 2: Teil 1. Verschwörung. Verrat. Shōgi (1/2). ----------------------------------------------------- Teil 1. Verschwörung. Verrat. Shōgi (1/2).   VIII A warning to the people, the good and the evil This is war To the soldier, the civilian, the martyr, the victim This is war [This is War – 30 Seconds to Mars] Satoshi wunderte sich nicht darüber, Konoha still und verlassen vorzufinden. „Ich habe es gewusst“, wie er später sagen würde, wenn er von jenem Abend erzählte. „Ich habe gewusst, dass etwas im Gange war, etwas Großes. Da war dieses Gefühl... Diese, diese Gewissheit: sobald ich das Haupttor durchschritten hätte, würde ich feststellen, dass Konoha nicht mehr das Dorf war, in dem ich bis dahin gelebt hatte... Ich hab' diesen Gedanken ignoriert. Warum habe ich das? Es lag doch in der Luft...“ Was für Satoshis Zuhörer wie eine willkürliche Floskel klang, die man eben benutzt (Es lag in der Luft), war in Wirklichkeit wörtlich gemeint, ohne dass es Satoshi jemals bewusst geworden wäre. Es lag tatsächlich in der Luft. An einem gewöhnlichen Abend hingen Wolken köstlichster Gerüche in den Straßen von Konoha, die man bisweilen sogar im Wald jenseits seiner Mauern roch: der Duft von gebratenem Fisch, das bittersüße Aroma von frischem Sencha-Tee, der matte Hauch scharfer Essenzen aus erhitztem Sake... Nur Moleküle von Gerüchen, die der Verstand nicht mehr bewusst wahrnehmen oder gar benennen konnte, aber eben doch roch. Für Satoshis Unterbewusstsein waren sie untrennbar mit dem Gefühl von Heimkehr verbunden. An jenem Abend stellte es sich jedoch einfach nicht ein, dieses unbewusste Gefühl von Heimkehr. Irgendetwas stimmt nicht, hörte Satoshi sich stattdessen denken und konnte sich nicht erklären, wie er auf diesen Gedanken kam. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Sein Magen zog sich unangenehm zusammen und etwas in ihm (sein alarmiertes Unterbewusstsein) wies ihn an, schneller zu gehen. Sein Herz pumpte das Blut kräftiger durch seinen Körper. Jeder Pulsschlag vibrierte in seinen Fingerspitzen. Es lag in der Luft... Die Sonne war schon komplett im Westen verschwunden. Nur ein paar ihrer Strahlen brachen noch über die Kante des Horizonts und tauchten in der Ferne eine dünne Linie am Himmel in feuriges Orange. Im Osten schwoll unterdessen der grau-violette Schatten der Nacht an, näherte sich den strengen Felsgesichtern der Hokage wie eine stumme Drohung – düster, massiv und unausweichlich. So düster, massiv und unausweichlich wie der Schatten, der schon wer weiß wie lange im Herzen von Konoha keimte und kurz davor stand, in voller Pracht zu erblühen. Satoshi stand vor Konohas Haupttor. Wie ein gieriger Schlund kam ihm der Bogen mit seiner gigantischen Flügeltür heute vor und eine leise Stimme aus den Tiefen seines Verstandes riet ihm, keinen Schritt weiter zu gehen. Es liegt in der Luft. Es liegt in der Luft. Es liegt in der Luft. Ein leichter Wind kam auf, fegte durch das Tor und die verlassenen Straßen dahinter. Die bunten Stoffvorhänge vor den Eingängen der Bars und Tavernen schlugen dumpf gegen ihre Verankerung. Die Stromleitungen über den Gassen schwangen wie die Saiten eines Basses und der Wind pfiff wie eine verstimmte Flöte über die Dächer hinweg. Es war eine laue Brise, aber Satoshi fröstelte trotzdem. Unentschlossen blickte er sich nach allen Seiten um und nagte an seiner Unterlippe bis sie blutete. Wie ein schleimiger Pelz legte sich der Geschmack von Salz und Eisen auf seine Zunge. Irgendetwas stimmt nicht, dachte Satoshi ein zweites Mal und wusste beim Anblick der leeren Straßen jenseits des Haupttores jetzt auch ganz genau warum. Irgendwas stimmt ganz und gar nicht. Hinter seiner Stirn blitzte das Bild des verwundeten Uchiha auf; diesem Shiusi, dem ein Auge fehlte und dessen Kiefer sich schräg im Uhrzeigersinn neigte. Du denkst an Orochimaru, hörte Satoshi sich selbst sagen und er sah Natsume, der nickte. Konoha hat ein echtes Problem, wenn die Geheimnisse der Uchiha in die falschen Hände geraten. „Ach, verdammt!“, fluchte Satoshi und zerwühlte sich mit beiden Händen das kinnlange Haar. Es war beinahe eine Woche vergangen, seit er und Natsume zu ihrer Mission aufgebrochen waren. In dieser Zeit hätte alles Mögliche in Konoha passieren können! „Vielleicht hätten wir uns nicht aufteilen sollen“, murmelte Satoshi und ging zögerlich die letzten paar Schritte auf das Haupttor zu. „Aber wer denkt schon an so was, wenn er zu seinem Heimatdorf zurückkehrt?“ Für gewöhnlich besetzten um diese Tageszeit Hagane Kotetsu und Kamizuki Izumo den Wachposten am Haupttor. Dort, wo sonst Kotetsu saß, räkelte sich heute jedoch nur eine schwarze Katze mit giftgrünen Augen. Izumos Stuhl lag umgestoßen auf dem Boden. Satoshi runzelte die Stirn: wer immer hier zuletzt Wache gehalten hatte, schien den Posten eilig verlassen zu haben... Aber warum? Und wie lange war das her? Möglicherweise Tage. Unter dem Tisch des Wachpostens entdeckte Satoshi das Besucherregister - ein Buch mit rotem Ledereinband, in den mit einem heißen Stück Eisen das Emblem Konohas gebrannt worden war. Mit Datum und Uhrzeit trug die Wache hier jede dorffremde Person ein, die sie passieren ließ. Zum Beispiel die Bauern aus der Umgebung, wenn sie den Markt oder die Läden von Konoha belieferten, genauso wie Reisende und ganz besonders natürlich Ninja aus anderen Ländern. Das war Teil von Konohas Spionage-Abwehr: sobald der Verdacht der Infiltrierung bestand, musste nur dieses rote Buch aufgeschlagen werden, um eine vollständige Liste von Hauptverdächtigen zu haben. Satoshi bückte sich nach dem Register. Es lag mit den Seiten nach unten im Straßenstaub und war irgendwo in der Mitte aufgeschlagen. Auf der Innenseite des Buchrückens war ein schwarzes, fingerbreites Seidenband befestigt, das als Lesezeichen diente. Als Satoshi das Register aufhob, rutschte dieses schwarze Seidenband zwischen den Seiten heraus, sodass er hin und her blättern musste, um den jüngsten Eintrag zu finden. Laut diesem war das Buch heute Mittag um 12.43 Uhr zum letzten Mal benutzt worden: Watanabe Keiko, stand da, Lieferung für Yamanaka Inoichi (Schnittblumen). Darunter folgte ein Vermerk, der erklärte, dass eine Kopie des Lieferscheins in dem dafür vorgesehenen Ordner zu finden sei. „Hm“, machte Satoshi nachdenklich und tippte mit dem Zeigefinger auf die Spalte mit dem Datum und der Uhrzeit. Es musste jetzt kurz vor Neun sein. Also waren seit der Blumenlieferung für Yamanaka Inoichi etwa acht Stunden vergangen. Was war in dieser Zeit nur passiert?   IX They say that life's a carousel Spinning fast, you've got to ride it well The world is full of kings and queens Who blind your eyes and steal your dreams It's Heaven and Hell, oh well And they'll tell you black is really white The moon is just the sun at night [Heaven and Hell – Black Sabbath] Er stand in der Mitte des Konferenzraums – der große, rechteckige Eichentisch mit den abgerundeten Kanten. Alle paar Wochen kam der Hokage hier mit den Clan-Oberhäuptern und den Kommandanten der einzelnen Abteilungen zusammen. Das wusste Amaya von ihrem Vater, und obwohl sie noch nie dabei gewesen war, konnte sie alles ganz deutlich vor sich sehen: Sarutobi lächelt. Er steht am oberen Kopfteil des großen, rechteckigen Eichentisches mit den abgerundeten Kanten. Sein Gesicht spiegelt sich schemenhaft auf der blank polierten Platte wider, die von kleinen Kratzern durchzogen ist. In seiner linken Hand hält er eine braune Meerschaumpfeife. Von seinem Mund steigt ein graublaues Wölkchen auf. Es tränkt die Luft mit dem Geruch von rauchigem Karamell. ‚Nehmt Platz‘, sagt Sarutobi und deutet mit einer fließenden Handbewegung auf die leeren Stühle, die um den großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten verteilt stehen, bevor er seinen eigenen zurückzieht. Die hölzernen Stuhlbeine schaben über den dunkelgrünen Teppichboden. Nara Shikaku lässt sich gähnend auf den Platz zur linken Seite des Hokage nieder, stützt die Ellenbogen auf dem Tisch ab und lässt das Kinn in seine Handballen sinken. Ihm gegenüber sitzt Yamanaka Inoichi, der Akimichi Chōza mit einem Augenzwinkern ermahnt, sich bei den Süßigkeiten zurückzuhalten: „Denk' an deinen Cholesterinspiegel.“ Chōza greift beherzt noch tiefer in die knisternde Papiertüte und rülpst. Sarutobi legt derweil seine Pfeife zur Seite. Asche rieselt auf die blank polierte Tischplatte und den Stapel von braunen Aktenumschlägen, der für die Besprechung schon bereit liegt. „Gibt es noch einen Punkt, den wir auf die Tagesordnung setzen sollen, ehe wir anfangen?“, fragt er, während er den obersten Umschlag vom Aktenstapel nimmt und aufschlägt. Verhaltenes Murmeln rund um den Tisch. Dann Kopfschütteln. Tetsuka Jun, Amayas Vater, macht irgendeinen schlechten Witz, über den nur er selber lacht und Inuzuka Tsume aus Mitleid zumindest müde schmunzelt. So wie sie’s auch tut, wenn Jun morgens am Gartenzaun unkomische Witze reißt. Hyūga Hiashi bittet höflich um Professionalität und Aburame Shibi nickt zustimmend. Jun zieht entschuldigend die Schultern hoch, grinsend wie ein Akademieschüler, der gerade den Lehrer reingelegt hat. Tsume neben ihm kichert. Nur einer ist da und doch auch irgendwie nicht – Uchiha Fugaku. Er sitzt ganz am Rand des großen, rechteckigen Eichentisches mit den abgerundeten Kanten und starrt auf die haarfeinen Kratzer in dessen blank polierter Platte. Die Stühle links und rechts von ihm sind leer. Und sein Blick ist finster – oh ja, finster! Finster wie ein Erdloch auf einer bunten Blumenwiese, das man erst bemerkt, wenn man darin umgeknickt ist und sich den Knöchel gebrochen hat. Am Abend seines großen Coups saß Fugaku ganz allein an dem großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten. Er besetzte den Stuhl am Kopfende, der in Amayas Vorstellung dem Hokage allein vorbehalten war. Seine Worte hallten so laut in ihren Ohren wider, dass sie die empörten Proteste der anderen gar nicht hörte: „Es bedeutet, dass Konoha morgen früh entweder von den Uchiha angeführt wird, oder aber in Trümmern liegt.“ Vor Aufregung lief Amaya das Wasser im Mund zusammen. Schale, schleimige Taubheit legte sich auf ihre Zunge. Sie sah das Erdloch auf der bunten Blumenwiese einstürzen: es wuchs zu einem unüberwindbaren, bröckelnden Abgrund an. Er erinnerte sie an das Loch, durch das sie fallen musste, um aufzuwachen. Amaya konnte noch nicht recht verstehen, was geschehen war, während sie in dem Gen-Jutsu gefangen gewesen war oder wie das dazu geführt hatte, dass sie nun gefesselt zwischen Hyūga Hiashi und Nara Shikaku am Boden kniete – im Konferenzraum der Hokage-Residenz, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Ihr Gehirn musste sich erst akklimatisieren: Gen-Jutsu. Gefesselt. Konferenzraum der Hokage-Residenz - all das waren nur Fragmente eines Bildes. Wie ein Mosaik würde es erst erkennbar werden, wenn Amaya ein paar Schritte zurückgetreten war. Die Gedanken flossen zäh durch ihren Verstand, sodass sie wieder nur erahnte, was sie bald begreifen würde. Wir stehen am Abgrund. Und das war das, was sie alle dachten. Oder wie Hiashi es formulierte: „Eine Kriegserklärung, also.“ Falls er aufgeregt war, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Stimme klang so souverän, so alltäglich, als hätte er nur eine Bemerkung über das angenehme Wetter der letzten Tage gemacht. Fugaku winkte ab. „Ganz im Gegenteil. Ich würde es eher eine Friedensverhandlung nennen.“ Irgendjemand schnaubte verächtlich. Amaya wusste nicht wer, aber in ihrer Vorstellung war es Tsume. Ehe noch jemand etwas sagen konnte, flog plötzlich die Tür zum Konferenzraum der Hokage-Residenz auf und schlug so heftig gegen die Wand, dass der Putz bröckelte. Amaya wich im Sitzen zurück und drückte sich so unbewusst an die Seite von Hiashi, der sie mit dem linken Ellenbogen wieder abdrängte. „Reiß‘ dich zusammen“, raunte er ihr zu, doch Amaya hörte es gar nicht. Im Türrahmen stand Yamanaka Inoichi. Mit seiner linken Hand krallte er sich am glänzenden Türknauf fest, seine rechte presste er zur Faust geballt gegen seinen Mund. Blut tropfte von seinen Fingerknöcheln, weil seine Zähne ununterbrochen darüber schabten. Von ihrem Platz am Boden aus sah Amaya sein Gesicht nur von schräg unten, aber das reichte, um das heftige, angeekelte Grinsen hinter der blutigen Faust zu sehen: eine Maske des puren Entsetzens. „Ino“, nuschelte Inoichi gegen das Fleisch seiner Hand. Ton und Lippenbewegungen schienen dabei zeitversetzt zueinander. „Ino-chan.“ Seine Augen schimmerten trüb hinter halbgeschlossenen Lidern hervor. In ihren Außenwinkeln glänzten Tränen. „Ino!“, kreischte er plötzlich. Er kreischte wirklich! Und dieser Laut traf alle Anwesenden auf eine Weise, die nicht mal eine Metapher erfassen konnte. Mit hastigen Schritten stolperte Inoichi ins Zimmer, direkt auf den großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten zu und heulte dabei wie ein verängstigtes Kind. Er prallte gegen die Tischplatte, taumelte einen Schritt rückwärts und trat mit dem linken Fuß über die Linie des rechten. Seine Beine überkreuzten sich, er wankte und ruderte mit den Armen, um die Balance zu halten, stürzte aber letztlich doch. Bevor er auf dem Teppich aufschlug, knallte er mit der Stirn noch gegen die Kante von einem der leeren Stühle. Seine Haut platzte auf. Dunkelrotes Blut floss in seine rechte Braue und perlte von dort in das Auge darunter. Es zuckte reflexartig zusammen, blinzelte hektisch und tränte, um die roten Tropfen auszuwaschen. „Alles wird gut“, keuchte Inoichi und kroch ziellos auf allen Vieren durch das Zimmer. „Keine Angst, Kleine. Alles wird gut.“ Shikaku, Chōza und all die anderen Clan-Oberhäupter schlugen stumm die Augen nieder. Aus Respekt vor ihrem Kameraden, der sich seines würdelosen Anblicks sicher zu Tode geschämt hätte, wenn er bei Sinnen gewesen wäre. Ihn so zu sehen, war für alle Anwesenden erniedrigend. Nur Amaya wandte ihren Blick nicht ab, weshalb dieses Mal Shikaku ihr von der Seite mit seinem Ellenbogen leicht zwischen die Rippen stieß: „Sieh nicht hin.“ Amaya musste aber hinsehen. Denn der Anblick befreite ihren Geist von den letzten Fesseln der Benommenheit. Die unscharfen Linien des Mosaiks setzten sich zu einem klaren Bild zusammen. Sie machte den entscheidenden Schritt rückwärts und erkannte endlich, was den übrigen Versammelten schon klar war: genauso war sie auch hier aufgetaucht – kopflos wie ein geschlachtetes Huhn, das noch flügelschlagend durch die Gegend tippelte, nachdem das Beil seine Kehle schon durchtrennt hatte; mit betäubten Sinnen und Füßen, die blind einem ins Unterbewusstsein gepflanzten Befehl folgten: „Im Konferenzraum der Hokage-Residenz. Es ist wirklich dringend.“ Genauso waren sie alle hier aufgetaucht! Funkelnde Augen. Amaya schluckte. Ihr wurde ganz kalt. Die ganze Zeit über, ja? Unwillkürlich dachte sie an die beiden Uchiha, die bei ihr vor der Haustür gestanden hatten. An den glatzköpfigen Hünen konnte sie sich problemlos erinnern: die Kerbe in seiner linken Braue, dieser blutleere Schnitt; die dunklen Bartstoppeln seiner unsauberen Rasur; die Falten auf seiner Stirn... Doch sobald Amaya jedoch versuchte, das Gesicht seines Begleiters zu visualisieren, sah sie nur eine fauchende Klapperschlange mit funkelnden Sharingan-Augen, die wild mit ihrer Schwanzspitze rasselte und – „zzzzzzssss!zzzzzzzsssss!zzzzzssss!“ – grimmig züngelte. Da war es schon geschehen: als sie das erste Mal in diese funkelnden Augen gesehen hatte, hatte er sie in seinem Gen-Jutsu gefangen genommen. Amaya dämmerte allmählich, dass der leuchtende Geister-Samurai niemals wirklich existiert hatte. Und zum ersten Mal, seit sie aus dem Gen-Jutsu erwacht war, ließ sie den Blick auf ihre Beine sinken. Sie steckten in einem Paar olivgrüner Shorts, gänzlich unversehrt. Da war nichts: kein verkrustetes Blut, keine Kieselsteine, keine Glasscherben, keine Hautfetzen. Darum hat es nicht wehgetan... Darum hat kein Ninja geholfen, als die Leute im Matsch ertranken... Als ihr das erst mal klar wurde, wusste sie auch, dass hinter den Jalousien, die den Blick durch die Fenster auf das Dorf verbargen, kein einziges Gebäude Schaden genommen hatte. Es gab keine Verletzten. Niemand war gestorben. Amaya hätte sich erleichtert fühlen müssen, aber tatsächlich hatte diese Erkenntnis etwas unglaubliche Lähmendes. Ihre Glieder wurden schwer. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und nie wieder aufgemacht. Ich bin gefangen. Intensiver denn je spürte sie die Macht dieser drei Worte. Inoichi ist gefangen. Wir sind gefangen. Nur am Rande ihrer Wahrnehmung registrierte sie, wie sich zwei Gestalten von der Wand lösten. Sie waren Amaya bisher nicht aufgefallen, obwohl sie dort schon die ganze Zeit über stumm und starr auf den Wink ihres Anführers gewartet hatten. Stumm und starr. Wie Mahnmale. Amaya kannte sogar die Namen der beiden Männer, wie sie in trüben Gedanken feststellte – Tekka und Inabi. Aber sie wusste nicht mehr, bei welcher Gelegenheit sie sie kennengelernt hatte. Vielleicht weiß ich’s noch von damals, von Shisui… Vielleicht hat er uns bekannt gemacht… Aber eigentlich war es ja auch egal. Unter ihren Chu-Nin-Westen trugen Tekka und Inabi langärmlige, dunkelblaue T-Shirts, die am Oberarm mit dem Wappen der Konoha Keimu Butai versehen waren: das Uchiha-Emblem mit einem vierstrahligen Stern als Grund. Vier. Amaya dachte beiläufig an die alternative Lesform des Zahlenworts yon, nämlich shi. Tod. Tekka packte den kriechenden Inoichi am Kragen und zog ihn mit einem kräftigen Ruck zurück auf die Beine. Der ließ es mit sich machen wie eine willenlose Puppe: als Tekka ihm die Arme hinter den Rücken zog, blieben sie von selbst dort, sodass der Strick, der um seine Handgelenke festgezurrt wurde, eigentlich überflüssig war. Inabi biss sich unterdessen die Daumenkuppe seiner linken Hand blutig. Mit der rechten drückte er Inoichis Kopf zur Seite, sodass der den Nacken neigte. Amaya sah, wie Inabi mit seinem Blut das Kanji Shibire 痺 auf Inoichis Haut knapp unterhalb von dessen Ohr zeichnete und einkreiste. Lähmung? Was hat er vor? Inabi formte nacheinander die Fingerzeichen Eber, Ratte und Schaf, bevor er seine Hand flach auf das eingekreiste Kanji drückte. Amaya glaubte, ein leises Knistern zu hören und zwischen Inabis Fingern ein helles, bläuliches Flackern zu sehen. Als er seine Hand wieder von Inoichis Hals nahm, hatten sich die Linien schwarz gefärbt. Amaya stöhnte auf: Natürlich – ein Siegel. Vermutlich verursachte es eine temporäre Blockade des Chakra-Flusses und machte die Verwendung von Jutsu unmöglich; was erklärte, warum sämtliche Clan-Oberhäupter von Konoha überhaupt gefesselt am Boden kauerten. Inabi hatte das Siegel mit ziemlicher Sicherheit jedem von ihnen verpasst, als sie wie kopflose Hühner ins Zimmer gestolpert waren. Währenddessen, meine Damen und Herren, stellte Tetsuka Amaya fest, dass sie nicht einmal versucht hatte, das Jutsu der Entfesslung anzuwenden, dachte Amaya bitter und biss sich auf die Unterlippe. Nachdem Tekka die Fesseln um Inoichis Hände noch mal geprüft hatte, schoben die beiden Uchiha ihn in die Reihe der anderen Clan-Anführer und drückten ihn an seinen Schultern zu Boden. Inoichis Beine gaben einfach nach und mit einem hohlen, gedämpften Aufprall schlugen seine Knie auf dem dunkelgrünen Teppich auf. Klebriger Speichel triefte von seinen brabbelnden Lippen. „Soll ich, Taichō?“, fragte Tekka. Fugaku nickte. „Er war der letzte. Nur zu.“ Tekka legte seine rechte Hand auf Inoichis Haar. „Aufwachen, Prinzessin.“ Das Trübe schwand aus Inoichis Augen und er erwachte so jäh, dass er aufschrie, als die Illusion in sich zusammenfiel. Wahrscheinlich war er auch durch jenen triefenden, schwarzen Tunnel mit den bröckelnden Wänden gefallen. Amaya schauderte bei der Erinnerung an diesen Sturz. Anders als sie und die anderen bekam Inoichi jedoch keine Chance, sich von dem harten Bruch zwischen Illusion und Realität zu erholen: „Da die Versammlung nun vollzählig ist“, sagte Fugaku feierlich, „erkläre ich die Friedensverhandlungen zwischen dem Uchiha-Clan und Konoha offiziell für eröffnet.“ „Friedensverhandlungen!“ Chōza kotzte dieses Wort förmlich vor Fugakus Füße. „Das wird Konsequenzen haben!“, knurrte Tsume. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass der Hokage dir das einfach durchgehen lässt, oder? Er wird dich aufhalten!“ Fugaku zog die Augenbrauen nach oben und grinste: „Wenn Sarutobi mich hätte aufhalten können, wären wir jetzt nicht hier.“ Unter dem großen, rechteckigen Eichentisch mit den abgerundeten Kanten stand ein Papierkorb. Fugaku wuchtete ihn mit beiden Händen empor. „Ich will euch zu Beginn etwas zeigen“, sagte er. Amaya fragte sich noch, warum ein Sack über die Öffnung des Korbs gestülpt war…   XI Dead scared - 'cause I'm fearless in the head Bang, bang - 'cause the needle's in the red My, my - I can't lie I need a shot again - that sweet adrenaline  [Adrenaline - Shinedown] Nacheinander zog Fugaku sie an den Haaren aus dem Papierkorb und ordnete sie in einem Dreieck auf dem Tisch an. Wie Büsten ohne Oberkörperanschnitt klebten die Köpfe von Sarutobi Hiruzen, Utatane Koharu und Mitokado Homura mit ihren zerfetzten Halsansätzen auf dem Holz. Halb geronnenes Blut breitete sich schwerfällig um sie herum aus, perlte in unregelmäßigen Abständen über die Tischkante und auf den Boden. Es waren nur vereinzelte Tropfen, denn die Gefäße der durchgetrennten Kehlen waren schon beinahe ausgeblutet. Mitokado Homuras Gesicht trug noch den Ausdruck, mit dem er gestorben war: sein Mund stand offen, verzerrt von einem Schrei, der schon lange verklungen war. Das Gaumenzäpfchen glänzte in seinem Rachen und in den weit aufgerissenen Augen waren die Äderchen geplatzt. Blut füllte seine Augäpfel aus: das Weiße darin funkelte rosa. Der Dutt von Utatane Koharu hing schepp über ihrem linken Ohr. Die perlenbesetzte Haarnadel hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und pendelte nun an einer verknoteten Strähne ihres grauen Haares vor ihrem Gesicht hin und her. Wie roher Teig zog sich die käsig weiße Haut ihrer Wangen nach unten in die Länge, sodass ihre Mundwinkel beinahe neben ihrem Kinn baumelten. Ein Kragen aus verkrustetem Blut legte sich um den faltigen Hals der alten Dame. Er hatte die Farbe von trübem Purpur. Der Schädel von Sarutobi Hiruzen war zur Hälfte zerschmettert, die Rundung seines Hinterkopfes eingedrückt. An den blutigen Bruchrändern des Knochens klebten Hautfetzen, Haare und getrocknete Brocken einer eitrigen, gelben Flüssigkeit. Ein Stück der Schädeldecke war herausgebrochen, sodass knapp über seinem Ohr ein etwa fünf Zentimeter großes Loch prangte. Mit ein bisschen Fantasie erinnerte dessen Form an die Umrisse eines Schmetterlings. Es war wie ein Fenster in den Kopf des (ehemaligen) Hokage: wenn man hindurch sah, sah man Sarutobis weißlich graues Gehirn. Knochensplitter steckten in den geschwollenen Windungen. Seine Augen waren nur zu Hälfte geschlossen und starrten blind auf die versammelten Clan-Oberhäupter nieder. Unter ihnen sein Sohn. Beim Anblick des abgetrennten Hiruzen-Kopfes verzog Asuma die Lippen zu einem heftigen, angeekelten Grinsen ( - eine Maske des puren Entsetzens). Es ähnelte jenem, mit dem Inoichi in den Konferenzraum gestürmt war. Herzlichen Glückwunsch, Asuma, dachte Fugaku. Du hast deinen Vater nun offiziell als Anführer eures Clans beerbt. Tsume war die erste, die nach Minuten ihre Stimme wiederfand. „Arschloch“, zischte sie und bleckte die Zähne. „Du verdammtes Arschloch!“ Mit einem raschen Ruck zog sie die Knie an den Oberkörper, stellte die Fußsohlen flach auf den Boden und stemmte ihren Rücken gegen die Wand, um sich an ihr empor zu schieben. Fugakus Finger zuckten leicht – ein unauffälliger Wink, auf den Inabi sofort reagierte: in seinen schwarzen Augen flammte das Sharingan auf und binnen dem Bruchteil einer Sekunde schlossen seine Händen wieder das Fingerzeichen Schaf. Die schwarzen Linien des Shibire-Siegels auf Tsumes Hals leuchteten weiß auf. Kleine blaue Funken zuckten über ihre Haut. Wie von unsichtbaren Fäden in die Höhe gezogen hoben sich ihre Haare einzeln von ihrem Kopf ab und knisterten. Atemlos schrie Tsume auf und sackte zurück auf den Boden. Unter ihrer Haut versteiften sich die Muskeln ihres Körpers. Nur an ihrem Kiefer kroch ein kleines Zittern entlang, das kurz darauf ihr komplettes Gesicht flimmern ließ: Tsumes Augen flatterten, ihre Nasenflügel bebten und hinter den halbgeöffneten, vibrierenden Lippen krampfte ihre Zunge, sodass sie würgende Bibberlaute von sich gab: „bbb-bbrbb-bbbrbb-bbbrbbb.“ Nach etwa vier Sekunden löste Inabi das Fingerzeichen wieder. Das Sharingan in seinen Augen und das Siegel auf Tsumes Hals erloschen. Trotzdem zitterte ihr Gesicht noch ein paar Sekunden nach, bevor die Muskeln in ihrem Rumpf, dem Rücken und den Gliedmaßen erschlafften. Mit einem leisen Seufzen sank sie in sich zusammen. Ihr Körper neigte sich nach links und nur Chōzas massiger, weicher Leib hielt sie davon ab, umzukippen. Ihr Kopf sank auf seine Schulter. „Die ersten beiden Male haben wohl noch nicht gereicht“, kommentierte Fugaku. „Das scheint dir ja echt Spaß zu machen. Was glaubst du, wie viele Schocks hältst du noch aus, bevor dein Herz versagt? Um die Käfer in Shibis Körper zu töten, haben zwei gereicht...“ „Wi'gs-!“, stieß Tsume mit tauber Zunge aus und rümpfte die Nase, als sie hörte, wie schlaff der Laut klang, der aus ihrem Mund quoll. „Nur zu“, frohlockte Fugaku. „Gib Laut!“ Tsume schnaubte. Ihr Nasenrücken schlug eine waagrechte Falte, als sie drohend die Lippen zurückzog, um dem Uchiha ihre Zähne ein zweites Mal zu präsentieren. „Wi-“, setzte sie wieder an. „Wi-k-ksss-s...er.“ Fugakus Mundwinkel zuckten leicht nach oben. „So ist's fein“, sagte er. „Braves Mädchen.“ Aus Tsumes Augen schlug ihm ungetrübter, heißer Hass entgegen. Fugaku konnte förmlich hören, was hinter ihrer Stirn vor sich ging: Ich werd' dir die Haut abziehen. Schicht um Schicht, mit bloßen Händen. Und dann verfüttere ich sie an Kuromaru! Fugaku presste die Lippen zusammen, um dem irrsinnigen Drang lauthals loszulachen zu widerstehen. Tsumes hasserfüllter Blick war einfach köstlich! Denn er drückte die ganze Machtlosigkeit aus, die sie alle umtrieb. Das war alles, was sie ihm antun konnten: ihn hasserfüllt anstarren! Er tötete den Hokage samt des Ältesten Rats und die Anführer von Konohas Clans konnten nichts weiter tun als ihn hasserfüllt anzustarren! Kami, so debil heiter wie jetzt hatte Fugaku sich zuvor nur ein einziges Mal in seinem Leben gefühlt: als er im letzten Krieg verwundet ins Lazarett gebracht worden war und irgendein ahnungsloser Sanitäter ihm mehr Morphin als nötig in die Venen gespritzt hatte. Und diesmal sogar ganz ohne schräge Halluzinationen. Dabei wusste er ganz genau, dass er keine Heiterkeit empfand. Nicht wirklich. Er glaubte es nur. In Wirklichkeit hatte er Angst – schreckliche Angst, die sein Verstand nur ertragen konnte, indem er einen Cocktail aus Adrenalin, Endorphinen, Dopamin und Serotonin durch seinen Körper pumpte, um dem Gehirn einen Freudentaumel vorzugaukeln. Ich habe Angst, und auf eine merkwürdige Art und Weise war das ein befreiender Gedanke. Das unterdrückte Lachen schmerzte sein Zwerchfell und trieb ihm die Tränen in die Augen. Seine Schultern bebten. „Na, Hauptsache du hast Spaß.“ Kaum waren Shikakus Worte verklungen, hallte ein leises Rülpsen durch den Konferenzraum. Das Mädchen mit dem violetten Pferdeschwanz, von dem Fugaku nur wusste, dass es Amaya hieß und Tetsuka Juns Tochter war, hielt es nicht mehr aus: sie drehte das kreidebleiche Gesicht zur Seite und erbrach sich auf Hiashis Schoß. Als die ausgeblichenen, roten Brocken mit den deutlich erkennbaren Kernen auf seinen Oberschenkel plätscherten, entglitt dem Hyūga die bis dahin erstaunlich gefasste Miene: er sah aus wie hypnotisiertes Kaninchen. Da konnte Fugaku nicht mehr. Er brach in schallendes Gelächter aus: „Jetzt hab' ich tatsächlich Spaß!“ Eine frische Woge der debilen Heiterkeit umspülte Fugakus Gehirn. Er konnte kaum noch klar denken. Dass es schlimm werden würde, hatte er gewusst. Er hatte gewusst, dass es ihm schwer fallen würde, die Fassung zu wahren. Er hatte gewusst, dass es ihm alles abverlangen würde, bis zum Ende durchzuhalten. Doch auf diese debile Heiterkeit war er nicht vorbereitet gewesen. Bisher läuft alles nach Plan, beschwor er sich deshalb selbst. Ich hab' alles im Griff. Dann dachte er versehentlich an Mikoto. An Sasuke. Und ganz kurz sogar an Itachi... Einen Augenblick lang war Fugaku dem wahren Ausmaß seiner betäubten Angst ganz nahe; spürte, wie sie sein Herz mit kalten Fingern umgriff und zudrückte. Fugaku hielt die Luft an und wartete auf die nächste Welle debiler Heiterkeit, die die grapschenden Finger von seinem Herz wusch. Sie brach - Nur nicht den Kopf verlieren, haha – und Fugaku musste wieder kichern. Er sah Shikaku direkt in die Augen: Du ahnst es noch nicht, oder? Du bist der Schlüssel. Von dir hängt alles ab... Und als ob Shikaku gehört hätte, was Fugaku dachte, sagte er: „Glaubst du das reicht? Du beseitigst einfach den Hokage, den Dorfrat und uns, und schon fürchten die Shinobi Konohas dich genug, um dir willig zu folgen? Du bist dir deiner Sache zu sicher: Konohas Ninja werden kämpfen - mit oder ohne Hokage; egal, ob wir am Leben sind oder nicht. Ist dir klar, wie sehr deine wahnwitzige Aktion das Dorf destabilisiert? Möglicherweise genug, um die gesamte Ninja-Welt in den Abgrund zu reißen. Du riskierst hier einen Bürgerkrieg! Ein gewonnenes Spiel ist teuflisch –so lautet eine Shōgi-Weisheit. “ Fugakus Kichern erstarb: „Du musst eine noch geringere Meinung von mir haben als ich dachte, wenn du mich für so einfältig hältst.“ „Na dann, nur zu!“, forderte Shikaku grimmig. „Erleuchte uns!“ Wieder schlossen sich die kalten Finger der Angst um Fugakus Herz. Die dämpfende Woge der debilen Heiterkeit schwemmte wie zuvor über sie hinweg, doch diesmal hielten die Finger fest und quetschten sein Herz zusammen. Fugaku spürte ein Stechen in seiner Brust und versteckte seine zitternden Hände unter dem Tisch – die Mischung aus Angst und debiler Heiterkeit waren pures Gift für seinen Verstand. Aber Fugaku zwang sich zur Selbstbeherrschung. So gut er konnte. „Ich habe auch eine Shōgi-Weisheit für dich, Shikaku“, sagte er und der irrsinnige Drang zu lachen wuchs wieder. Er hoffte, dass niemand das Zittern in seiner Stimme hörte „Ein Angriff mit vier Figuren kann nicht schiefgehen... Hast du jemals darüber nachgedacht, wie mächtig Glaube ist?“ „Wovon sprichst du?“ „Kōdō-kihan.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)