the world outside von Futuhiro (Magister Magicae 9) ================================================================================ Kapitel 9: Intuition -------------------- „Eine Leiche ist tot, dies ist eine unbestreitbare Tatsache.“, las Safall vor. „Sie wird nicht aus dem Nichts wieder lebendig. Damit etwas Totes wieder lebendig wird, muss man von irgendwo anders Leben herholen. Ein anderes Wesen mit vergleichbarer Lebensenergie muss sein Leben lassen, damit eine Leiche wieder leben kann. Dies ist aus magischer Sicht eine klassische Form des Tausches.“ Salome legte nachdenklich den Kopf schief und nahm ihm das Buch dann weg, um sich den Deckel und den Inhalt anzusehen. „Schon möglich.“, fand er. „Das lernt man wohl im Necromantie-Kurs, schätze ich. Zombie-Kunde habe ich nicht belegt. Der Kurs ist zwar irre interessant, aber schweineteuer.“ „Ja. Manchmal ist es schon unpraktisch, daß man jeden Kurs einzeln bezahlen muss. Da muss man sich dreimal überlegen, was man wirklich braucht und was nicht.“ Salome gab ihm das Buch unglücklich zurück. „Das hilft uns nicht weiter.“ „Meinst du nicht? Wohlmöglich hat zwar keiner versucht, Sewill direkt zu töten, um eine Leichenpuppe wieder lebendig werden zu lassen. Aber vielleicht hat er ja sowas ähnliches als vorbeugende Maßnahme versucht. Also Sewills Lebenskraft zu klauen, um seinen eigenen Tod, oder den von irgendjemand anderem, zu verhindern oder hinauszuschieben. Das muss ja kein Fluch gewesen sein, wie wir erst gedacht haben, sondern vielleicht eine Art hiervon.“ Safall hielt das Buch mit dem Titel 'Grundverständnis der Necromantie' nochmal vielsagend hoch, bevor er wieder darin zu blättern begann. „Wäre aber ne sehr untypische Form der Necromantie. Necromanten interessieren sich für nichts, das noch lebt. Die versuchen im Normalfall, schon tote Körper wieder lebendig zu machen. Und weil sie die Seele des Toten aus dem Jenseits nicht zurückholen können, bleibt der Körper eine zwar lebende, aber leere Hülle. Ein Zombie. Und das war´s dann auch schon. Zu mehr ist die Necromantie weder gedacht, noch in der Lage. Das, was du hier als Theorie in den Raum stellst, wäre mir neu.“ Safall zog eine enttäuschte Schnute und blätterte trotzdem noch ein wenig in dem Buch herum, fand aber tatsächlich nichts mehr, was seiner Idee auch nur nahe käme. Allerdings war es ja auch nur ein Grundlagenbuch, redete er sich trotzig ein. „Eigentlich ist es erstaunlich, daß Necromantie kein eigener Studiengang ist, sondern bloß als ausbildungs-begleitender Kurs angeboten wird.“, stellte er fest. Das hier sah ihm nach richtig komplexer Materie aus, wenn er die Texte so überflog. „Eigentlich ist es erstaunlich, daß man Necromantie überhaupt studieren darf!“, hielt Salome vehement dagegen. „In den meisten Ländern der Welt ist Necromantie verboten! Und das, was man hier bei uns im Kurs lernt, ist auch nichts als Theorie. Ich glaube, das krasseste, was die hier versuchen, ist, tote Fliegen wieder zum Leben zu erwecken. Und selbst dafür müssen sie seitenweise Erklärungen und eidesstattliche Versicherungen unterschreiben, daß sie dieses Wissen unter keinen Umständen jemals an größeren Lebewesen anwenden und sich stets an die Gesetze ihrer jeweiligen Länder halten werden, in denen sie dann mal tätig sind. Necromantie wird nur noch um der Traditionen Willen unterrichtet, damit das Wissen nicht verloren geht. Zur aktiven Anwendung ist es heute definitiv nicht mehr gedacht.“ „Es ist zum Verzweifeln.“, stöhnte Safall und schob das Buch von sich. Warum bekam er einfach nicht raus, was mit seiner Schwester nicht stimmte? Was für eine exotische oder abwegige Art von Magie war das, der man nicht auf die Schliche kam? Ob er sich mal im Bereich afrikanischer Magie umschauen sollte? Bei Voodoo-Kulten und sowas in der Art? Leider würde er da hier kaum fündig werden. In diese Richtung konnte man auf der Zutoro nicht studieren, daher hielt die Bibliothek auch keine entsprechende Literatur vor. Und im Internet kursierte dazu nur Grütze. „Na komm, lass uns aufhören. Die Band ruft. Wir werden die ganzen Semesterferien nicht zum Proben kommen, weil keiner von uns da ist. Also will ich den letzten Tag heute nochmal vernünftig nutzen.“ Safall stand an seinen Boxen, betriebsbereit, und wartete auf den Rest seiner Band. Sie waren eine vierköpfige Truppe, nur eine einzige Gitarre. Entsprechend viel hatte er zu leisten. Gab es in einer Band zwei Gitarren, übernahm eine den Rhythmus und eine den Lead und die Solos. Das war ... naja, auch nicht unbedingt einfacher, weil es dann noch ein Bandmitglied mehr gab, das in den gemeinsamen Takt mit hineinfinden und synchron gehen musste. Aber es wäre für jeden der beiden Gitarristen nur halb soviel Arbeit gewesen. So musste Safall beide Felder irgendwie alleine abdecken, beziehungsweise den Rhythmus-Part teilweise an den Bassisten abkommandieren. Salome, der mit seinem Mikrophon nicht viel an Sound-Check zu tun hatte, vertrieb sich die Zeit damit, sich einzusingen. Für einen Menschen sang er wirklich gut. Sein Genius Intimus, ein etwas muffeliger Kizune-Junge, saß während der Proben immer am Rand und wartete einfach, daß es möglichst bald ein Ende hatte. Aber Salome sah nicht ein, sich sein Hobby vermiesen zu lassen. Also musste der Fuchsgeist wohl oder übel damit leben, auch wenn er die Musik nicht mochte. Im Gegenzug saß Salome auch zweimal die Woche im Sportclub und schaute ihm beim Fußballtraining zu. Ihr Drummer war, wie Safall, ein ungebundener Schutzgeist ohne Schützling, und als Greif eher von der harmlosen Sorte, auch wenn er im Bedarfsfall immer eine unpassende Bemerkung auf Lager hatte. Aber er liebte es, große Show zu machen. Er ließ hinter dem Schlagzeug gern mal seine mächtigen Schwingen erscheinen, um zu posen. Und er sah nicht ein, daß der Studentenkeller dafür eigentlich nicht genug Platz bot. Genauso wenig wie er einsah, daß auch Drums ab und an mal gestimmt werden sollten. Die Bassistin, das einzige Mädchen in dieser gemischten Band, war eine Genia Intima und auch ihr Schützling saß, gemeinsam mit Salomes Fuchsgeist, standardmäßig im Probenraum herum und mimte das Publikum. Im Gegensatz zu Salomes Fuchsgeist war er allerdings ein riesiger Fan dieser Art von Musik und jubelte und feierte immer fleißig mit. Manchmal war es schon ein wenig lästig, nie ungestört proben zu können, aber das ließ sich halt nicht vermeiden, wenn man mit gebundenen Schutzgeistern zu tun hatte. Das Mädchen jedenfalls war jetzt nicht direkt talentfrei, aber etwas mehr Übung hätte ihr sicher nicht geschadet. Sie war eher der Theoretiker. Sie wusste eine Menge, konnte auf ihrem Bass aber bei weitem nicht alles selber umsetzen. Im Moment diskutierte sie mit dem Schlagzeuger über irgendwelche 'Synkopen' in einem 'geshuffelten Rhythmus' und brachte ihn damit mal wieder zur Verzweiflung. Er wollte so spielen, wie es ihm gerade in den Kram passte. Aber sie nörgelte ihm vor, daß sie als Bassistin auf sein Timing angewiesen sei und sich dann mit dem Bass nicht mehr vernünftig anpassen könne, und hielt ihm aufsässig und sauer das Notenblatt vor die Nase, um ihm Schwarz auf Weiß zu beweisen, daß er es anders spielen musste. Salome hielt sich wie immer fein raus. Also blieb es irgendwann wieder an Safall hängen, den Streit zu unterbinden und die beiden endlich zum Spielen anzuhalten. Als sie bereits 2 Stunden geprobt hatten, schlug Safall plötzlich etwas auf den Magen. Ihm wurde ohne Grund und Ankündigung schlagartig schlecht und er fühlte sich schwummrig. Nach Luft ringend setzte er sich erstmal auf seinen Gitarrenverstärker, weil ihm alle anderen Sitzgelegenheiten so unendlich weit weg vorkamen. Die Bassistin brach erschrocken ihr Spiel ab. Salome und der Drummer brauchten einen Moment länger, bis sie merkten, daß im Klangbild Instrumente fehlten, und sich umsahen. „Was´n los?“, wollte Salome besorgt wissen. Er überlegte fieberhaft, was das war. „Irgendwas ist mit Sewill.“, entschied er dann und zerrte mit einer Hand sein Handy aus der Hosentasche, mit der anderen stellte er die Gitarre zur Seite. „Entschuldigt mich mal kurz.“ Bei seiner Schwester rief er erfolglos an. Also versuchte er es als nächstes bei Hedda. „Hi, was gibt´s?“, meldete sich seine Nebengetreue arglos. Sie schien bester Laune, gar nicht als wäre irgendwas vorgefallen. „Hedda, ist mit Sewill alles okay?“ „Weiß nicht!? Ich denke schon. Ich bin gerade in meinem Zimmer und sie in ihrem.“ „Gehst du bitte mal nachsehen?“ „Kann ich machen.“, stimmte sie zu. Safall hörte über das Telefon leise eine Decke rascheln. Sie hatte wohl gerade auf dem Bett gelegen. Schritte. Ein leises Klopfen. Keine Antwort. Ein 'Sewill? Alles gut bei dir?'. Hedda ging in das Zimmer, obwohl keine Antwort kam. Oder gerade WEIL keine Antwort kam. „Hm, sie schläft wohl.“, urteilte Hedda leise, um Safall am anderen Ende der Leitung auf dem Laufenden zu halten. „Sewill? ... Sewill! ... Sewill!!!!!! ... Ich krieg sie nicht wach! Safall, sie wacht nicht auf!“, berichtete sie weiter, jetzt hörbar verängstigter. Safall konnte beinahe hören, wie Hedda seine Schwester zu schütteln und wachzurütteln versuchte. Ihm rutschte schon wieder das Herz in den Magen. „Sie atmet! Aber sie wacht einfach nicht auf! Sie muss bewusstlos sein, oder sowas!“ „Fass sie nicht an, Hedda! Zieh bloß deine Handschuhe nicht aus!“, trug Safall ihr nervös auf, aus Angst, sie könnte versuchen, Sewills Pulsschlag zu kontrollieren. Nicht auszudenken, was passierte, wenn Hedda versehentlich mit einer ohnmächtigen Person den Körper tauschte. So weit hatten sie die Experimente mit ihrem 'verfluchten Fluch' dann auch wieder nicht ausgereizt, um die Folgen solcher Aktionen abschätzen zu können. „Bleib wo du bist! Ich bin sofort bei euch!“ „Das klingt gefährlich.“, warf Salome von der Seite ein, als Safall auflegte. „Ich glaub, die Proben sind für heute zu Ende.“, gab Safall zurück. „Ich muss weg. Bitte nicht böse sein!“ „Brauchst du Hilfe?“ Safall schüttelte den Kopf. „Ich melde mich später nochmal bei dir.“, versprach er. Fahrig raffte er seine Sachen zusammen. „Schaltest du bitte meinen Verstärker noch aus, wenn er dann abgekühlt ist?“ Und schon war er wie der Wind auf und davon. Salome schaute unschlüssig auf die Box. Er wusste, daß Röhrenverstärker erst ein wenig im Standby bleiben mussten, damit sie sich wieder erdeten. Sonst entlud sich beim Ausschalten der aufgespeicherte Strom schlagartig und machte den Verstärker mitunter kaputt. Aber Salome hatte sich noch nie um die Boxen der anderen gekümmert. Er musste erstmal schauen, wie die überhaupt aufgebaut waren und funktionierten. Als Safall nur Minuten später fuchtig in seine Studentenbude hereinplatze, fühlte er sich bereits besser. Seiner Schwester musste es also schon wieder besser gehen, das wusste er praktisch bevor er dort ankam. Hedda schaute auf und lächelte Safall beruhigend an. „Hey. Sie ist inzwischen wieder zu sich gekommen. Alles gut.“, begrüßte sie ihn. Sie stand von der Bettkante auf, um ihm Platz zu machen. „Gott sei Dank.“, seufzte er nur und nahm im Hinsetzen Sewills Hand. Das weiße Mädchen lächelte dünn, förmlich entschuldigend. „Ich wollte euch keine Sorgen bereiten. ... So schlimm ist es wirklich noch nie gewesen, daß ich weggekippt wäre. Meine Kräfte schwinden zusehens.“ „Uns wird was einfallen. Wir finden schon noch einen Weg, diesen Fluch von dir zu lösen. Oder was auch immer das sein mag.“, versprach Safall ihr. Sie nickte zuversichtlich. Sie wusste, daß ihr Bruder alles in seiner Macht stehende unternahm. Untätigkeit konnte sie ihm wirklich nicht vorwerfen. „Hedda, ich werde ab jetzt nicht mehr den Körper mit dir tauschen. Es hat mir zwar Spaß gemacht, in deinem Körper wieder etwas aktiver sein zu können, aber so gern ich auch draußen in der Stadt rumlaufen würde, es wird inzwischen einfach zu gefährlich. Ich will dich nicht dem Risiko aussetzen, daß du an meiner Stelle ins Koma fällst oder schlimmeres. Wer weiß, ob du dann noch zurück kannst.“ „Woher hattest du eigentlich die Ahnung, daß mit Sewill irgendwas nicht stimmt? Hattest du während der Bandproben eine Vision?“, wollte Hedda von Safall wissen. Sie fand das beachtlich. Sie selbst war nur nebenan gewesen und hatte nichts mitbekommen. „Ich hatte keine Vision. Das war Instinkt. Eine so intensive Verbindung finde ich selber ziemlich creepy. Ich hatte ja schon immer eine gewisse, intuitive Verbandelung mit meiner Zwillingsschwester, aber so heftig war es dann doch noch nie gewesen. Okay, so schlecht war es ihr auch vorher noch nie gegangen.“ „Aber komisch, daß eure Talente so unterschiedlich gelagert sind, wenn ihr doch mental schon halb miteinander verschmolzen seid. Du bekommst deine Visionen vorrangig im Schlaf und siehst eher die Vergangenheit. Sewill bekommt ihre Visionen mehr im Wachzustand und sieht eher die Zukunft.“ Safall lächelte. Jetzt konnte er ja wieder lächeln. Der Schreckmoment war vorüber, seine Schwester war wieder okay. „Wir zwei sind Gegensätze. Alles an uns ist so ziemlich das Gegenstück zum jeweils anderen. Das ist schon immer so gewesen. Wir ergänzen uns wie Ying und Yang, beim Aussehen angefangen. Keine Ahnung, woher das kommt. Unser Vater nannte es 'Schicksal' und meinte, für irgendwas würde es schon gut sein.“ „Bei uns Selkies kommt es schon gelegentlich mal vor, daß Geschwister im Geiste miteinander verbunden sind und immer wissen, wie es dem anderen gerade geht. Aber diese Gegensätzlichkeit ist wohl nicht gerade typisch.“, ergänzte Sewill. „Im Gegensatz zu Sewill neige ich auch zu offenen Visionen.“, warf Safall noch in die Runde und freute sich über Heddas dummes Gesicht. Wieder etwas, das sie nicht wusste. Manchmal machte es ihm regelrecht Spaß, sie damit aufzuziehen. „Es gibt offene Visionen, wo du richtig siehst, was passiert ist oder passieren wird, wo du die Gesichter der Beteiligten erkennst und ihre Dialoge wortgetreu hörst. Und dann gibt es verschlüsselte Visionen, die mit Symbolen arbeiten, die es zu deuten gilt. Meine Zwischenprüfung in Traumdeutung am Ende des 1. Semesters war da ein echter Hammer. Mal sehen, ob ich das Ding noch irgendwo finde. Das fand ich so geil, das hab ich mir aufgehoben ...“ Safall stand auf, kam herüber und begann in seiner Schreibtischschublade herumzukramen und Papiere zu durchwühlen. Schließlich hielt er Hedda stolz das Gesuchte hin: Ein Reiter in kupferner Rüstung jagt durch die Nacht gen Süden. Seine Macht ist groß. Er reitet einen gewaltigen, schwarzen Hengst. Die Mähne und der Schweif des Hengstes sind schlagendes, loderndes Feuer, die wie Kometenschweife hinter ihm herziehen. Das Pferd hat zwei gewaltige Widderhörner, und auf seiner Stirn prangt ein Schutzschild mit scharfkantiger Klinge zum Angriff. Der Reiter trägt ein Banner vor sich her, das im Wind weht. Darauf ist eine Fackel die angesteckt wurde, und das Feuer wird zu einem heulenden Wolfskopf. Ein faustgroßer Elf mit langen roten Haaren und grünem Anzug begleitet den Kupferritter fliegend. Der Ritter trägt das Schwert des Friedens. Zu dem Reiter gesellt sich ein weiterer. Dieser reitet ein stämmiges, weißes Pferd, muskelschwer und kraftvoll gebaut. Die Panzerung des Pferdes ist aus Eis, blitzblank poliert und voller scharfer Grate, und ein frostiger Schneesturm folgt ihm wo immer es geht. Seine Wege werden zu Reif. Auf seinem Helm trägt der Reiter das Wappen der Zeit. Und darüber das Zeichen „Ewigkeit”. Die zwei Reiter hetzen durch eine Schlucht, und da ist Geheul in den Schatten. Die gierigen Bluthunde der Königin heulen die Hymne der Trauer. Bis sie die vergeisterte Stadt erreichen, wo all die mächtigen Königreiche dieser Welt begraben liegen, die Gegend um Mitternacht. Ihre Zeit ist knapp. Vierundzwanzig Stunden Dunkelheit, die diabolische Mitternachtsstunde, mehr bleibt Ihnen nicht. Der kupferne Ritter auf seinem schwarzen Feuerhengst ruft die Schatten ins Leben zurück, die das Mondlicht verblendet hatte. Jene, die ohne Tränen weinen. Jene, die ohne Flügel fliegen. Jene, die ohne Berührung fühlen. Gebeine, in Schellen für die es keine Schlüssel mehr gibt, raffen sich auf und gehen umher. „Ich bin der Eine, der erwählte Sohn unter euren Söhnen! Jede Kunst durchlebt schwere Zeiten. Doch die Schlacht ist die höchste Kunst, sie wird überdauern! Werdet ihr kämpfen, zehntausend, Seite an Seite, für unseren heiligen Krieg?”, ruft der kupferne Reiter. Seine Stimme donnert über die Stadt und wogt durch die Mengen. Immer mehr Geister erheben sich und rufen mit lauter Stimme „Ja, wir werden!” „Folgt unserem Kreuzzug! Die Heere marschieren wieder! Folgt dem Schlachtruf voller Stolz! Singt die Hymne des Sieges, sie wird uns führen!”, fährt der Reiter fort. Sein Wort wiegelt die Seelen der gefallenen Kämpfer auf. Sie sammeln sich. Aus den Ruinen vergangener Schlachten heraus drängen sie. Hundert Helden folgen ihm, ihr Schlachtruf erfüllt die Bergkuppen. Tausend willige Männer. Der kupferne Reiter, und jener auf dem frostigen Ross, führen sie hinaus. „Mein Schwert steht dir zur Seite!”, ist der Ruf jedes einzelnen. Die Erde brennt. Und der Krieg der Giganten verwüstet ihr Antlitz in einer einzigen feurigen Nacht. Licht und Dunkel vergehen in den entfesselten Elementen. Mitten unter ihnen, der Ritter und sein rastloses Schwert. Das Schwert des Friedens. Es bringt die Ruhe. Friedhofsruhe. Er geht durch die Reihen der Krieger, er geht den hoffnungslosen Weg, und wo immer das Schwert ihn begleitet, beenden die Mächte ihr verbissenes Ringen und legen sich zur Ruhe. Was bleibt, ist der Staub und das eilende Licht. Der Vollmond bricht durch die Wolken. Das schwarze Pferd verschwindet wie ein Geist, der mit dem Wind geht. Das weiße Pferd wird zu einem Skelett, und versinkt tosend in den sich auftuenden Gesteinen. Die Hölle hat es wieder. In der Zeit der aufgehenden Sonne, wenn die Schatten noch lang und die Herzen noch sündenfrei sind, richtet sich plötzlich ein neuer Tag gewaltig vor ihm auf. Die Uhr tut den ersten Schritt. Die diabolische Mitternachtsstunde, die vierundzwanzig Stunden Dunkelheit, sind um. Die Armee und ihr Schlachtruf vergehen in der allesvernichtenden Sonne. Die Reiter stehen an einem aufgewühlten See. Das Wasser peitscht, die Gischt schlägt gegen die Felsen, daß Funken sprühen. Alles was der kupferne Reiter sagt, ist: „Nun scheide ich.” Die Fluten türmen sich auf und steigen aus ihrem ozeanischen Becken heraus. Wie eine grausame, lebende Masse wirft sich die See auf die Reiter und verschlingt sie beide. Das Banner des Feuers und das Wappen der Zeit trägt der faustgroße Elf mit den langen braunen Haaren hinfort. „Wie krass.“, urteilte Hedda, nachdem sie fertig gelesen hatte. Selbst wenn sie nur die Hälfte der symbolträchtigen Elemente überhaupt erkennen mochte, war sie erschlagen von der schieren Masse. „Das Ding ist ja furchtbar. Erstmal erfährt man das Ergebnis der Schlacht gar nicht. Man weiß ja nichtmal, wer gewonnen hat, selbst wenn man rausbekommen sollte, für wen die Heere stehen. Und dann widerspricht sich der Text auch an einigen Stellen selber. Hier ist mal von hundert, mal von tausend und mal von zehntausenden die Rede. Und erst von einem Elf mit roten und dann von einem Elf mit braunen Haaren.“ „Nein, das ist kein Widerspruch, das sind nur unterschiedlich gewichtete Augenmerke auf bestimmte Gruppierungen innerhalb des einen Heeres. Und die sich ändernde Haarfarbe hat auch eine Symbolik. ... Um so ein Ding deuten zu können, musst du als allererstes mal wissen, aus welchem Kulturkreis derjenige stammt, der diese Vision hatte. Der Klassiker unter den deutbaren Symbolen ist der Drache. In Asien bringt ein Drache Glück und Segen. In Mitteleuropa war der Drache ein bösartiger Zerstörer, der von heldenhaften Rittern getötet werden musste. In Asien hat der Drache eine völlig andere Symbolik als in Europa.“ „Oder das Wasser.“, mischte Sewill sich vom Bett aus lächelnd ein. „Wenn Asiaten dem Wasser lebensspendende und segensreiche Kräfte zuschreiben, dann meinen sie damit seichte, langsame, geruhsame Bäche, an deren Ufern alles in Ruhe und Frieden wachsen kann. Europäer denken da eher an gigantische, machtvolle Wasserfälle, weil die die 'Kraft der Natur' verdeutlichen. Für Asiaten haben Wasserfälle eher was zerstörerisches, was sich in keinster Weise mehr bändigen lässt.“ „Zahlen sind auch so ne super Sache. In Japan ist die Zahl 4 downright evil, vergleichbar bei uns mit der 13. Wir Europäer verbinden mit der 4 dagegen nicht sonderlich viel. Höchstens vielleicht eine gewisse Ganzheitlichkeit, wie 4 Jahreszeiten, die ein Jahr voll machen, oder 4 Farben, die ein Kartenspiel bilden, oder die 4 Elemente, Feuer, Wasser, Erde und Luft, die einen Kreislauf und eine Einheit darstellen.“, erzählte Safall und nahm ihr den Prüfungstext wieder weg. Er verzichtete darauf, Hedda unter die Nase zu reiben, daß er diese Prüfung damals mit 1,1 als zweitbester bestanden hatte. Und er hoffte, daß Hedda ihn jetzt nicht nach der Bedeutung dieser Vision fragte. Sie hatte dermaßen wenig Ahnung von der Materie, daß er ihr abendfüllende Vorträge hätte halten müssen, damit sie auch nur die wesentlichsten Grundzüge davon verstand. „Wenn das schon eine Prüfung im 1. Studienjahr ist, wie sehen dann erst die Prüfungen im 2. und 3. Jahr aus?“, wollte Hedda beeindruckt wissen. „Zum Abschluss des 2. Jahres wird erwartet, daß man solche Visionen gezielt selber heraufbeschwören und in einer Weise sichten kann, daß man hinterher in der Lage ist, sie vollständig, lückenlos und korrekt wiederzugeben. Das Kriterium 'Vollständigkeit' ist das schwierigste. Bei erzwungenen Visionen, die man förmlich auf Befehl heraufbeschwören muss, verpasst man oft den Anfang oder verliert mittendrin die Verbindung und fällt in die Realität zurück, bevor man das Ende gesehen hat.“ „Und wie wollen die das nachprüfen? Du könntest dir doch was zusammenfantasieren. Die wissen doch nicht, was du gesehen hast oder hättest sehen sollen.“ „Oh, glaub mir, das können die!“, schmunzelte Safall überzeugt. Hedda lachte plötzlich über einen Gedanken, der ihr kam. „Kann man als Hellseher eigentlich die Prüfungsaufgaben vorhersehen? Das fänd ich ja mal richtig geil, wenn man schon vorher wüsste, was drankommt.“ „Keine Sorge, die Prüfungsaufgaben sind so ausgelegt, daß einem alles Vorhersehen nichts nützt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)