365 von karlach ================================================================================ Kapitel 1: Ein Jahr mit Dir --------------------------- Januar. Shoyo; 08:05 am: ich glaube, wenn es noch viel kälter wird, fallen mir irgendwann beim tippen die finger ab!!!!!!!!!!! kenma; 08:06 am: Hast du keine Handschuhe? Shoyo; 08:06 am: schon, aber mit denen schreiben ist schwer???? kenma; 08:07 am: Ich bin nicht beleidigt, wenn du länger zum Antworten brauchst oder so. Shoyo; 08:07 am: ich WILL aber schnell antworten!!!!!!!!!!! Shoyo; 08:08 am: ich antworte gerne auf deine nachrichten!!!!!! „Du machst wieder das Gesicht.“ Kuroo klang sehr zufrieden mit sich selbst. Kenma war versucht, missmutig seine Nase tiefer in seinen Schal zu vergraben. „Das ist mein Gesicht. Ich weiss nicht, was daran besonders ist“, gab er platt zurück und drückte demonstrativ den Knopf für die Tastensperre. Sein bester Freund feixte. „Ganz wie du meinst.“ Der Zug war um die Tageszeit vollgestopft und die Jacke, die Kenma über seiner Uniform trug, zu warm. Er fühlte sich trotz der frühen Tageszeit bereits verschwitzt und ekelhaft. Es war schwer, sich Shoyo vorzustellen, der den ersten Bus am Morgen nahm, um rechtzeitig fürs Training anwesend sein zu können. Karasunos Quotensonnenschein hatte vor einer Weile sehr aufgeregt vom ersten Schnee berichtet, der in der Region gefallen war. Shoyo; 04:29 pm: aber jetzt kann ich nicht mehr mit dem rad in die schule, mama würde sich sonst sorgen machen! Dann war ein Foto gekommen, ein älteres, traditionelles Haus vor einem Wald, in weiss gepackt. Im Vorgarten war ein Schneemann gestanden, etwas windschief und mit einem auffälligen roten Schal ausgestattet. Auch wenn Shoyo nicht schon zuvor Bilder von seinem Zuhause geschickt hätte, Kenma war von Anfang an klar gewesen, wer in diesem Haus wohnte. Shoyo; 04:31 pm: dafür sieht es hier jetzt total schön aus!!! Shoyo; 04:31 pm: in echt ist's noch schöner, das foto stinkt dagegen ziemlich ab!! kenma; 04:42 pm: Ich mag es. Shoyo hatte ihm gleich noch ein Foto geschickt. Und noch eines. Bis der Handyverlauf sich ein Bisschen wie Winter in den Bergen der Präfektur Miyagi angefühlt hatte. April. Die Gänge fühlten sich seltsam leer an, so ohne Kuroo. Kenma war immer noch mulmig zumute, wenn ihn jemand mit „Kozume-senpai“ ansprach und seine Augen suchten immer nach Kai, Yaku oder seinem besten Freund. Manchmal lachte einer seiner Klassenkameraden fast genau gleich wie der ehemalige Vizekapitän der Volleyballmannschaft und wenn er morgens müde die Bahn nahm, glaubte er manchmal, einen zerzausten Schopf dunkles Haar in der Ferne zu erspähen. Was Schwachsinn war, klar. Tetsuro hatte die Aufnahmeprüfung für die Waseda-Universität bestanden, sein Weg zur Schule war nun ein völlig anderer. Es war am ersten Tag etwas überwältigend gewesen, alleine die Bahn nehmen zu müssen. Kenma hatte öffentliche Verkehrsmittel nie wirklich gemocht – zu voll, zu laut, zu geschäftig – aber er konnte schlecht zur Schule laufen. Die erste Woche über hatte er sich die Bahnfahrt damit vertrieben, stur auf sein Handy zu schauen und Shoyo zu schreiben. Der schien auch traurig darüber, dass die Drittklässler der Karasuno High nun ihre getrennten Wege gegangen waren. Manchmal berichtete er von Asahi, der anscheinend ein Zwischenjahr einlegte und im Laden von Coach Ukais Familie jobbte bis er wusste, was er tun wollte. Shoyo und Nishinoya schienen ihn regelmässig zu besuchen, ob nun genau seinetwegen oder um der Nikuman Willen wusste Kenma nicht so genau. Wahrscheinlich beides. Shoyo; 06:15 pm: ich wüsste aber jetzt auch noch nicht so recht was machen????? Shoyo; 06:15 pm: ich meine, ich bin nicht wie yacchan, bei der wir alle wissen, dass sie sicher gut genug ist, um in tokyo grafik zu studieren oder so. kenma; 06:19 pm: Musst du ja auch noch nicht. Shoyo; 06:22 pm: weisst du, was du nachher mal machen willst, kenma? kenma; 06:23 pm: Vielleicht. Shoyo; 06:23 pm: waah, gemein, so geheimnistuerisch!!! kenma; 06:25 pm: Ich weiss nicht, ob ich das wirklich machen kann. Das ist alles. Shoyo; 06:26 pm: was meinst du mit „das“??????? Bei „das“ handelte es sich um das Game Design-Studium, dessen Infotag Kenma erst kürzlich besucht hatte. Es war ein bisschen eine spontane Sache gewesen; er war eigentlich mit Kai unterwegs gewesen, der sich für den Fachbereich Architektur an der polytechnischen Uni von Tokyo interessiert hatte. Als sie zufälligerweise an der Veranstaltung für Game Design und Animation vorbeigekommen waren, hatte sich Kai dazu bereiterklärt, mit ihm einen Blick in die Angelegenheit zu werfen (alleine mit Fremden ohne ein Rettungsseil, darauf hatte Kenma keine Lust gehabt). Danach war er ehrlich beeindruckt gewesen. Ganz ehrlich, das Studium klang zeitintensiv und arbeitsaufwändig und das war natürlich eher suboptimal, aber was ihm alles an Lerninhalten verkauft worden waren, hatte das eigene Recherchieren und an Games herumprobieren natürlich vollkommen überstiegen. Kenma wusste gerne, wie die Dinge, die er tat und mochte, funktionierten und zum ersten Mal in einer langen Zeit hatte er etwas gefunden, das sich nicht nur wie Pflichtenerfüllung angefühlt hatte. Allerdings war da die große Variabel seiner Großeltern, die sein Studium finanzierten. Kenmas Familie war wohlhabend genug um sich einen komfortablen Lebensstil leisten zu können, aber studieren konnte trotzdem schnell aufs Geld gehen. Seine Familie mütterlicherseits war traditionell und alteingesessen und hatte sich früh dazu bereit erklärt, die Gebühren für seine Universität zu übernehmen, wenn er denn etwas studieren würde, das sie für bodenständig genug erachteten. Kenma, der mit seiner menschenscheuen Art ohnehin bei Familienfeiern oft auf Missbilligung traf, würde sich um ein kugelsicheres Studium bemühen müssen. Game Design erfüllte die Qualifikation nicht. Aber Shoyo die ganze Sache zu erklären, hatte sich in dem Moment zu kräftezehrend angefühlt. Er wusste, kurz über lang würde sein Freund am anderen Ende der Leitung verstehen, was das Problem war, aber heute war ihm nicht danach. kenma; 06:34 pm: Geheimnis. kenma; 06:34 pm: Vorerst. Juni. Shoyo; 02:06 pm: geht mir nur grad nicht gut. mein körper fühlt sich so ekelhaft an, ich mag mich gar nicht recht berühren, egal wie. Shoyo; 02:06 pm: hahaha so doof. ich hab beim training voll geschwitzt, ich muss duschen. kenma; 02:13 pm: Kann ich dir irgendwie helfen? Shoyo; 02:14 pm: nee. Shoyo; 02:14 pm: sorry. ist gerade ein bisschen schwer, nicht so selbstmitleidig zu sein. aber es geht mir sicher gleich besser!! Shoyo; 02:16 pm: mach dir keine sorgen, kenma!!!! „Es geht mich nichts an.“ Kenmas Stimme zitterte, seine Handflächen ziepten dort, wo sich seine Fingernägel in das Fleisch gruben. Tief atmen, hörte er die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf. Tief atmen. Dein Kopf braucht Sauerstoff um zu funktionieren. Tetsuro saß unschlüssig auf der Kante des Sofas, die Augen fest auf seinen besten Freund gerichtet, der wie ein gefangenes Tier vor dem Fernseher hin und her lief. „Ihr seid Freunde.“ „Manche Dinge fragt man als Freund nicht.“ Für einen Augenblick füllte sich das Wohnzimmer wieder mit der seltsam kalten Stille. Tetsuro fühlte sich etwas hilflos. Über die letzten fünfzehn Jahre hatte er gelernt, wie er das verletzte Biest in Kenmas Herzen zu besänftigen hatte, und dann kam Hinata Shoyo daher und warf alles über den Haufen. Er nahm es dem sonnigen Jungen nicht übel; das letzte Jahr über hatte Kenma zum ersten Mal seit langem unbewusst stärker daran gearbeitet, die Grenzen seiner Komfortzone zu dehnen und zu überschreiten. Aber die vergangenen zwei Monate machten ihm nur allzu sehr bewusst, dass sich sein bester Freund in seiner Abwesenheit zu einem Menschen entwickelt hatte, den er wieder neu kennenlernen musste. Viele Dinge waren gleich; die grässliche Bequemlichkeit, seine panische Angst vor dem Telefonieren, sein Humor, seine Liebe für Videospiele. Nur hatte Kenma irgendwo auf dem Weg zwischen dort und hier gelernt, etwas sicherer auf seinen zwei Beinen zu stehen und Tetsuro wusste nicht, wie viel er tun sollte – tun durfte – ohne dass er diesen Fortschritt gefährdete. „Dreimal achthundertzwölf.“ „Zweitausendvierhundertsechsunddreißig. Ich kann ihn nicht nach so etwas Persönlichem fragen.“ Tetsuro seufzte. „Wenn Bokutos Körper schuld daran wäre, dass es ihm schlecht geht, denke ich schon, dass es mich etwas angehen würde.“ Kenma hielt in seiner Bewegung inne, als würde er den Gedanken genauer analysieren müssen. „Achtmal zweitausendeinhunderteinundneunzig.“ Die Antwort kam dieses Mal nicht sofort. „Shoyo fragt auch nie nach meinem… Zeug.“ Seine Hände spielten mit der Sperrtaste seines Handys. „Und siebzehntausendfünfhundertachtundzwanzig. Das ist die Lösung.“ Sie hatten sich dieses System ausgedacht, als sie im Kindergarten herausgefunden hatten, dass Kopfrechnen Kenma von seinen Panikattacken ablenkte. Jeder andere würde ihr Gespräch spätestens jetzt bizarr finden, aber für Tetsuro gehörte es dazu, Rechenaufgaben zu stellen, sobald er merkte, dass der Jüngere ins Hyperventilieren abzudriften drohte. „Hinata fragt dich nicht nach deinem Zeug, weil du ihm zu verstehen gegeben hast, dass dir dabei nicht wohl ist. Aber hast du nicht erzählt, dass er relativ offen zu dir war, was die Sache anbelangt?“ „Ich will helfen, Kuro.“ Kenmas Stimme war dünn, er umging eine Antwort. Tetsuro machte ihn nicht darauf aufmerksam. „Aber ich weiss nicht wie.“ „Wann würde es dich denn was angehen?“ „Weiss nicht.“ „Nicht trotzig werden, Kenma.“ „Ich bin nicht trotzig–“ „Zwölfmal dreihundertneunzehn. Und bist du doch.“ Kenma überlegte. Tetsuro sah ihm den Moment an der Nasenspitze an, in dem er eine Antwort hatte. „Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Los, spuck's aus. Ohne zu werten.“ Seine Augen trafen auf ein honigbraunes Paar, irritiert und verängstigt. Er lächelte aufmunternd. „Es ist doof.“ „Sag's trotzdem laut.“ „Du weisst, was ich sagen werde“, warf Kenma ihm vor, seine Stimme eine Vierteloktave höher. „Aber du musst es sagen, sonst zählt es nicht.“ „Wenn ich sein fester Freund wäre, dann hätte ich Anspruch auf so Zeug. Weil… wenn ich ihn anfassen will… ich muss ja wissen…“ Er brachte keinen ganzen Satz über die Lippen, aber es war mehr als genug, um Tetsuro die Gewissheit zu geben, die er brauchte. „Würdest du das wollen? Sein fester Freund sein?“ Dieses Mal war die Stille laut, laut vor all den Gedanken, die sichtbar über Kenmas Gesicht huschten. Laut vor der Antwort, die sie beide kannten. In der Wohnung nebenan knallte eine Tür zu. „Ja.“ Tetsuro erhob sich mit einem müden Ächzen vom Sofa und überbrückte den Abstand zwischen ihm und seinem besten Freund, um ihm liebevoll das Haar zu zerstrubbeln. Kenma rümpfte die Nase, wehrte sich aber nicht. „Dann solltest du das irgendwann ansprechen. Damit du das nächste Mal, wenn es Hinata schlecht geht, auch weisst, wie du ihm helfen kannst.“ „Du bist dumm. Du weisst gar nicht, ob er das auch will.“ „Stimmt. Aber ich weiss, dass das Würstchen sich freuen wird, wenn er hört, dass du ihm helfen willst. Und dann weisst du eben doch, was du tun kannst.“ Als Kenma antwortete, war seine Stimme patzig, aber Tetsuro wusste, dass sein Ratschlag in Betracht gezogen wurde. „…Dreitausendachthundertachtundzwanzig.“ Tetsuro lachte. Juli. Wenn Shoyo das Shirt hochzog um sich das verschwitzte Gesicht abzuwischen, konnte man den Sport-BH sehen. Kenma fühlte sich unanständig. Dabei rannten auch Tanaka und Tora oben ohne durch die Halle und während es da schlichtweg etwas war, bei dem er nicht das Bedürfnis danach hatte, es zu sehen, war da kein Scham- oder Schuldgefühl dabei. Doof. Dabei war Shoyo nie weniger Junge als er selbst gewesen. „Kenma, alles okay?“ Das Shirt war wieder am angestammten Platz und Shoyo drei Schritte näher, etwas nach vorne gebeugt, um dem älteren Jungen besser ins Gesicht sehen zu können. Seine Augen sahen in dem exakten Lichteinfall etwas wie Bernstein aus, oder wie in flüssige Form kondensiertes Sonnenlicht. Kenma fühlte, wie seine Ohren warm wurden – wärmer als sie ohnehin schon waren. Sein Nicken war steif, Shoyo wohl nicht überzeugt von der Geste. „Wenn dir nicht wohl ist, musst du Bescheid sagen, ja? Wir können auch eine kurze Pause machen.“ Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber die meisten Jungs waren mittlerweile los um zu duschen. Das offizielle Training war seit einer Viertelstunde vorüber, aber Karasunos Sonnenschein hatte Kenma schon so oft die Woche über darum gebeten, einige Pässe für ihn zu spielen, mittlerweile fehlte dem Älteren die Ausdauer, um nein zu sagen und sich mit dem nagenden Gefühl auseinanderzusetzen, das ihn immer dann überkam, wenn er Shoyo enttäuscht sah. „Nur fünf Pässe“, hatte er gewarnt, die Stimme demotiviert. Das Lächeln, das er dafür geerntet hatte, war so hell wie eine Million Watt gewesen. „Ist es nicht unangenehm?“ Fragte er stattdessen. Er wusste nicht, wie er es eleganter anstellen konnte. Ein Sport-BH war da, um Halt zu geben; es musste einschränkend sein. Bei der Hitze konnte Kenma nicht verstehen, wie der Jüngere nicht schon längst ausgebrannt war. „Hm? Oh, du meinst das hier?“ Shoyo hob sein Shirt wieder und Kenma streckte automatisch die Hände aus, um den Stoff zurück über seinen Bauch zu schieben. „Du musst dich nicht ausziehen.“ Verlegenes Lachen, ein nervöses Seufzen. „Ups, sorry.“ „Entschuldige dich nicht.“ Kenma fühlte sich hilflos. Was war die Etikette für so einen Moment überhaupt? War er unhöflich mit seiner Frage gewesen? Hatte er Shoyo verärgert oder beleidigt oder traurig gemacht? Nervosität schnürte ihm die Luft ab. Wie dumm du doch bist, Kenma. Wenn Shoyo unglücklich darüber wäre, wüsstest du es, flüsterte sein Verstand. Er konnte das übelkeiterregende Herzrasen trotzdem nicht ausschalten. „Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst.“ „Ich hab nicht viel… dort. Du weisst schon.“ Noch mehr nervöses Lachen, dieses Mal sah Hinata weg. Kenma biss sich auf die Zunge. „Shoyo, es ist echt okay. Ich wollte nicht–“ „Ne. Also, es ist nicht schlimm. Ich bin es nur nicht gewohnt, darüber zu sprechen. Ist halt, wenn man als Junge über Brüste spricht, glauben alle gleich so, man sei ein Perversling.“ Dieses Mal musste der Blonde schmunzeln und verdrehte die Augen. „Ich denk das nicht von dir.“ „Danke. Das ist lieb.“ · · · „Ich kann Kozume-san jederzeit das Leben zur Hölle machen.“ Tsukishima kamen die Worte so natürlich und nonchalant über die Lippen, es war beinahe furchteinflössend. Das stille 'du musst nur etwas sagen' schwang dabei mit. Shoyo wusste, dass es seine Art war, Sorge zu zeigen. Die beiden jungen Männer waren nach dem Abendessen mit dem Abwasch beauftragt worden und neben dem Rauschen der Lüftung und dem Klappern des Geschirrs war es in der Küche angenehm still. „Du bist dumm, Tsukishima! So was macht Kenma nicht.“ Die Aussage hat ein abfälliges Schnauben zur Folge. „Du bist hier dumm. Deine Leutseligkeit wird dich irgendwann in Schwierigkeiten bringen.“ „Aber nicht mit Kenma.“ Shoyo antwortete selbstsicher, ohne übermässige Hast. Er sah Tsukishima nicht an, als er fortfuhr. „Kenma versteht vielleicht nicht alles, aber er gibt sich Mühe.“ „Na, ich will mal sehen, wie er mit dir umgeht, wenn du Krämpfe hast.“ „Bestimmt besser als du, dummer Tsukishima!“ Tsukishima fluchte, als ihn ein Schwall lauwarmes Seifenwasser traf. „Du Kindskopf! Das ist ekelhaft!“ Sein Freund lachte unbeschwert und so beschloss er, seinen Worten für den Augenblick Glauben zu schenken. · · · Kenma wartete bis zum vorletzten Tag. Natürlich tat er das, schliesslich fühlte sich nichts wirklich dringend an, wenn man nicht davor bis zum Anschlag alles aufschob. Mit was er gerechnet hatte, wusste er auch nicht so recht, aber im Zweifelsfall hieß es immer: die Ansprüche herunterschrauben. Kuro hatte ihm ein halbes Dutzend lachende Emoji geschickt, als er ihm von seinem Vorhaben berichtet hatte – er war nervös gewesen und so oder so, früher oder später würde sein bester Freund von der Sache erfahren – und es war nicht ermutigend gewesen. Und er wusste, dass es psychologisch sein musste, aber es schien schwerer als sonst, einen Moment alleine mit Shoyo zu erwischen. Wenn es nicht Kageyama war, der sich lautstark mit ihm über Volleyball unterhielt, war es wer Anderes auf der ewig langen Liste der Menschen, die Hinata Shoyos Sonnenschein so hungrig wie Kenma selbst aufzusaugen schienen. Unerwartet Hilfe bekam er erst gegen Abend, zwischen nach dem Abendessen und der obligatorischen Trainingssession der Jungs der Turnhalle Drei. Er wusste nicht so recht, was Tsukishima sich davon erwartete, aber was auch immer er Shoyo sagte, Kenma konnte es aus seiner sicheren Entfernung nicht hören und es zeigte augenblicklich Wirkung. Es machte den Moment nur noch nervenaufreibender. „Hey, Kenma! Tsukishima meinte, du suchst mich?“ Es war schwer, so zu tun, als ob das alles geplant gewesen wäre. Alles, was die arme, überrumpelte Seele zustande brachte war ein zögerliches Nicken und ein Wink, damit Shoyo ihm aus dem Speisesaal folgte. Eigentlich sollte er jetzt über Gleichungen nachdenken, kopfrechnen, aber Kenmas Kopf fühlte sich wie mit Watte ausgestopft an. Er hatte einen groben Leitfaden an Worten, den er sich zurechtgelegt hatte und er wusste bereits jetzt, dass er am Ende höchstens nur einen Satz funktionsfähig zusammenbauen können würde. Statt nach Lösungen für einfache Rechnungen zu suchen, produzierte sein Hirn ein Schreckensszenario nach dem Anderen. Jede Faser in ihm war auf eine Abfuhr eingestellt und es war ein beängstigendes Gefühl, das ihm die Luft abschnürte. Dabei wusste er genau, dass alle Sorgen der Welt nichts brachten. Und dass er wahrscheinlich viel zu melodramatisch an die Sache heranging. Kam davon, wenn man nur Massenmedien als Ausgangspunkt für Interaktion mit seinem Schwarm hatte. „Ah, endlich ist es etwas kühler!“ Das Schöne an Shoyo war, dass er sprechen konnte, ohne wirklich Antwort von ihm zu erwarten. Kenmas Anwesenheit schien immer gut genug zu sein, egal was war. Nur war es plötzlich schwer, einen passenden Moment dafür zu finden, seine wenigen gefassten Worte dazwischen zu schmuggeln. Irgendeine Ausrede ließ sich immer finden, meist war es das klassische 'das kann ich doch nicht unbeantwortet lassen'. Sie machten am Ende Halt bei einer kleinen Gruppe Bäume in einer Ecke des Pausenhofs. Wenn Kuro das Team zum gemeinsamen Mittagessen ermutigt hatte, waren sie meistens hier gelandet. Vielleicht hatte Kenma deshalb den Ort so zielsicher angepeilt. „Stimmt“, gab er lasch zurück und widerstand dem Drang, seine Hände in die Seiten seiner Hose zu stopfen. Er hatte sein Handy dabei, aber er war fest entschlossen, es nicht zur Hand zu nehmen, egal wie nervös er auch sein mochte. Nur fühlte er sich ganz ohne Anker für seine rastlosen Finger, die sich aktuell damit beschäftigten, an seinem Handgelenk zu kratzen, ausgeliefert. Einatmen. Ausatmen. Es wird dich nur noch mehr beschäftigen, wenn du jetzt einen Rückzieher machst. „Denkst du, morgen–“ „Ich mag dich, Shoyo.“ Eigentlich hatte er immer gedacht, falls er je in einer Situation wie dieser sein würde, wäre Shoyo der, der ihm sagen würde, dass er ihn mochte. Es war einfacher und schmerzloser, es war bequemer. Und nun war Kenma schlecht, sein Magen ein nervöser Knoten von Panik und Eingeweide. Sein Gegenüber schien vollkommen aus dem Konzept gebracht, ein bisschen so, als hätte er nicht recht gehört, was er gesagt hatte. Dann, dreimal hintereinander, blinzelte Shoyo. „Kenma?“ „Ich werd's nicht nochmals sagen, bevor du fragst.“ Eilig wandte der Ältere den Kopf ab, in der Hoffnung, dass seine brennenden Wangen im schwindenden Licht nicht ganz so gut sichtbar waren wie sie sich anfühlten. Als jedoch nach drei qualvollen Herzschlägen noch keine wirkliche Reaktion kam, sah er wieder auf. Was ihn erwartete, war Shoyos krebsrotes Gesicht und das wahrscheinlich ungläubigste Lächeln auf der Welt. „Echt? Mit allem Drum und Dran? Mit dem lauten Schreien und auch wenn ich dich ständig bitte, mir zuzuspielen wenn du eigentlich zocken willst?“ Kenma kam nicht dazu, etwas zu erwidern, Shoyo fuhr unbeirrt fort. „Auch wenn ich dir morgens viel zu früh auf Line schreibe und dir ständig dumme Fotos schenke?“ Er schnappte kurz nach Luft, die Pause beinahe so, als würde er sich an etwas erinnern. „Auch wenn mein Körper nicht stimmt?“ Kenma verdrehte die Augen und griff zögerlich nach Shoyos Händen. Auch wenn sie beinahe gleich gross waren, die seines Freundes waren schwieliger, dunkler, kleiner, seine Handflächen waren klamm. Und auch wenn es ein klitzekleines bisschen eklig war, fühlte es sich beruhigend richtig an. „Auch dann. Und sowieso ist nichts an deinem Körper falsch.“ Shoyo quäkte, die Spitzen seiner Ohren so rot, dass sie zu glühen schienen. · · · Auch wenn Shoyo beteuerte, dass er sich nicht merken musste, was an seinem Körper ihn verunsicherte, Kenma speicherte alles sorgsam ab. Und dann genoss er es, dass Shoyo sein Gesicht in der Dunkelheit des nächtlichen Pausenhofs mit Küsschen bedeckte. August. Eine Fernbeziehung war schwerer als erwartet. Kenma machte sich keine Gedanken über Dinge wie Treue, er vertraute Shoyo. Aber manchmal war es schwer abzuschätzen, ob sie etwas an ihrer Umgangsart miteinander ändern mussten, wo sie doch streng genommen jetzt zusammen waren. Im Nachhinein war es wohl selten albern, aber es gab Tage, an denen Kenma gut zehn Minuten auf Shoyos neuste Nachricht starrte, sich unsicher, wie er darauf antworten sollte. „Mach einfach“, hatte Kuro mit einem lockeren Grinsen vorgeschlagen, als sie sich das letzte Mal auf ein schnelles Glas von Mama Kozumes Eistee getroffen hatten. „Ich schreib Tsukki jeden möglichen Quark.“ „Ich weiss. Er hat während des Trainingscamps was davon gesagt.“ Kenmas platter Tonfall hatte gut vermittelt, wie ermutigend die Reaktion von Kuros Freund gewesen war. „Ach, das wird! Nur weil ihr jetzt zusammen zusammen seid, heisst das ja nicht, dass ihr euch jetzt plötzlich mit Schatzipuh oder Hasenschnute oder was auch immer ansprechen müsst.“ Kenma hatte sich fest vorgenommen, Kuro nicht mehr ganz so oft nach Beziehungstipps zu fragen. Sein bester Freund war ein guter Mensch und nicht alles, was er von sich gab war Müll, aber das breite, scheinbar permanente Grinsen, das 'mein Baby ist erwachsen' schrie, darauf konnte er auf jeden Fall verzichten. Und dann schrieb Shoyo und es war okay. Wenn Shoyo warten konnte, bis Kenma lernte, einfach mal zu machen, dann würde es irgendwann nicht mehr ganz so schlimm sein. Shoyo; 07:42 pm: ich vermisse dich ganz doll!! Shoyo; 07:42 pm: von hier zum mond und zurück!!!! kenma; 07:45 pm: Ich vermisse dich auch. Hast du keine Hausaufgaben? Shoyo; 07:46 pm: keine luuuuust. kenma; 07:48 pm: Mach sie fertig. kenma; 07:49 pm: Ich würde gerne anrufen. Aber erst wenn du fertig bist Shoyo; 07:149 pm: !!!!!!!!!! Shoyo; 07:49 pm: bis gleich!!!!!!!! September. Kenma holte ihn am Hauptbahnhof ab und obwohl er gedacht hätte, dass es ihm unangenehm sein würde, in der Öffentlichkeit umarmt zu werden, von einem anderen Jungen noch dazu, war es erstaunlich beruhigend, Shoyos Arme um seine Schultern zu spüren, als sich der Jüngere ihm um den Hals warf. Shoyo roch etwas nach Limonade, Schweiss und, so unerklärlich es auch klang, Sonnenlicht und für einen Augenblick hätte Kenma beinahe vergessen, wo sie waren. Dann wurde eine Durchsage gemacht und sie stoben auseinander; Shoyo verlegen, weil er wusste, dass öffentliche Gefühlsbekundungen nicht Kenmas Ding waren und Kenma, weil seine Ängste auf einen Schlag alle mit der Wucht eines Frachters auf ihn einprasselten. Shoyo nahm seine Hand. Es war nicht weg; im ersten Moment war es schlimmer, aber irgendwann zwischen dem Stadtzentrum und Nerima vergass Kenma, dass sich die warmen Finger um die seinen einengend und furchteinflössend angefühlt hatten. · · · Er blieb von Freitag bis Sonntagnachmittag und als der Wecker am Montagmorgen klingelte, fühlte sich Kenma leer und mechanisch an. Das Bett war ein bisschen zu kalt. · · · Shoyo; 09:03 pm: ich will zurück nach tokyo!!! Shoyo; 09:04 pm: nächstes mal müssen wir auf den skytree!! wieso nimmst du mich nie auf den skytree? Shoyo; 09:04 pm: sei ein guter freund!! kenma; 09:05 pm: Das Wetter war schlecht. Du hättest dort oben nur Nebel gesehen. Shoyo; 09:05 pm: es geht ums prinzip!!! kenma; 09:05 pm: Tja. kenma; 09:07 pm: Dann musst du bald wieder kommen. Shoyo; 09:07 pm: DAS MUSST DU MIR DOCH NICHT SAGEN!!!!!! Shoyo; 09:09 pm: oh, inuoka schreibt gerade! Shoyo; 09:09 pm: er findet unser foto süss!!!!! kenma; 09:09 pm: Du hast Inuoka das Foto gezeigt? Shoyo; 09:10 pm: du hast gesagt, es sei okay, oder? oder hab ich das falsch verstanden? DDD: kenma; 09:14 pm: Nein, ist okay. Ich war nur erstaunt. kenma; 09:16 pm: Er hat mich nicht darauf angesprochen. Shoyo; 09:17 pm: aber das ist doch weil er weiß, dass du verlegen reagiert hättest!! also ich glaube nicht, dass er das böse gemeint hat!! kenma; 09:17 pm: Ich traue Inuoka keine Boshaftigkeit zu. Shoyo; 09:18 pm: siehste?? und ich sagte doch, du schaust darauf super aus!!♥ kenma; 09:20 pm: Du bist voreingenommen. Shoyo; 09:21 pm: ich kann trotzdem recht haben!!!! Oktober. Sie trafen sich etwas verfrüht zu Kenmas Geburtstag. Samstag lief es am Ende darauf hinaus, dass Shoyo zu Kuros Haus mitkam, wo sie eine kleine Überraschungsfeier erwartete. Nicht, dass Kenma überrascht gewesen wäre, das Volleyballteam bestand aus lauter Nieten in der Geheimhaltung. Und zwischen all den Videospielen und Apfelkuchenstücken küsste Shoyo ihn kurz auf den Mund, vermeintlich vor allen verborgen. Kenma wusste nicht, ob er erst ihn oder Lev mit seinem Controller bewerfen wollte. November. Kenma musste seinen Chatverlauf mit Shoyo zum dritten Mal auf dem Computer abspeichern, damit er genug Freiraum auf dem Handy freischaufeln konnte, um sich ein neues Spiel herunterzuladen. Für einen Augenblick überkam ihn die Angst, alle Erinnerungen zu verlieren. Dann klingelte das Gerät und erzählte ihm von einer neuen Mitteilung von Shoyo. Dumm, dachte sich Kenma und biss sich auf die Unterlippe, um ein Lächeln zurückzuhalten. Als ob er so einfach vergessen würde. Dezember. Sie trafen sich den ganzen Monat über nicht, ihre Tage gefüllt mit Volleyballtraining und manchmal war auch der Gedanke daran, dass sie sich am Spring High-Turnier treffen würden, zu vage. 385 Kilometer waren zu weit weg für Worte allein, um Panikattacken und Dysphorie wegzuwischen. Es war trotzdem beruhigend, Shoyo zu hören, selbst wenn nur durchs Handy. Selbst dann, wenn Kenma sich für seine tränenbelegte Stimme schämte oder hilflos den Schluchzern am anderen Ende der Leitung lauschen musste. Januar. Es schneite einen Tag vor dem Spring High. Shoyo erwartete Kenma vor der Schule, dick in Schal und Jacke eingemummelt und ein breites Lächeln auf dem Gesicht, als er verkündete, er wolle den Nationalgarten bei Schneefall sehen. (Sie waren zu spät dran, der Park hatte schon geschlossen, als sie in Shinjuku San-Chome ausstiegen. Aber sie setzten sich mit zwei warmen Dosen Shiruko auf die Bänke entlang des eisernen Parkzauns, bis sich Kenma über die Kälte beklagte und Kageyama Shoyo wütend anrief, um ihn nach seinem Verbleib zu fragen. Kenma fühlte sich nur ein Bisschen schuldig dafür, ihn so für sich beansprucht zu haben.) · · · „Tokyo bei Schnee ist total schön!“ „Schwachsinn. Alles ist voller Matsch und bis morgen wird das alles weg sein.“ Shoyo lachte dieses Lachen, das Kenma immer dazu verleitete, auf die Seite zu schauen, damit keiner sehen konnte, wie seine Wangen rot anliefen. „Aber Kenma, schau doch! All die Schilder zwischen den Schneeflocken! Ein Bisschen schaut das wie das Wunderland aus!“ „Ich weiss nicht recht, was für ein Wunderland du da meinst.“ „Spielverderber!“ Ihre Hände fanden einander. Es half nicht besonders gegen die Kälte, sie beide hatten eisige, steif gefrorene Finger. „Mit dir fühlt sich überall ein bisschen wie das Wunderland an.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)