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Der unsichtbare Freund

A Hare Amoung Wolves [Pilot]
von
Koautor:  Seki

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Flucht

Ein lautes, blechernes Klingen war zu hören, als Kyra auf der Balustrade landete, auf der diverse alte Metallstücke rumzuliegen schienen.

Im Halbdunkeln der verlassenen Fabrik klang der Laut nur umso beängstigender.

Ruhig bleiben, ermahnte sie sich selbst und holte ihr Smartphone wieder hervor, um sich den Weg zu leuchten.

Die Männer in dem Pub hatten Recht gehabt. Das hier schien einmal eine Art Schneiderei gewesen zu sein, beziehungsweise eine Art Stoffwerk, in dem große Maschinen automatisch Stoffe webten. Kyra erkannte die Maschinen von Bildern, die sie einst in der Schule gesehen hatten.

Sie musste allerdings zugeben überrascht zu sein. In der ganzen Halle waren die Maschinen fraglos das, was am meisten wert war. Selbst wenn eine Fabrik aufgegeben wurde, wurden die Maschinen normaler Weise mit rausgeholt – und sei es, um sie für Metallteile zu verkaufen. Doch von allem was sie sehen konnte, waren gute zwei Drittel der Maschinen – zumindest schätzte sie das anhand des freien Platzes – noch hier, als hätte man sie einfach zurückgelassen. Nicht nur das: Obwohl sie an den Wänden Graffiti sehen konnte schien auch nicht viel geklaut worden zu sein. Dabei wusste sie, dass Metalle mittlerweile wertvoll genug waren, als dass Leute metallene Zierden von Friedhöfen klauten. Also warum nicht hier?

Sie vertrieb den Gedanken. Immerhin war sie nicht hier um das Geheimnis der verlassenen Fabrik zu klären. Sie war hier für Cole.

Zumindest musste sie feststellen, dass sich gerade ein Kind zwischen den langen Maschinen, die wohl früher einmal automatisch Stoff gewebt und gewaschen hatten – oder zumindest so etwas in der Art – und die gesamt gute fünfzehn Meter lang zu sein schienen, sicher einige Stellen hatten, würde verstecken können. Und von diesen Maschinen standen noch vier in der Halle herum – wenngleich zumindest zwei von ihnen nicht ganz vollständig zu sein schienen. Denn während bei zwei der Maschinen ein Art Gehänge für metallene Rollen, auf denen wahrscheinlich früher der fertige Stoff aufgerollt worden war, am Ende der Anlage war, fehlte dieser Teil bei den anderen beiden.

Mit dem Smartphone leuchtete sie den Balkon, auf dem sie stand, entlang. Hier standen ein paar alte Stühle und Tische, die vielleicht früher einmal in irgendwelchen Büros im Gebäude gestanden waren. Auch sie sahen moderig aus und Kyra hätte sich nicht gewundert, wenn unter ihnen Ratten hausten, aber es schien nicht danach, als würde sich hier irgendwo ein Kind verstecken.

Sie leuchtete in die Halle hinunter, in der die Maschinen standen.

Irgendwann schien es einmal am Rand der Balustrade eine Art Geländer oder vielleicht sogar eine Glaswand gegeben zu haben, doch was auch immer es gewesen war: Davon waren nur noch ein paar Metallstangen, die es ursprünglich befestigt hatten, geblieben.

Es gab allerdings eine Leiter, die mindestens genau so rostig wirkte, wie die Treppe draußen.

Das irritierte Kyra. Es musste irgendwo eine Treppe hierhoch geben, oder? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand die Tische und Stühle eine Leiter hinaufgebracht hatte. Noch weniger konnte sie sich vorstellen, dass es ein Stück Raum in einer Fabrik gab, das nur so schwer zu erreichen war.

Vielleicht stand etwas vor der Treppe? Sie sah sich um, doch sie konnte nichts erkennen.

„Das ist doch alles verrückt“, murmelte sie zu sich selbst und steckte das Handy wieder ein, um die Leiter hinunter zu klettern. Wenn war Cole unten – oder auf der versteckten Treppe. „Ganz toll...“

Unten sah sie sich erneut um und leuchtete zwischen den alten Maschinen herum. Sie konnte niemanden sehen – und noch weniger etwas hören.

Sie musste noch einmal nach ihm rufen. „Cole? Cole? Bist du hier irgendwo, Cole?“, rief sie, als sie zwischen den großen Webemaschinen hindurch lief. „Cole?“

Auch wenn sie in Edinburgh lebte, der vermeintlich verspuktesten Stadt Großbritanniens, glaubte sie nicht wirklich an Geister oder so etwas. Sie kam dennoch nicht umher sich hier im Halbdunkeln zwischen den alten Maschinen, wo sie nur einen kleinen Teil der Halle einsehen konnte, unwohl zu fühlen.

„Cole?“, fragte sie noch einmal in das Zwielicht hinein. „Sag etwas, wenn du mich hören kannst, Cole! Deine Mutter hat mich geschickt, um nach dir zu suchen. Cole?“

Sie ging vorsichtig weiter, als sie etwas am Knöchel berührte. Nur schwerlich hielt sie sich davon ab aufzuschreien und sah stattdessen zum Boden, gerade rechtzeitig, um eine kleine Hand zu sehen, die wieder unter ein Blech am Rand einer der Maschinen verschwand.

Die Blechabdeckung am Rand der Webemaschine ging nicht ganz bis zum Boden hinunter. Etwa dreißig Zentimeter blieben zwischen ihrem unteren Rand und dem Boden – genug für ein Kind um drunter durch zu klettern und sich zu verstecken.

„Cole?“ Sie beugte sich hinab und leuchtete unter die Abdeckung.

Erleichtert seufzte sie auf, als tatsächlich ein kleiner Junge sie ansah. Es war eindeutig Cole, wenngleich dreckiger, als auf den Bildern, die seine Mutter ihr gezeigt hatte, und deutlich übermüdet.

„Ist der böse Mann weg?“, fragte Cole und sah sie aus ängstlichen Augen an.

Bemüht ein beruhigendes Lächeln aufzusetzen, streckte sie ihm eine Hand entgegen, während sie das Smartphone noch immer in der anderen hielt. „Es scheint niemand sonst hier zu sein“, sagte sie, auch wenn sie es nicht sicher wusste. Aber sie wollte ihn hier heraus bekommen und das so schnell wie möglich. „Komm.“

Doch Cole zögerte und sah sie an. „Meine Mum hat dich geschickt, Lady?“, fragte er vorsichtig. Wenn er sich hier seit gestern vor irgendeinem fremden Mann versteckt hatte, war es wohl kaum verwunderlich, dass er misstrauisch war.

„Ja. Deine Mutter macht sich große Sorgen um dich“, erklärte sie. „Sie hat mich engagiert, um dich zu suchen.“

Er schwieg kurz. „Aber wie hast du mich gefunden?“

„Ich habe einen Hund, wie du vielleicht gehört hast“, erwiderte sie lächelnd. Als sie es sagte, fiel ihr auf, dass sie Watson seit einiger Zeit nicht mehr hatte bellen hören. Hoffentlich war ihm nichts passiert... Aber wahrscheinlich war er nur erschöpft. „Er wartet oben auf mich.“ Sie hoffte, dass Cole Hunde mochte, als sie hinzufügte: „Wenn du magst, kannst du ihn gerne streicheln.“

Noch immer schien er zu zögern.

Langsam wurde Kyra nervös. Sie mochte diese alte Halle einfach nicht. „Mein Name ist übrigens Kyra.“ Sie hoffte, dass es vielleicht ein wenig mehr Vertrauen schaffte, wenn er ihren Namen kannte.

Etwas kam ihr seltsam vor und dann hörte sie etwas, dass sie noch angespannter machte: Watsons jaulen echote durch die Halle. Sie kannte dieses Jaulen. Es war Watson Art ihr zu sagen, dass etwas nicht in Ordnung war.

Endlich krabbelte Cole langsam nach vorn und ihr entgegen.

Doch manchmal konnte das reale Leben ein seltsames Timing haben. Denn genau in diesem Moment schallte ein lautes Knallen durch die Halle und ließ Cole zusammenzucken, so dass er mit dem Kopf gegen die Kante des Bleches schlug.

„Au!“, rief er aus und hielt sich den Hinterkopf. Tränen standen in seinen Augen, auch wenn er nicht weinte.

„Alles in Ordnung?“, fragte Kyra, die sich genau so erschreckt hatte.

Sie sah sich um. Das Knallen schien von der Hintertür zu kommen. Es klang, als hätte jemand mit einiger Kraft mehrfach gegen die Tür geschlagen.

„Es geht“, wimmerte der Junge und hielt wieder inne. „Was ist das? Ist das der böse Mann?“

„Warte einen Moment“, erwiderte Kyra. Sie richtete sich auf, gerade rechtzeitig um zu hören, wie die Tür mit einem schweren Knarren aufging. Schnell ging sie um die Maschine, neben der sie stand, herum, damit sie zur Tür sehen konnte. Doch gerade, als sie um Ecke herumging und die Tür in den Sicht kam, schreckte sie zurück.

Eine große, eine sehr große Gestalt stand in der Tür. Sie konnte sie schlecht gegen das Licht von draußen erkennen, jedoch konnte sie zumindest sagen, dass die Gestalt einen Hut zu tragen schien.

„Verdammt“, murmelte sie und ging zurück zu Cole.

„Es ist der böse Mann, oder?“, flüsterte er leise. „Er ist zurück, oder?“

„Hör zu, Cole“, sagte sie leise und angespannt. „Ich bringe dich hier heraus, hörst du? Komm mit.“

Er schüttelte den Kopf. „Wir sollten uns verstecken.“

„Wir können uns nicht länger hier verstecken“, erwiderte sie, noch immer leise, aber bestimmt. „Ich verspreche dir, ich bringe dich hier heraus, ja?“

Noch immer schien er ihr nicht ganz zu trauen, doch schließlich nickte er und kletterte aus seinem Versteck hervor.

„Bleib bei mir, hörst du?“, flüsterte Kyra.

Sie schaltete die Taschenlampenfunktion aus, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und steckte ihr Handy zurück in die Manteltasche. Während sie sich aufrichtete, sah sie sich um und versuchte im Zwielicht den seltsamen Mann zu sehen, auch wenn die Maschinen zu ihren beiden Seiten ihr die Sicht größtenteils versperrten.

Vorsichtig ging sie um eine der weiteren Maschinen herum, immer darauf achtend, dass Cole direkt hinter ihr war.

Sie hielt ihn zurück, während sie um die Ecke sah. Tatsächlich verschwand der seltsame Mann hinter einer der anderen Maschinen.

Etwas an seinen Bewegungen wirkte komisch, unmenschlich. Er ging mit einer unnatürlich regelmäßigen Art voran, die eher wirkte, wie eine schlecht animierte Spielfigur, als ein echter Mensch. Großartig, dachte sich Kyra, als wäre die Situation nicht so schon gruselig genug.

Sie wartete, bis der Mann um die Ecke der nächsten Maschine gebogen war, ehe sie selbst vorsichtig und halb gebückt in Richtung der Tür ging, durch die er gekommen war.

Vielleicht hatte sich der Rost genug gelöst, als dass sie nun hindurch kam. Zumindest blieb ihr die Hoffnung.

Was sie allerdings nicht mochte, war die Tatsache, dass es zwischen dem Ende der langen Maschinen und der Tür etwa zweieinhalb Meter nichts gab. Früher hatte dort wahrscheinlich etwas gestanden. Vielleicht noch eine Maschine, vielleicht etwas anderes. Doch nun war dort eine recht große, leere Fläche und sie war sich beinahe sicher, dass der Mann sie sehen würde, wenn sie dort entlanggingen.

Von einigen Stellen abgesehen waren die Maschinen nicht sehr hoch und groß wie dieser seltsame Mann war, konnte er fraglos problemlos drüber hinweg sehen.

Sie kamen am Ende des Ganges an.

„Jimmy sagt, die Tür geht nicht auf“, meinte Cole, der verstanden zu haben schien, was Kyra vor hatte.

Für einen Moment hob Kyra die Augenbraue. Jimmy? War das nicht der Name von seinem imaginären Freund? Nun, was wusste sie schon über Kinder. „Das wollen wir sehen“, meinte sie und bemühte sich erneut um ein Lächeln.

Sie sah sich um. Im Halbdunkeln konnte sie nur erahnen, wo der Mann gerade war, doch er schien von ihnen wegzugehen.

„Komm“, flüsterte sie und lief – weiterhin gebückt – zur Tür hinunter, während Cole nur widerwillig folgte.

Mit aller Kraft warf sie sich gegen die Tür, im Versuch diese zu öffnen...

Doch die Tür bewegte sich kein Stück.

Es war auf einmal still. Kyra realisierte, dass die Schritte des Mannes verstummt waren.

„Verflucht“, murmelte sie.

Ein Teil von ihr wollte in Panik verfallen, doch irgendwie schaffte sie es, sich zusammen zu reißen.

„Komm“, flüsterte sie und lief hastig zurück zu den Maschinen.

Dankbarer Weise folgte ihr Cole, auch wenn es hieß, dass sie langsamer laufen musste, damit der Junge mit ihr Schritt halten konnte, ohne dabei zu laut zu sein.

Was konnte sie nun tun? Sie mussten hier heraus. Sie konnten sich nicht länger verstecken. Schon gar nicht, da der seltsame Mann wusste, dass sie hier waren. Doch wie konnte sie rauskommen?

Ihr Blick wanderte zu dem Loch in der Decke, an dem noch immer Watson stand und hinein bellte.

Wenn sie dort hochkommen würden...

Sie hockte sich hin. „Wie bist du hier hinein gekommen?“ Sie musterte Cole, während sie schnell, aber leise sprach.

„Durch die Decke“, erwiderte er und Panik klang aus seiner Stimme. „Jimmy hat mir gesagt, ich kann mich hier verstecken.“

„Gibt es hier eine Treppe nach oben?“ Immerhin mochte Kyra den Gedanken so gar nicht, wieder die alte Leiter hoch zu müssen, die aus der ganzen Halle gut sichtbar war.

„Jimmy sagt, es gab eine, aber die ist eingestürzt“, antwortete Cole. Er sah aus als würde er jeden Moment loslaufen wollen.

Auch wenn sie es gerne getan hätte, verkniff sich Kyra ein Fluchen. Stattdessen sah sie sich um. Sie hörte die Schritte näher kommen.

„Bleib bei mir, ja?“, sagte sie nur und lief so schnell los, wie es ihr möglich war, ohne zu laut zu werden.

Sie hatte einen Plan. Wenn sie außen um die Maschinen herum lief und dabei geduckt bliebt, konnte sie es vielleicht schaffen, aus dem Sichtfeld des Mannes zu bleiben. Außerdem lag hier einiges an Kleinkram herum. Schrauben. Steine. Müll.

Sie hob einen faustgroßen Stein beim Laufen auf und warf ihn mit aller Kraft die Halle hinab, sie dass er ein ganzes Stück weiter unten – dankbarer Weise zielsicher – auf einem alten Blech landete. Hoffentlich lockte es den Mann dahin.

Die Schritte beschleunigten sich. Anscheinend hatte ihr Plan geklappt.

Umso mehr beeilte sie sich. Sie mussten in eine Position kommen, dass sie von dem Blech nicht mehr zu sehen waren.

Noch zwei Meter bis zur nächsten Ecke. Noch einen Meter. Sie sollten nun außer Sicht sein.

Von hier aus mussten sie die lange Seite der Halle entlang, um zur Mauer zu kommen, auf der der Balkon gelegen war.

Vorsichtig beschleunigte Kyra ihre Schritte noch etwas. Sie wollte wirklich nicht heraus finden, ob der Mann bewaffnet war, zumal sie leider befürchten musste, dass er – selbst ohne Waffen – weiter stärker wäre als sie.

Noch immer war sie sich nicht sicher, wie sie zur Hölle wieder zum Loch hinauf kommen sollte. Zweieinhalb Meter waren zu hoch für sie zu klettern oder zu springen. Nicht viel, aber doch so hoch, dass sie nicht einfach hinauf kommen konnte.

Doch dann wiederum waren da die alten Stühle.

Wenn sie es nur schafften, heimlich hinauf zu kommen... Das würde nicht funktionieren und sie wusste es. Aber was hatte sie für eine Wahl? Sie wollte definitiv nicht herausfinden, ob der Mann ein verrückter Kindermörder war oder nicht.

Ein Laut ließ sie zusammenzucken. Cole war hingefallen und hatte es nicht geschafft, einen kurzen Aufschrei zu unterdrücken.

„Komm“, sagte sie und half ihm hoch.

So ein Mist...

Es waren noch gute fünfzehn Meter bis zur Leiter. Das war nicht weit und wahrscheinlich hatte der Mann sie nun ohnehin bemerkt.

Also: Was hatten sie für eine Wahl?

„Renn“, befahl sie leise und wartete, dass er losgelaufen war.

Zumindest weinte er nicht. Kyra hätte nicht gewusst, was sie in dieser Situation mit einem weinenden Kind getan hätte. Doch Cole war tapfer, das musste sie ihm lassen.

Sie wartete, dass er die Leiter erreichte.

„Kletter rauf“, sagte sie ihm.

Er sah sie an und schien zu zögern.

„Mach schon!“ Mit aller Mühe schenkte sie ihm einen festen Blick.

Dankbarer Weise kletterte er ohne etwas zu sagen, während sich Kyra umsah.

Wo war der Mann? Wo?

Da erkannte sie eine große Gestalt, die um die Ecke kam, an der Cole eben noch gestürzt war.

Verflucht. Sie hatten kaum Zeit.

Cole war drei Meter die Leiter hoch, als auch Kyra zu klettern begann, die Augen auf den Mann gerichtet, der mit seinem seltsamen, schwebenden Schritt nun nahe kam.

Panik kroch in ihr hoch, doch sie schaffte es, das Ende der Leiter zu erreichen, bevor der Mann selbst bei der Leiter war.

Sie rannte zu einem der Stuhlstapel hinüber und warf ihn in Richtung der Treppe um.

Es knallte und zwei der Stühle wurden durch die Energie tatsächlich über die Ecke geworfen. Vielleicht hielt ihn das auf.

Im Moment dachte sie nicht einmal darüber nach, dass sie ihn damit eventuell töten könnte. In ihren Gedanken gab es keinen Zweifel, dass dieser Mann nichts gutes im Sinn hatte – sonst hätte er schon etwas gesagt, mit ihnen geredet... Aber er war still, gespenstisch still schon beinahe.

Schnell nahm sie einen der Stühle und stellte ihn hin, während ihr Watson aus dem Loch über ihr entgegen bellte. Aufgeregt und mit eingeklemmten Schwanz rannte der Hund neben dem Loch auf und ab und schien beinahe verrückt darüber zu werden, ihr nicht so einfach folgen zu können.

„Komm her, Cole“, rief sie – nun nicht mehr um Stille bemüht – und kletterte auf den Stuhl.

„Was hast du vor?“, fragte er, kam aber.

„Wir kommen hier heraus“, meinte sie und hob ihn irgendwie hoch.

Vielleicht war es das Adrenalin, das ihr half, denn sie würde später keine Ahnung haben, wie sie es geschafft hatte den Jungen hoch genug zu heben, dass er den Rand des Loches zu fassen bekam, während sie selbst auf dem alten, wackeligen Stuhl balancierte. Doch irgendwie gelang es ihr und Cole schaffte es, sich selbst mit der Hilfe von Watson, der ihn am Pullover zerrte, auf das Dach zu ziehen.

Was Kyra bei einem Problem ließ: Sie selbst stand noch auf dem Stuhl, während der Kopf des Mannes am oberen Ende der Treppe erschien.

Nein, etwas an diesem Mann war nicht normal. Seine Haut war weiß, wirklich weiß, beinahe wie geschminkt, und seltsam wachsen. Sie sah nicht aus, wie Haut aussehen musste. Und auch, wenn es die Sonnenbrille verbarg, schienen seine Augen seltsam eingefallen zu sein.

Kyra sprang und bekam den Rand des Daches zu fassen – doch leider auch etwas anderes. Sie merkte, wie etwas in ihre Hand schnitt. Wahrscheinlich ein Splitter oder eine Metallkante. Beinahe war sie sich sicher, dass sie blutete, doch sie griff mit der anderen Hand nach und verlagerte ihr Gewicht, um sich aufs Dach zu ziehen.

Da griff eine Hand nach ihrem Bein und bekam es mit eisernem Griff zu fassen.

Sie schrie auf.

„Lass mich los!“, rief sie und begann mit ihrem freien Bein blindlings nach unten zu treten. „Lass mich los, Widerling!“ Die Hand löste sich nicht und da war etwas anderes. Sie hatte das Gefühl, dass etwas scharfes in ihre Wade schnitt.

Der Mann zog sie nach unten und langsam, aber sicher verlor sie den Halt auf dem Dach.

Weiter tritt sie nach unten, doch weiterhin ohne Erfolg. Sie rutschte ab...

Doch in dem Moment schnappte Watson nach ihrer Schulter. Er verbiss sich im Leder ihres Mantels und legte sein ganzes – nicht unbeachtliches – Gewicht darein sie nach oben zu ziehen.

„Braver Hund“, flüsterte sie, während sie weiterhin mit den Beinen zappelte und trat, um den Griff des Mannes zu lösen.

Dann traf ihr freier Fuß auf etwas hartes und sie hörte ein Knacksen. Seine Brille oder seine Nase?

Es war ihr egal, beschloss sie. Zumindest löste sich sein Griff für einen Moment und sie bekam ihr Bein frei.

Mit Watsons Hilfe kam sie endlich aufs Dach.

Tatsächlich blutete ihre Hand, doch sie beschloss, dass sie sich später darum kümmern konnte. Sie mussten von diesem Kerl weg, der ob seiner Größe weniger Probleme haben sollte, ihnen zu folgen.

„Zur Treppe, Cole!“, rief sie, während sie sich selbst mühselig aufrappelte. Ihr Bein schmerzte, doch sie wollte sich davon nicht aufhalten lassen.

Watson stand unentschlossen neben ihr. Seine ganze Körperhaltung sagte ihr, dass er am liebsten rennen würde – fliehen – doch er war ihr zu treu und brachte es einfach nicht über sich, sie allein zu lassen. Als er sich jedoch sicher war, dass sie folgen würde, sprintete er los und überholte noch Cole, der gerade die Treppe erreicht hatte.

Tatsächlich sorgte sich Kyra, dass die Treppe das Gewicht von ihnen drein nicht aushalten würde, da sie noch mehr knirschte und schwankte, als zuvor bei ihrem Weg nach oben.

Stufe, um Stufe rannte sie hinab. Sie wagte es kaum, nach oben zu schauen. Sie wusste zu genau, dass der Mann hinter ihnen war.

Sie mussten nur hier weg, sagte sie sich. Wenn sie in eins der Pubs unten an der Straße kämen, dann wären sie sicher. Dorthin würde er ihnen wohl nicht folgen, oder?

Die Treppe knarzte noch mehr. Er musste hinter ihnen sein.

Derweil erreichte zumindest Watson bereits den Boden, gefolgt von Cole. Der Hund sah sich kurz um, offenbar um sicher zu gehen, dass Kyra noch immer folgte, dann rannte er um das Gebäude herum – wahrscheinlich in Richtung des Zauns.

Cole schien einen ähnlichen Gedanken zu haben und folgte dem Hund. Auch Kyra tat es ihnen gleich, als sie den Boden erreichte.

Kurz drehte sie sich um.

Der Mann war auf halben Weg die Treppe hinunter.

Obwohl ihre Seiten mittlerweile schmerzten sprintete sie hinterher, jedoch immer drauf bedacht hinter Cole zu bleiben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Dieses Mal brauchte Watson keine Hilfe, um durch den Zaun zu kommen. Wahrscheinlich war er verzweifelt genug, als dass er sich nicht darum scherte, dass ein paar Büschel seines Fells im Maschendraht hängen blieb.

Cole ging auf die Knie und rutschte durch das Loch hindurch, während hinter ihm wartete.

Der Mann kam gerade um die Ecke des Gebäudes und glitt auf sie zu.

Endlich war Cole durch das Loch durch, so dass nun auch Kyra sich fallen ließ, um sich, wie vorher, durch den Zaun zu quetschen. Zumindest glaubte sie, dass der Mann nicht so einfach durch die kleine Öffnung kommen würde.

Der Draht fügte ihr noch einige Kratzer zu, doch sie störte sich nicht dran.

Jeden Moment rechnete sie damit, dass die kräftigen Arme sie erneut greifen und zurückziehen würden – doch nichts geschah.

Ohne sich noch einmal umzusehen rannte sie die Straße hinab. Weiter, immer weiter, während Watson gute fünf Meter vor ihr war. Er hätte schon weiter sein können, wäre er nicht immer wieder stehen geblieben, um auf sie zu warten.

Erst als sie die Straßenecke erreichten, in deren Nähe sie im Pub nach Cole gefragt hatte, erlaubte es sich Kyra stehen zu bleiben. Auch Watson wartete. Er war was Straßen anging immer etwas vorsichtig, da er fremden Autos oft nicht ganz traute.

Kyra sah sich um. Der Mann war nicht zu sehen.

Also hatte er aufgegeben?

Auch Cole schien dies zu bemerken. „Er ist weg?“, keuchte er leise.

„Offenbar“, murmelte Kyra. Sie sah auf ihre Hand. Tatsächlich hatte sie einen etwas tieferen Schnitt über die Handfläche. „Sag mal, Cole. Weißt du, wer das war?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist einfach zum Spielplatz gekommen. Jimmy sagte, dass der Mann Kinder wie mich fängt und frisst. Jimmy hat mir gesagt, dass ich mich verstecken soll.“

Das ganze erschien Kyra immer noch seltsam. „Dein Freund Jimmy, den niemand sieht, außer du?“

„Ja“, erwiderte Cole, als wäre diese Frage ein wenig dumm. „Er hat früher einmal dort gearbeitet, weißt du?“

„Hat er das?“, fragte Kyra. Also war Jimmy der Geist eines Jungen, der früher mal in einer Stofffabrik gearbeitet hatte? Sie wusste, dass Kinderarbeit in der industriellen Revolution üblich gewesen war – gerade in solchen Fabriken. Aber wahrscheinlich hatte Cole dasselbe auch in der Schule gehört und sich seinen unsichtbaren Geisterfreund so ausgedacht.

„Ja“, meinte Cole nur auf ihre Frage hin. „Er hat mir das Versteck gezeigt.“

Daraufhin seufzte sie nur. Wahrscheinlich hatte es keinen Zweck mit ihm darüber zu reden. „Da hinten ist ein Pub“, erklärte sie Cole. „Lass uns dahin gehen und deine Eltern anrufen, ja?“ Außerdem konnte sie gut etwas zu trinken gebrauchen.

„In Ordnung“, murmelte Cole und starrte mit leeren Blick die Straße hinab.

„Was ist?“, fragte Kyra vorsichtig, da ihr etwas an diesem Blick nicht gefiel. Er wirkte einfach nicht wie der Blick eines Kindes.

Doch Cole schüttelte den Kopf. Sein Blick fokussierte sich wieder auf sie. „Es ist nichts.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Taroru
2017-06-03T17:40:22+00:00 03.06.2017 19:40
Okay.... seltsam..... aber okay o.O
Ich bin echt gespannt was es mit Jimmy auf sich hat... und mit dem Typen.... und überhaupt.....
Also es wirkt wie eine Geistergeschichte.... aber ich glaube nicht wirklich, das es eine ist (oder ich hoffe es einfach *lach* XD )
ich stürz mich auf das nächste Kapitel ;-)
Von: Futuhiro
2017-06-01T16:34:38+00:00 01.06.2017 18:34
Ich frage mich, wer von denen nun der Geist ist, der schwarze Mann oder dieser unsichtbare Freund Jimmy. Ich wette, Jimmy gibt es wirklich. :D

Die Story hat nur noch ein Kapitel. Ich hoffe, das wird kein Cliffhanger ...
Von:  phantomrabbit
2017-02-15T10:03:54+00:00 15.02.2017 11:03
Ich bin echt neugierig was sich hinter dem Mann und auch vor allem hinter Jimmy steckt. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass nur eingebildet ist.

Die ganze Geschichte liest sich richtig gut und gerade dieses Kapitel auch sehr spannend. Ich konnte mir alles richtig bildhaft vorstellen.
Kyra und Watson sind echt ein tolles Team.
Ich freue mich schon darauf weiter zu lesen
Antwort von:  Alaiya
16.02.2017 10:37
Vielen Dank für den Kommentar :)

Was hinter dem Mann steckt, dass wird später in der eigentlichen Geschichte - allerdings erst ein ganzes Stück später - geklärt ;) Spekulationen sind aber gern gesehen.

Nächste Woche kommt noch der Epilog zu dieser kleinen Geschichte und dann wahrscheinlich so ab April die eigentliche Fortsetzung. ^^


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