Der unsichtbare Freund von Alaiya (A Hare Amoung Wolves [Pilot]) ================================================================================ Kapitel 2: Die Spürnase ----------------------- Mehr als eineinhalb Stunden später, verließ sie die Schule. Sie hatte mit den Kindern gesprochen – allen fünf, die von der Lehrerin genannt wurde. Billy, ein dunkelhaariger, blasser Junge, mit einem verträumten Blick. Max, ein eher plumper Junge, der vollauf begeistert von Watson gewesen war. Katie, einem schüchternen braunhaarigen Mädchen. Chris, einem ebenfalls etwas plumpen, aber kräftigen blonden Jungen. Sowie Timothy, einem sehr mageren schwarzhaarigem Jungen. Sie waren alle am Nachmittag am Tag zuvor – einem relativ warmen Septembertag – auf einem Spielplatz ein paar Straßen entfernt gewesen. Cole hatte dort mit Billy, Max und Katie Piraten gespielt, ehe es zu einem kleinen Streit mit Chris und Tim gekommen war. Billy, Max und Katie waren danach auf einen Bolzplatz gegangen und hatte Cole nicht mehr gesehen. Selbiges behaupteten auch die anderen beiden Kinder. Sie waren sich alle in einer Sache einig gewesen: Sie hatten gedacht, er wäre nach Hause gegangen. Zumindest zwei interessante Dinge waren von den Kindern bemerkt worden, auch wenn diese bedeuteten, dass es nicht gut für Cole aussah. Billy hatte ihr erzählt, dass ein seltsamer, großer, blasser Mann am Spielplatz gewesen war und sie beobachtet hatte. „Er sah aus wie ein Skelett“, hatte der Junge mit träger Stimme erzählt und dabei Watson angestarrt. „Ganz gruselig.“ Der Mann hätte einen schwarzen Mantel und eine Sonnenbrille getragen und zumindest Chris hatte den Mann wohl ebenfalls gesehen, auch wenn seine Beschreibung nicht so Detailreich ausgefallen war, wie die Billys. Jedoch ging Kyra davon aus, dass der „große, blasse Typ“, den Chris dort noch nie gesehen haben wollte, derselbe Mann gewesen war. Außerdem hatten Chris und Tim beide gesagt, dass Cole, als sie ihn gesehen hatten, verängstigt ausgesehen hatte. Wenn sie davon ausgehen wollte, dass sie nicht selbst daran schuldig waren, hatte es vielleicht mit einem Erwachsenen zu tun haben, der ihn bedroht hatte? Vielleicht nahm sie zu viel an. Manchmal neigte sie dazu, zu viele Gedankensprünge zu machen. Doch wenn es stimmte, dann konnte es sein, dass Cole in Gefahr war. Eine Sache gab es noch, die die Kinder gesagt hatten, die Kyra etwas seltsam vorkam. Denn Billy, Max und Katie hatten allesamt – unabhängig voneinander – von Jimmy erzählt, der angeblich mit ihnen auf diesem Spielplatz gewesen sei. Jimmy, der angeblich nur ein unsichtbarer, imaginärer Freund war. Mrs. Coulter, die bei ihren Gesprächen mit den Kindern dabei gewesen war, hatte es nicht besonders auffällig gefunden. Sie hätten Fantasie, hatte sie gemeint, für das Alter vollkommen normal. Nun, vielleicht dachte Kyra auch zu viel darüber nach. Was wusste sie schon von Kindern? Immerhin war es unwahrscheinlich, dass ein unsichtbarer Junge Cole entführt hatte. Was konnte sie also machen? Viel mehr gab es hier nicht herauszufinden. Also brauchte sie einen anderen Ansatz. Sie rief bei der Polizei an und gab ihnen ihre neuen Erkenntnisse weiter, ehe sie zu dem Spielplatz fuhr. Vielleicht gab es hier etwas, das bisher übersehen worden war. Eigentlich glaubte sie es nicht – aber hey, es war immerhin ein Ansatzpunkt. Zu ihrer Überraschung fand sie keine Polizei hier vor. Es war ein relativ großer Spielplatz mit mehreren hölzernen Klettergerüsten, die im Stil einer mittelalterlichen Burg gestaltet waren. Es gab außerdem einen großen Sandkasten und zwei Schaukeln, sowie einen anbei gelegenen Bolzplatz. Der Spielplatz war am Rand eines kleinen Parkgebiets, so dass der Spielplatz zwischen einer Straßenecke und dem Park selbst lag. Auf der Straßenseite gegenüber lag ein kleiner Pub, der offenbar bereits geöffnet hatte. Die anderen anliegenden Häuser schienen einfache Wohnhäuser zu sein. Kyra parkte den hellblauen Wagen, dessen Motor aktuell alles andere als glücklich klang, zwischen zwei anderen Autos hinter dem Pub, ehe sie ausstieg. Sie ließ Watson aussteigen, ehe sie begann sich umzusehen. Vielleicht war die Polizei schon hier gewesen? Sie seufzte und ging zu dem Spielplatz hinüber. Sie kam sich albern vor. Was sollte sie hier finden? Es war ein Spielplatz und sie hatte keine Möglichkeit zu wissen, ob irgendwelche Dinge, die sie hier im Sand fand, zu Cole oder einem der vielen anderen Kinder gehörten, die fraglos hierher kamen. Dennoch sah sie sich um. Vielleicht gab es ja irgendetwas, das sie weiterbringen würde. Ja, sicher... Zehn Minuten später war sie sich relativ sicher, dass es hier nichts gab, dass sie ohne ein Labor – das sie nicht hatte – irgendwie weiterbringen würde. Bei aller Überwachung in diesem Land sah sie keine Kamera in direkter Nähe, nicht das sie darauf Zugriff gehabt hätte. „Was sollen wir machen, Watson?“, murmelte sie und sah den Berner Sennenhund an, der neben einer Bank bei dem Spielplatz saß und sie aufmerksam beobachtete. Er bellte. Sie nahm an, dass er ebenso wenig Ahnung hatte, wie sie. „Was sollen wir dann versuchen?“, fragte sie und ging zu ihm hinüber. Watson stand auf und begann mit dem Schwanz zu wedeln, als sie zu ihm hinüberkam. Sie kraulte ihn hinter dem Ohr und sah sich noch einmal um, als sie eine ihr bekannte Gestalt an einer Hauswand lehnen sah. Ihr kam eine Idee. „Watson?“, fragte sie und sah zu der Frau hinüber. „Ist das Sophie?“ Sophie war eine Obdachlose, die seit guten zwei Jahren auf der Straße lebte. Kyra kannte sie, nun, zumindest hatte sie ein paar Mal einen Kaffee mit ihr getrunken. Sie wusste zwar nicht, wie es genau dazu gekommen war, dass sie auf der Straße gelandet war. Auf halben Weg zu ihr hob Kyra die Hand zum Gruß und Sophie nickte ihr zu. Sie war nicht einmal besonders alt. Kyra schätzte sie auf vielleicht Mitte dreißig, auch wenn ihr blondes Haar fahl war und ihre Haut gegerbt. Sie hatte jedoch relativ gute Zähne im Vergleich zu anderen Obdachlosen die Kyra kannte. „Hey, Sophie“, grüßte Kyra sie, während Watson zu Sophie hinüberlief und sie schwanzwedelnd begrüßte. „Hey, Kyra“, erwiderte die Frau, während sie sich bückte um Watson zu kraulen. „Was kann ich für dich tun?“ Für einen Moment zögerte Kyra und biss sich auf die Unterlippe. Sie kam sich schuldig vor, weil Sophie direkt davon ausging, dass sie ihre Hilfe brauchte. Auf der anderen Seite war es wohl wahr – sie hatte Sophie seit drei Wochen nicht mehr gesehen und natürlich auch nicht nach ihr gesucht. „Entschuldige, Sophie“, meinte sie ganz automatisch. „Ich habe tatsächlich einen Fall.“ „Habe ich mir schon gedacht“, erwiderte Sophie. „So verloren wie du dar standest.“ Sie richtete sich auf und musterte Kyra mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Also sag mir, Mädchen, womit kann ich dir helfen?“ In ihren Worten klang, auch wenn sie freundlich war, ein deutliches „Und was gibst du mir dafür?“ Kyra lächelte zurückhaltend. Nun, also direkt zum Haupttext. „Nun, ich suche einen Jungen, der hier gestern verschwunden ist. Name ist Cole.“ Sie zog das Bild, das die Mutter ihr gegeben hatte, aus ihrer Manteltasche hervor. „Du hast nicht zufällig irgendetwas gesehen oder gehört?“ Für einen Moment, ehe sie hinzufügte: „Warst du überhaupt gestern hier?“ Sophie nahm ihr das Bild ab und sah es für eine Weile an. „Ich war tatsächlich hier in der Nähe“, erwiderte sie. Sie legte die Stirn in Falten, dachte offenbar nach. „Ich habe den Jungen nicht bewusst gesehen.“ Natürlich nicht. Kyra seufzte und nahm das Bild zurück. „Hast du irgendetwas anderes gesehen? Etwas auffälliges? Jemand auffälliges?“ Watson legte den Kopf schief, während die ältere Frau nachzudenken schien. Sie antwortete nicht sofort, doch schließlich nickte sie. „Eine Sache. Am Nachmittag lief hier ein Kerl 'rum. Groß, hager, sah ein bisschen aus, wie ein Drogenjunkie. Eingesunkenes Gesicht und so. Blass. Trug eine Sonnenbrille und einen Hut. Schien nicht erkannt werden zu wollen. War jedenfalls auffällig und ist für eine ganze Weile um den Spielplatz rumgestalkt.“ „Hast du gesehen, wie der Kerl weggegangen ist?“, fragte Kyra vorsichtig, doch Sophie schüttelte den Kopf. „Nein. Tut mir leid, Kyra.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin vorher gegangen.“ Daraufhin sah sie sie an. „Sorry, dass ich dir nicht weiter helfen kann.“ „Schon gut“, erwiderte Kyra vorsichtig. Sie notierte sich, was Sophie gesagt hatte. Dann nickte sie in Richtung des Pubs. „Willst du einen Kaffee?“ „Gern.“ Sophie nickte. Es war eine unausgesprochene Abmachung. Bisher hatte Kyra die Erfahrung schon öfter gemacht, dass Bettler und Obdachlose manchmal mehr mitbekamen als irgendjemand anderes in der Stadt – vielleicht weil die Leute sich bemühten, sie nicht zu sehen. Es war jedoch jedes Mal etwas bedrückend, wenn sie danach dachte, dass Sophie nichts hatte wohin sie später gehen konnte. Natürlich gab es einige Bleiben, aber eben kein „Zuhause“. Für Kyra gab es nichts, was sie daran ändern konnte. Das einzige, was sie tun konnte, war hier und da einmal ein Essen auszugeben – meist in Austausch gegen Informationen. Am Ende kaufte sie Sophie statt eines Kaffee einen Teller mit Eintopf und eine Cola und ging ihre Notizen durch, während die andere aß. Auch wenn dieser Fall interessanter war, als der übliche „Ich glaube, mein Partner betrügt mich“ Fall, so kam sie nicht umher, langsam frustriert darüber zu werden, dass es keinen vernünftigen Anhaltspunkt gab. Nichts, was ihr eine Idee geben konnte, wo der Junge war – außer, dass er vielleicht von einem seltsamen, blassen, hageren Typen mit Sonnenbrille entführt worden war. Es frustrierte sie noch mehr zu wissen, dass mit jeder Stunde, in der Cole nicht gefunden wurde, die Wahrscheinlichkeit geringer wurde, ihn lebendig zu finden. Sie war alles andere als scharf darauf, der Mutter zu sagen, dass sie leider nichts hatte tun können, der Sohn wahrscheinlich tot war und man sie dennoch würde bezahlen müssen. „Ich schau mich draußen noch einmal um“, meinte sie zu Sophie und stand auf. „Tu das“, erwiderte sie. „Ich kann mich gerne einmal umhören. Vielleicht hat jemand anderes den Jungen gesehen.“ „Danke.“ Kyra nickte ihr zu. „Wo kann ich dich finden?“ „Heute Abend am Hauptbahnhof“, erwiderte Sophie. „Wie immer.“ Erneut nickte Kyra und verließ nach einem kurzen Abschied den Pub, nur um draußen von Watson freudig begrüßt zu werden. „Dich scheint das ganze gar nicht zu betrüben, hmm?“, meinte sie und streichelte ihn seufzend. Sie sah auf ihr Handy: Keine neue Nachrichten. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass die Mutter ihr vielleicht mitgeteilt hatte, dass man den Jungen schon gefunden hatte. Sie sah Watson an. Nun, was sie Mrs. MacConnery gesagt hatte, war nicht gelogen. Auch wenn Watson kein ausgebildeter Spürhund war, hatte er eine gute Spürnase – wenngleich sie keine wirkliche Hoffnung hatte hier etwas zu finden. Aber es war ein Ansatz. Sie hatte ohnehin keine wirkliche Wahl. „Was meinst du, Watson?“, fragte sie und beugte sich zu ihm hinunter. „Magst du ein Spiel spielen?“ Sie griff in die kleine Gürteltasche, in der sie immer einige Leckerlis mit sich herumtrug. Gierig fraß er das kleine Futterstückchen und bellte mit wedelndem Schwanz. „Na, dann komm, Großer“, erwiderte sie und ging zu ihrem Auto hinter dem Wagen. In einer Plastiktüte hatte sie hier das getragene T-Shirt, das Mrs. MacConnery ihr gegeben hatte, in das Handschuhfach gesteckt. Da die Beifahrertür klemmte, kletterte sie auf der Fahrerseite in den Wagen und fischte die Tüte aus dem Fach heraus. „Komm mit, Junge“, sagte sie dann, nachdem sie den Wagen abgeschlossen hatte, und ging mit Watson zum Spielplatz zurück. Sie glaubte nicht wirklich daran, aber da sie keine bessere Idee hatte und das echte Leben halt nun einmal leider keine Krimiserie war, wo es direkt immer einen erkennbaren Hinweis gab, wenn man lang genug suchte, war es einen Versuch wert. Es war jedenfalls besser als die nächsten zwei Stunden damit zu verbringen in der vagen Hoffnung irgendeinen Hinweis, der ihr wahrscheinlich auch nicht sagen konnte, wohin der Junge war, den Sandkasten zu durchsuchen, oder jeden Menschen, der vorbei kam zu fragen. „Also, Watson“, meinte sie schließlich, als sie zwischen Klettergerüst und Sandkasten standen, und hockte sich vor den Hund, der brav vor ihr auf dem Boden saß und sie erwartungsfroh ansah. „Schnupper' mal hier dran.“ Sie nahm das T-Shirt aus der Plastiktüte und hielt es ihm vor die Nase. Der Berner Sennenhund richtete sich auf und schnüffelte – nicht ohne wieder mit dem Schwanz zu wedeln – an dem Shirt. „Kannst du damit eine Spur von Cole finden?“, fragte sie und bereute es, dass sie ihn nie dazu dressiert hatte, wirklich zu suchen. Der Hund sah sie fragend an. „Such“, sagte sie langsam. „Such Cole.“ Noch immer schien Watson nicht zu verstehen, was sie von ihm wollte. Erneut hielt sie ihm das T-Shirt hin. „Such Cole!“, forderte sie ihn mit etwas festerer Stimme auf. „Such, Watson. Such.“ Sie zeigte auf den Boden. Schließlich bellte der Hund auf und senkte tatsächlich seine Nase zum Rasen, auf den sie standen, und begann zu schnüffelnd. Er lief los, die Schnauze weiterhin am Boden und Kyra seufzte nur erleichtert auf. Er hatte verstanden. Zumindest konnte sie das hoffen. Eine ganze Weile lief Watson über den Spielplatz hin und her. Dabei war sich Kyra nur zu sehr bewusst, dass ein Schild vor dem Spielplatz sagte, dass Hunde hier eigentlich nicht erlaubt waren. Aber hey, Watson würde sein Geschäft auf dem Platz verrichten, also würde es wohl in Ordnung sein. Der Hund lief von einem Klettergerüst zum anderen, dann zum Sandkasten, wo er die Schnauze halb in den feuchten Sand versenkte, ehe er zur Schaukel rannte und drei mal um diese herum. Nachdem er denselben Weg mehrfach wiederholt hatte – und Kyra schon die Hoffnung aufgeben wollte, dass es irgendetwas brachte, da es wohl zu schwer war zwischen all den Gerüchen, die hier fraglos in der Luft lagen, den richtigen zu finden – richtete er den Kopf auf. Wider wedelte er mit dem Schwanz und bellte laut. Auffordernd sah er sie an. „Hast du etwas?“, fragte Kyra und hoffte nur, dass es tatsächlich eine Spur von Cole und kein Eichhörnchen war. Erneut bellte Watson und schien darauf zu warten, dass sie zu ihm hinüberkam. „Dann hoffen wir mal“, murmelte sie zu sich selbst und lief zu Watson hinüber, der zu verstehen schien und – die Nase erneut gesenkt – wieder losrannte. Also folgte Kyra, während der Hund nun zum Durchgang, der am Rand des Spielplatzes durch den umgebenden Zaun führte, rannte und einmal hindurch dann über die Straße. Auf der anderen Seite wartete er auf Kyra, die erst sicher ging, ob kein Auto kam. Dann folgte sie ihm, während der Hund nun wieder loslief. Er rannte eine Gasse zwischen zwei alten Häusern hindurch, dann die schmale Straße dahinter entlang. Es folgte eine weitere Straße, dann zwei Gassen – eine so schmal, dass Kyra seitlich hindurch musste. Watson schien sich seiner Sache auf einmal ziemlich sicher zu sein, so sicher, wie er sich normaler Weise nur war, wenn es um Essen geht. Doch Kyra blieb nichts übrig, als ihm und seiner Spürnase zu vertrauen. Schlimmstenfalls hätte sie Zeit verschwendet, sagte sie sich. Dann konnte sie noch immer einen anderen Ansatz versuchen. Einige Minuten schnellen Tempos später, wartete Watson vor einem hohen, hölzernen Zaun und sah Kyra erwartungsvoll an. Er bellte, als sie endlich zu ihm aufschloss und stupste mit der Schnauze gegen eins der Bretter. Kyra sah sich den Zaun genauer an. „Was hast du da, Junge?“ Wieder war ein Bellen die Antwort. Doch sie erkannte, was er gefunden hatte. Das Brett, das er anstupste, schien locker zu sein und ließ sich zur Seite klappen. Als Kyra das tat, bellte Watson, als wollte er sie dafür loben und quetschte sich durch den Spalt. Beinahe schon glaubte sie, dass er stecken geblieben war, doch irgendwie kam er auf der anderen Seite des Zauns an und sah sie durch die Lücke erneut voller Erwartung an. „Du bist lustig“, murmelte sie und besah sich die Lücke. Sie war nicht dick – im Gegenteil konnte man sie schon eher als zierlich bezeichnen – doch würde sie nie im Leben durch das Loch passen. Also gab es nur einen anderen Weg, da der Zaun an den Nachbarhäusern anschloss: Drüber. Der Zaun war knapp so groß, wie sie selbst, und Sport war definitiv nicht ihr liebstes Fach gewesen. „Oh man“, murmelte sie und nahm anlauf. Alles andere als elegant sprang sie in die Höhe und zog sich dabei am oberen Rand des Zauns hoch, der bedrohlich knarzte, sie aber dankbarer Weise hielt. Dann fiel sie sie mehr oder weniger auf der anderen Seiten hinab, schaffte es aber irgendwie auf der anderen Seite auf den Füßen zu landen. Watson sah sie an, als schien er ihr irgendetwas sagen zu wollen. Manchmal wünschte sie sich, dass er reden konnte. Sie sah sich um. Das Haus, in dessen Vorgarten sie standen, schien verlassen. Nun, zumindest ein Klischeeversteck für einen Kinderschänder, dachte sie sich. „Ist Cole hier?“, fragte sie Watson, der natürlich wieder nur bellte. Seufzend folgte sie ihm, als er wieder loslief. Sie war sich dessen bewusst, dass es auch bei verlassenen Häusern verboten war, in diese einzubrechen, und genau so war sie sich dessen bewusst, dass sie keine Waffe hatte und wahrscheinlich nicht stark genug war, um sich gegen einen großen, blassen Mann zu wehren. Doch hey, hier ging es um einen kleinen Jungen, oder? Zumindest sagte sie sich das, als Watson an der Tür des Hauses kratzte. Sie öffnete die Tür, die nicht abgeschlossen war und folgte Watson in das Haus. Zielstrebig lief Watson den alten, staubigen und absolut gruselig wirkenden Flur entlang und stieß die nächste Tür in einen leeren Raum, der offenbar einmal die Küche gewesen war auf. Hier jedoch blieb er stehen und bellte das Fenster an. Verwirrt sah Kyra ihn an. „Da durch?“, fragte sie ungläubig. Etwas machte keinen Sinn. Gut, wenn der Junge verfolgt worden war und nicht ganz auf den Kopf gefallen, konnte sie sich vorstellen, dass er vielleicht einmal durch das Haus geflohen war. Aber das Fenster war deutlich verriegelt – aber wer sollte es wieder zugemacht haben? Dennoch führte es auf einen Hinterhof, auf dem mehrere Mülltonnen standen und von dem aus gleich zwei Gassen weiter führten. Sie seufzte. „In Ordnung, Junge.“ Damit öffnete sie das Fenster, durch das Watson einfach hindurch sprang. Kyra folgte ihm, wenngleich sie erneut nicht besonders elegant landete. Doch von dem Hinterhof aus, ging es nicht mehr so einfach weiter. Bis hierhin war Watson sehr zielstrebig gelaufen, doch hier lief er wieder mehrfach im Kreis. Vielleicht lenkte ihn der Geruch vom Müll ab? Natürlich konnte Kyra nur raten, doch am Ende schlug Watson den Weg durch eine der beiden Gassen ein, ging dieses Mal jedoch langsamer und sah sie immer wieder fragend an. Als sie aus der Gasse hinaus kamen, endeten sie auf einer sehr schmalen Straße. Einer älteren Straße, wenn man nach dem Pflaster ging, das sie bedeckte. Sie war gerade breit genug, als dass ein Auto würde neben dem Bürgersteig würde herfahren können. Watson schlug den Weg nach Rechts ein, blieb jedoch stehen und drehte dann um. „Was ist los, Watson?“, fragte Kyra vorsichtig. Der Hund sah sie an und gab ein kurzes Jaulen von sich. Er wusste es also auch nicht. Vielleicht, überlegte sie, hatte der Verfolger hier den Jungen eingeholt und geschnappt? Die Straße schien ziemlich abgelegen und sie konnte keinen Laden in der Nähe sehen, was weniger Fußgänger bedeutete, als auch weniger Zeugen. Das würde Sinn machen, beschloss sie. Das hieß natürlich, wenn Watson überhaupt die Spur des Jungen verfolgt hatte. „Lass uns erst einmal so weiterschauen“, meinte Kyra. Vielleicht hatte sie ja Glück und fand einen Hinweis oder einen Zeugen. Vielleicht... Sie sah die Straße in beide Richtungen hinunter und entschloss sich schließlich nach links zu gehen. Es war nur ein Bauchgefühl, aber am Ende konnte sie ohnehin in beide Richtungen gehen. Watson neben sich folgte sie der Straße, von der immer wieder Gassen abgingen. Auch über zwei Kreuzungen mit anderen, ebenso schmalen Straßen, fand sie. Sie wusste, dass sie irgendwo im Nordwesten des Schlosses sein musste, noch immer relativ Nahe am Zentrum der Stadt, doch genau kannte sie die Gegend nicht. Keine Spur von Cole war zu sehen. Natürlich nicht. Dennoch lief sie weiter, während sie noch einmal alles, was sie wusste, in ihrem Kopf durchging. Vielleicht hatte sie irgendetwas übersehen. Vielleicht gab es noch einen Hinweis. Vielleicht... Sie blieb stehen. Mittlerweile war sie geschätzt einen halben Kilometer von der Gasse, durch die sie gekommen waren, gelaufen. Doch eine Auslassung in der Häuserfront zu ihrer Rechten hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Keine weitere Seitenstraße, sondern ein Parkplatz, der offenbar zu einem kleinen Supermarkt gehörte. Der Parkplatz war nicht groß und würde wohl gerade für acht oder neun Autos Platz bieten und der Supermarkt schien wenig größer als so mancher Kiosk zu sein. Kyra wusste, dass man in manchen Wohngebieten noch solche Läden fand – das war nichts besonderes – doch eine Sache war hier, die neue Hoffnung in ihr aufkommen ließ: Eine Überwachungskamera zeigte recht auffällig von dem Gebäude auf den Parkplatz und damit auch auf die Straße davor. „Komm, Watson“, sagte sie und ging zu dem Laden hinüber. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)