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Der unsichtbare Freund

A Hare Amoung Wolves [Pilot]
von
Koautor:  Seki

Vorwort zu diesem Kapitel:
Einmal eine etwas andere Geschichte von mir, geschrieben zusammen mit meinem Freund Seki. Das heißt Konkret, dass wir die Geschichte und einen guten Teil der Charaktere gemeinsam erdacht haben - allerdings habe ich die Geschichte am Ende ausgeschrieben.
Das ganze wird in den Mystery-Crime Bereich gehen - jedoch mit ein paar übernatürlichen Elementen. ;)
Das hier ist der erste Teil von voraussichtlich drein. Ich werde die kommenden Kapitel immer jeweils Dienstagsmorgens hochladen! ;) Komplett anzeigen

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Der verschwundene Junge

Der Tag begann vernebelt – keine große Überraschung in Edinburgh. Der einzige Trost war, dass auf einen nebeligen Morgen meist ein sonniger Tag folgte. Dies war jedoch nur bedingt ein guter Trost, als Kyra Watson durch die klamme Morgenkälte führte, um den großen Berner Sennenhund sein morgendliches Geschäft verrichten zu lassen.

Sie gähnte, während der große Hund aufgeregt an einer Buche in der Allee schnüffelte. Zumindest einer von ihnen war wach. Sie vergrub ihre Hände tiefer in den Taschen ihres Ledermantels – falsches Leder, aber zumindest war der Mantel gefüttert. Erleichtert seufzte sie auf, als der Hund schließlich um sie herum tänzelte und ihr signalisierte, dass ihm nun viel eher nach Frühstück war.

Das traf sich gut, denn auch sie war hungrig.

Vorsichtig schlich sie die Treppe hoch, um ihrer Vermieterin Mrs. Moore aus dem Weg zu gehen. Die alte Frau war der Gattung „verrückte, alte Katzendame“ und mochte entsprechend Watson nicht besonders, da ihre geliebten sechs Katzen Angst vor ihm hatten.

Im zweiten Stock angekommen öffnete sie die Tür zu ihrem Apartment und ging hinein. Sofort stürmte Watson an ihr vorbei und in die Küche, wo er sich schwanzwedelnd vor seine leere Futterschüssel stellte.

Kyra sah ihn lächelnd an und ging in das Vorratszimmer neben der Küche, nur um festzustellen, dass selbst von dem trockenen Hundefutter nur noch Reste da waren.

„Ich fürchte das ist alles“, meinte sie, als sie das Futter in seine Schüssel füllte.

Watson bellte zustimmend, ehe er sich über das Futter hermachte.

Für eine kurze Weile hockte sich die junge Frau neben ihn und strich durch sein zotteliges Fell, richtete sich dann aber auf, um zum Kühlschrank hinüber zu gehen. Immerhin hatte auch Sie Hunger und war kein Fan von Hundefutter.

Ein Blick in den Kühlschrank sagte ihr jedoch, dass sie dies eventuell würde überdenken müssen. Gähnende Leere erstreckte sich in diesem. Einzig ein paar letzte Reste Butter und drei vertrocknete Scheiben Toastbrot ließen sich hier finden.

„Wir brauchen dringend einen neuen Job, Watson“, stellte sie fest, da sie wusste, dass auf ihrem Konto dieselbe Ebbe herrschte, wie im Kühlschrank.

Der Hund gab ein kaum definierbares Geräusch von sich. Sie interpretierte es, als auf aufmunternden Zuspruch.

Mit einem Seufzen machte sie sich die letzten Scheiben Toastbrot. Zumindest hatten sie noch Marmelade.

Eine halbe Stunde später saß sie – nun mit einem ordentlichen Pullover und Jeans bekleidet, in ihrem Arbeitszimmer und surfte gelangweilt im Internet. Watson lag neben ihr in seinem Körbchen und sah die geschlossene Tür missmutig an.

Sie hatte seit über einer Woche keinen Job mehr gehabt. Man sollte meinen, dass es mehr untreue Ehemänner in der Stadt geben musste – nicht das diese Fälle besonders interessant waren.

Die Zeit verging und Kyra harkte, als kurz vor halb Zwölf ihr Mitbewohner aufstand, den Tag als einen weiteren, erfolglosen Eintrag in ihren Kalender ab.

„Sollen wir gleich schauen, ob wir irgendwas zum Mittagessen finden?“, fragte sie Watson, der mit einem Brummen aufsah.

„Ja, das mein ich auch“, erwiderte sie, wandte sich dann aber seufzend ihren Computerbildschirm zu. Noch ein paar Minuten, sagte sie sich, dann würde sie Mittagspause machen.

Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten. Jason ging in sein Zimmer zurück. Vier Minuten. Fünf Minuten. Sechs Minuten...

Es klingelte an der Tür.

Konnte es sein?

„Jason!“, brüllte sie. „Mach mal auf!“

Ein Grummeln war die Antwort, aber sie konnte ihn in die Gegensprechanlage reden hören. Dann Stille und dann hörte sie, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Ein kurzes Gespräch, dann näherten sich Schritte.

Jason öffnete die Tür. „Ein Klient“, sagte er nur und warf Kyra einen strafenden Blick zu. Er mochte es nicht, wie ihr Laufbursche behandelt zu werden. Kyra reagierte darauf nicht, sondern warf der Frau um die 40, die nun das Arbeitszimmer betrat ein – wie sie hoffte – professionelles Lächeln zu.

„Setzen Sie sich“, meinte Kyra und stand auf, um auf einen der beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch zu zeigen. „Möchten Sie vielleicht einen Tee?“

„Äh, was?“, fragte die Frau, schüttelte dann aber den Kopf. „Äh, nein.“

Kyra schätzte die Frau auf Ende 40. Ihr hellbraunes Haar zeigte bereits ein paar graue Ansätze und ihre Mimik warf einige Falten auf. Sie war jedoch sehr ordentlich gekleidet, nicht im Sinne vom großen Wohlstand, jedoch deutete ihre Kleidung zumindest auf ein durchaus vertretbares Familieneinkommen hin.

Ihre Bewegungen wirkten jedoch fahrig, so als wäre sie gedanklich nicht ganz da. Etwas belastete sie – vielleicht nicht überraschend, da dies für die meisten Leute galt, die zu ihr kamen. Ihre Augen waren verweint.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Kyra betont freundlich.

Die Frau reagierte nicht sofort. Dann sah sie sie an. „Sie sind Privatdetektivin, oder?“

Nur mit Mühe konnte Kyra sich davon abhalten, eine spitze Bemerkung zurückzugeben. Bleib professionell, ermahnte sie sich selbst. Natürlich wusste sie, dass ein Arbeitszimmer in einer normalen Wohnung, nicht sehr professionell wirkte. Sie wusste auch, dass sie nicht unbedingt immer den Eindruck einer Detektivin erweckte. Aber was konnte sie dafür, dass ihre leicht welligen Haare einfach nicht im Zopf bleiben wollten? Und sie erwartete schon von ihren Kunden, dass sie über das eigentlich ohnehin recht unauffällige Nasenpiercing hinweg sehen konnten.

Gut, sie hatte auch keine große Lust, es jeden Tag rauszunehmen – aber das hatte nichts mit ihrer Arbeit zu tun. Und sie konnte sich nun einmal keine richtige Kanzlei leisten. Sherlock Holmes hatte seine Klienten auch in seiner Wohnung empfangen! Ihm Wohnzimmer sogar! Er hatte nicht einmal ein Arbeitszimmer gehabt und in den Büchern hatte es nie jemanden gestört.

„Ja, ich bin Privatdetektivin“, sagte sie mit Mühe gefasst und bemühte sich weiterhin um ein hoffentlich verständnisvolles Lächeln. „Was kann ich für Sie tun?“

„Äh... Ja... Nun...“ Die Frau zögerte etwas. „Also mein Name ist MacConnery, Emily MacConnery und... Ähm... Suchen Sie auch vermisste Personen?“

Das war zugegebener Maßen eine seltenere Anfrage. Meistens bezogen auf ehemalige Freunde oder Liebhaber, die aus irgendwelchen Gründen gesucht wurden. Kyra hatte eine sich mittlerweile eine Antwort darauf vorgefertigt. „Natürlich helfe ich auch beim Finden von Personen, die Sie aus den Augen verloren haben. Ich mache allerdings darauf aufmerksam, dass ein tatsächlicher Vermisstenfall bei der Polizei gemeldet werden müsste.“ Sie hasste es ehrlich zu sein.

„Mein Mann ist bei der Polizei“, sagte die Frau schnell. „Es ist nur... Wir wissen nicht... Es... Nun. Wir haben gelesen, wie viel schwerer es nach ein paar Stunden wird und... Ich fühle mich so schlecht.“

Kyra sah sie an. Sie konnte sich schon zusammenreimen, was los war – immerhin war es im Kontext nicht schwer zu verstehen. „Ihr Kind?“

Die Frau nickte. „Mein Sohn. Cole. Er ist neun.“ Ihre Stimme zitterte. „Er... Ist gestern nicht nach Hause gekommen. Zumindest glauben wir das. Er... Oh, ich fühle mich so schlecht. Wir... Wir haben es nicht bemerkt und jetzt... Vielleicht...“

Mit einem Seufzen sah Kyra sie an. „Sie wollen, dass ich der Polizei helfe, nach ihrem Sohn zu suchen?“

„J-ja“, erwiderte die Frau. „Bitte.“

Für einen Moment zögerte Kyra. Nach Kindern suchen war normal nichts, was sie tat – aber am Ende konnte sie es wahrscheinlich genau so gut, wie jeder andere Privatdetektiv und sie konnte das Geld gebrauchen. „Natürlich.“ Sie griff in die Schublade ihres Schreibtischs und zog einen Vertrag heraus. „Mrs. McConnery, ich weiß, das ganze muss furchtbar für Sie sein. Ich muss Sie trotzdem bitten erst meinen Vertrag zu unterschreiben, ehe Sie mir vertrauliche Informationen erzählen.“

„Äh... Ja... Natürlich“, sagte die Frau und nahm das Papier, zusammen mit einem der Stifte, die Kyra bereit gelegt hatte.

„Ich würde Sie bitten, die Bedingungen genau durchzulesen, bevor Sie ihnen zustimmen, ja?“, erklärte Kyra. „Ich nehme 30 Pfund die Stunde. Einen Nachtzuschlag von 5 Pfund pro Stunde. Ich weiß, Sie wollen nicht über Geld reden. Aber ich muss Sie über die Preise informieren und möchte dabei Ihre Situation nicht ausnutzen.“

„Natürlich.“ Mit zittrigen Händen nahm Mrs. MacConnery die Unterlagen und begann zu lesen.“

Es vergingen einige Minuten und einige Rückfragen später war der Vertrag unterschrieben. Kyra mochte diesen Teil nie – aber nachdem sie ein, zwei, nun, vielleicht auch häufiger nachgiebig gewesen war und am Ende nur einen Teil ihres Gehalts (wenn überhaupt etwas) bekommen hatte, war sie vorsichtig geworden. Immerhin musste Sie am Ende vom Monat auch Miete bezahlen.

„Können Sie versuchen, mir noch einmal in Ruhe zu erklären, was genau passiert ist?“, bat Kyra schließlich.

Mittlerweile hatte die Frau wieder Tränen in den Augen. Wohl kein Wunder. „Natürlich... Mein Mann und ich... Mein Mann hat gerade Dienstzeitausgleich und ist daheim und wir waren gestern in Glasgow. Und... Ja, wir sind gestern erst spät nach Hause gekommen und... Oh Gott, wir wollten Ihn nicht wecken und als ich heute morgen in sein Zimmer gekommen bin war er nicht da.“

„Okay.“ Kyra nickte. „Hatte er einen Babysitter oder so etwas?“

„Äh, ja... Normaler Weise schon... Aber Clara, also die Babysitterin, war krank... Und Cole meinte, es wäre schon okay. Er wollte nach der Schule direkt nach Hause kommen. Und... Ich meine, er ist schon vorher allein nach Hause gekommen und allein zuhause geblieben... Deswegen dachten wir es wäre schon in Ordnung...“ Sie schluchzte. Es war deutlich, dass sie sich Vorwürfe machte – natürlich – was angesichts der Umstände wohl keine große Überraschung war.

Dummer Weise nur war Kyra nicht gut mit diesen Sachen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, um die Frau zu beruhigen. Immerhin war sie kein Psychologe! „Ähm...“ Sie räusperte sich. „Wann haben Sie genau gemerkt, dass Cole nicht da war?“

„Heute morgen. Kurz nach Sieben. Wie gesagt, ich wollte ihn wecken... Und sein Zimmer war leer“, erzählte die Frau. „Ich habe bei Jamie angerufen, einem seiner Freunde, und habe gefragt, ober da geschlafen hat. Dann bei Billy. Aber er war nirgendwo...“ Sie schluchzte.

Kyra öffnete kurz eine weitere ihrer Schubladen und fand was sie suchte: Eine Packung Taschentücher. „Hier“, meinte sie und wartete, dass die Frau sich die Nase geputzt hatte. „Sie haben wohl auch in der Schule angerufen?“

„Natürlich“, erwiderte Mrs. MacConnery. „Niemand weiß, wo er ist. Er war gestern mit den anderen Kindern auf dem Spielplatz. Aber er ist danach nirgendwohin gegangen... Also zumindest sind seine Sachen nicht Zuhause. Seine Schulsachen. Gar nichts.“ Erneut schnäuzte sie sich die Nase.

Kyra nickte, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte. „In Ordnung, Mrs. MacConnery. Ich werde mich darum kümmern, wenngleich ich natürlich für nichts garantieren kann.“

Die Frau nickte. „Ich verstehe.“
 

Etwa eine halbe Stunde später fuhr Kyra in ihrem hellblauen MGB vor einem Reihenhaus im Nordosten von Edinburgh vor. Während Watson auf dem Rücksitz saß und den Kopf auf ihre Rückenlehne gelegt hatte, saß Mrs. MacConnery auf dem Beifahrersitz.

Im Moment weinte sie nicht mehr, wofür Kyra dankbar war. Worüber sie sich weniger Gedanken machen wollte, war, ob dies mit mangelnden Vertrauen in ihre Fahrkünste zu tun hatte.

Sie parkte den Wagen vor der offenen Garage, in der bereits ein Combi stand.

Als der Wagen endlich stand versuchte Mrs. MacConnery die Tür zu öffnen, die wie schon zuvor klemmte.

„Moment“, sagte Kyra, stieg aus und lief um den Wagen herum, ehe sie sich daran machte mit sanfter Gewalt die Beifahrertür zu öffnen, die dringend geölt werden sollte.

„Danke“, meinte die Frau, als sie ausstieg.

„Kein Problem.“ Kyra bemühte sich um ein Lächeln und beugte sich in den Wagen herein, wo Watson sie hechelnd ansah. „Sei ein braver Hund und bleib hier. Ich bin kurz mit der netten Dame im Haus, ja?“

Watson bellte. Sie nahm an, dass dies „Ja“ hieß.

Also folgte sie Mrs. Connery in das Haus, das eins jener schmal geschnittenen Reihenhäuser, wie sie in den 70ern en masse gebaut worden waren. Die Fassade war in einem blassen Grün gestrichen – während es kaum so etwas wie einen Vorgarten gab.

Aber was sollte Kyra sagen – sie hatten immerhin überhaupt keinen Garten, während ihr Haus auch halb zwischen zwei anderen ähnlich alten Häusern eingeklemmt war.

Mit fahriger Hand öffnete Mrs. Connery die Haustür und ließ Kyra hinein.

Schon im Hausflur sah man, dass es hier eine Familie mit Kindern oder zumindest einem Kind lebte: Stiefel, die auf dem Boden lagen, Kinderkleidung an der Garderobe. In der Küche hing ein mit Buntstiften gemaltes Bild am Kühlschrank.

Kyra nahm es näher in Augenschein. Es zeigte ein Kind, das zusammen mit einem anderen Kind auf einer Wiese spielte – natürlich in der etwas krakeligen Form mit dreieckigen Nasen und gestricheltem Haar, wie es für jüngere Kinder üblich war. „Das hat Cole gezeichnet?“

„Äh, ja“, meinte Frau MacConnery und stellte sich hinter sie.

„Er ist das eine Kind, ja?“, fragte Kyra. „Das andere?“

„Das ist Jimmy... Sein... Nun, sein imaginärer Freund.“ Die Frau seufzte schwer.

„Imaginärer Freund?“ Kyra hob eine Augenbraue und sah die Frau an.

„Sie wissen, wie Kinder in dem Alter sind. Cole hat eine sehr lebhafte Fantasie und Jimmy ist sein 'unsichtbarer Freund'. Der Kinderarzt sagt, es sei einfach eine Phase, durch die viele Kinder gehen.“

Kyra nickte, sagte aber nicht viel dazu. Sie glaubte immerhin kaum, dass ein imaginärer Freund ein Kind entführen würde. „Können Sie mir sein Zimmer zeigen?“

„Natürlich.“

Mrs. MacConnery führte sie eine Treppe hoch in das erste Geschoss des Hauses. Das Kinderzimmer war anhand der an die Tür geklebten Buchstaben leicht zu erkennen – auch daran, dass die Tür offen stand.

Kyra folgte der Frau in das Zimmer hinein, das relativ klein und sehr unordentlich war. Auch hier hingen einige Bilder an der Wand, von denen viele dieselben Figuren zeigten, wie unten. „Cole malt gerne?“, fragte sie.

„Ja“, erwiderte Mrs. MacConnery und ihre Stimme zitterte wieder. „Er ist ein sehr ruhiger Junge, wissen Sie? Er malt und liest und ist meist lieber auf seinem Zimmer.“

„Hat er noch andere Freunde, als Jimmy?“, fragte Kyra.

„Nun... Es gibt ein paar Klassenkameraden, mit denen er nach der Schule spielt. Aber er bringt selten jemand mit nach Hause... Er ist halt eher ein Einzelgänger.“ Sie seufzte schwer. „Deswegen mache ich mir solche Sorgen. Er hat eigentlich niemanden, zu dem er gehen würde. Er...“

„Gäbe es denn einen Grund für ihn wegzulaufen?“, fragte Kyra. Sie merkte, dass Mrs. MacConnery wieder kurz vorm Weinen stand, doch was blieb ihr für eine Wahl. Sie musste ein paar Fragen stellen.

„Nein!“, sagte die Frau schnell. „Nein. Natürlich nicht. Er war eigentlich immer ein lieber, unkomplizierter Junge. Bis auf... Na ja...“ Sie verstummte.

Kyra sah sie fragend an. „Ja?“

„Nun. Er hatte in letzter Zeit... Ein paar Probleme mit meinem Mann... Also seinem Vater“, erklärte Mrs. MacConnery leise. „Sie müssen sehen, Alan ist bei der Marine und daher oft mehrere Wochen am Stück fort... Und in letzter Zeit... Es ist wohl eine Phase... Aber Cole hat in letzter Zeit öfter mit ihm gestritten. Hört nicht mehr auf ihn. Sie wissen schon. Aber ich glaube nicht, dass er deswegen weglaufen würde!“

„Hatte er denn in den letzten Tagen mit ihm gestritten?“, fragte Kyra.

Die Frau schüttelte den Kopf. Nun liefen wieder Tränen über ihre Wange. „Nein. Das ist es ja. Es gibt einfach keinen Grund! Irgendetwas muss passiert sein!“

Kyra seufzte. „Ich werde schauen, was ich tun kann. Ich möchte Sie allerdings vorher um zwei Dinge bitten: Erstens brauche ich ein getragenes Kleidungsstück von Cole. Watson ist vielleicht kein Polizeihund, aber er hat eine gute Spürnase. Genug, als dass es einen Versuch wert wäre. Zweitens würde ich Sie bitten bei der Schule anzurufen. Ich würde gerne mit ein paar seiner Mitschüler sprechen.“
 

Zwanzig Minuten später fuhr Kyra vor einer der örtlichen Grundschule vor. Sie wirkte wie jede andere Schule auch alles andere als einladend. Zumindest war es keine High School.

Nun, zum Glück musste sie ja nicht zum Unterricht.

„Na, was meinst du, Watson? Magst du mitkommen?“, fragte sie, als sie den Wagen anhielt. Ihr war klar, das ein Hund im Inneren der Schule nicht gern gesehen sein würde, doch zum einen wollte sie Watson nicht schon wieder im Wagen lassen, zum anderen war er vielleicht genau das richtige, um ein paar Kinder davon zu überzeugen, dass sie ihnen nichts wollte.

Watson gab ein unterdrücktes Bellen von sich. Ein „Ja“, beschloss Kyra, und klappte nach dem Aussteigen den Fahrersitz nach vorn, um auch Watson aus der Tür zu lassen, da der Wagen keine Hintertüren hatte.

Mit dem Schwanz wedelnd trottete der Hund neben ihr her, während Kyra sich nun auf den Weg in das dunkle Backsteingebäude hinein machte. Laut ihrer Uhr war es kurz nach Eins – womit sie genau in der Mittagspause ankommen sollte.

Es brauchte einige Minuten, bis sie das Lehrerzimmer gefunden hatte, doch schließlich klopfte Sie an die Holztür, neben der ein Schild mit der entsprechenden Aufschrift hing.

Ein älter Mann mit grauem Bart und Halbglatze öffnete die Tür und sah sie sehr misstrauisch an. „Ja?“

„Guten Tag“, sagte Kyra rasch. „Mein Name ist Kyra Hare. Ich bin Privatdetektivin und Mrs. MacConnery hat mich arrangiert bei der Suche nach Cole MacConnery zu helfen. Ich bin auf der Suche nach seiner Klassenlehrerin Mrs. Coulter. Sie müsste informiert sein, dass ich komme.“

„Oh“, meinte der alte Lehrer und sah sie weiterhin missmutig durch seine Brille hindurch an. „Moment. Ich frage Sie.“ Er machte die Tür wieder zu.

Watson gab einen kurzen Kehllaut, fast wie ein Winseln, von sich und sah Kyra mit großen Augen an.

Sie seufzte. „Ich finde ihn auch nicht sehr nett.“

Mit der Fußspitze nervös auf den Boden klopfend, wartete sie auf Mrs. Coulter, die schließlich die Tür öffnete.

Zumindest nahm Kyra an, dass die etwas breitere Dame mit den offensichtlich blond gefärbten Locken Mrs. Coulter war, da sie sie direkt ansah und fragte: „Ms. Hare?“

„Ja“, sagte Kyra schnell. „Hat Mrs. MacConnery Sie erreichen können? Ich bin wegen Cole hier.“

„Ja, natürlich. Lassen Sie uns in eins der Klassenzimmer gehen, ja? Da können wir in Ruhe sprechen.“ Sie warf Watson einen Blick zu. „Ist das ihr Hund?“

Kyra nickte. „Ja. Mein tatkräftiger Helfer, wenn man so möchte.“

Die Lehrerin sah Watson an, der ob der Aufmerksamkeit, die ihm so zu teil wurde, direkt wieder anfing mit dem Schwanz zu wedeln und die Mrs. Coulter freudig hechelnd ansah.

„Nun gut“, murmelte Mrs. Coulter und tätschelte Watson den Kopf. „Eigentlich dürfen hier keine Tier mit reingebracht werden.“

„Tut mir leid“, erwiderte Kyra mit einem entschuldigenden Lächeln. Sie kraulte Watsons Kopf. „Er ist nur nicht sehr gut damit allein zu bleiben, wissen Sie?“ Das war nicht einmal komplett gelogen. Immerhin wurde Watson normal nervös, wenn sie nur ein paar Stunden nicht in seiner Nähe war.

Die Lehrerin schenkte ihr ein Lächeln. „Ich verstehe schon.“ Sie blieb stehen und öffnete eine Tür zu ihrer linken. „Hier. Kommen Sie mit rein.“ Damit zeigte sie in den Raum, der, wie sie vorher gesagt, ein Klassenraum zu sein schien.

Kyra mochte es zugegebener Maßen nicht so wirklich. Sie war froh aus der Schule – und der Uni – raus zu sein. Alles was sie mit Klassenräumen verband, waren Stunden um Stunden von ermüdender Langeweile. Deswegen ließ sie es sich nicht nehmen, sich gegen das Lehrerpult zu lehnen, die Arme vor der Brust verschränkt, während Watson sich wie immer zu ihren Füßen setzte.

Seufzend setzte sich Mrs. Coulter auf den Lehrerstuhl und sah sie an. „Nun“, begann sie und sah zu ihr auf, „was kann ich für Sie tun?“

„Was können Sie mir über Cole erzählen?“, fragte Kyra und zog ihren Notizblock aus ihrer Jackentasche hervor. „Ist in den letzten Tagen irgendetwas passiert, was erklären könnte, warum er verschwunden ist?“

Die Lehrerin schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nicht.“ Ihrer Stimme nach zu urteilen schien sie es wirklich zu bedauern. „Cole ist immer ein eher ruhiger Junge gewesen. Er macht keine Probleme, hat aber auch nicht viele Freunde. Seine Noten sind eher gut, auch wenn er sich mündlich nicht sehr beteiligt.“ Sie seufzte schwer. „Er hat manchmal Ärger bekommen, weil er im Unterricht vor sich hinträumt und nicht aufpasst. Aber nichts in den vergangenen Tagen.“

„Was ist mit Freunden?“, fragte Kyra während sie sich alles notierte. Es war nicht wirklich etwas neues, da ihr auch Mrs. MacConnery ähnliches gesagt hatte.

„Nun, er spielt in den Pausen mit Billy und Max“, antwortete die Lehrerin. „Manchmal auch mit Katie. Das heißt William Riley, Maximillian Thomas und Katie Foley. Alles Klassenkameraden von ihm. Alle drei eher ruhig. Ein wenig Außenseiter, die in der Schule zusammenbleiben, denke ich.“ Sie überlegte. „Soweit ich mich erinnere, war Cole mit Billy und Max zusammen, als er gestern gegangen ist. Hilft Ihnen das weiter?“

„Vielleicht“, erwiderte Kyra.

Zugegebener Maßen hatte sie sich mehr erhofft. Sie hoffte, dass der Junge nur fortgelaufen war, denn das war definitiv die angenehmste Vorstellung. Normal bedeutete es, dass er im Verlauf des Tages oder vielleicht der nächsten zwei, drei Tage auftauchen sollte.

Das Problem soweit war nur eindeutig, dass niemand soweit einen Hinweis darauf hatte, dass dies der Fall war. Natürlich machten sich Erwachsene immer gerne vor, dass es keinen Grund geben konnte, dass ein Kind unglücklich sei, doch hatte Kyra aktuell nichts, wonach sie sonst gehen konnte.

Wenn der Junge jedoch nicht weggelaufen war, blieben noch zwei andere Möglichkeiten: Entweder jemand hatte ihn entführt oder etwas war auf seinem Heimweg passiert. Beides keine gute Aussicht.

Zumindest half keine der Aussagen von Mrs. Coulter ihr weiter. Auch nach einigen Nachfragen wusste sie nur, dass der Junge jedenfalls ein ruhiger Außenseiter gewesen war, der gerne Bücher las, aus dem Fenster sah und offenbar eine blühende Fantasie hatte. Er war offenbar auch schon mehr als einmal zum Opfer von einem Chris und einem Timmy, die ihrer Aussage nach die beiden Problemkinder der Klasse waren.

„Kann ich vielleicht mit Billy sprechen?“, fragte Kyra schließlich.

Sie wusste selbst sehr genau, dass es eigentlich nicht so einfach war, mit Kindern im Rahmen eines Kriminalfalls zu sprechen. Die Eltern mussten zustimmen und meistens musste auch jemand mit einer speziellen Ausbildung dabei sein. Allerdings hatte sie dafür nun gerade wirklich keine Zeit – und sie würde ja auch nicht über einen Mordfall sprechen. Na ja, zumindest hoffte sie es nicht.

Mrs. Coulter schien ähnliches durch den Kopf zu gehen. „Nun“, meinte sie sehr zögerlich. „Ich denke... Nun, wenn ein Lehrer dabei ist...“ Sie schien hin und hergerissen zu sein. „Ich fürchte, Sie müssen, warten, bis ich mit den Eltern gesprochen habe.“

Nur schwer unterdrückte Kyra ein Seufzen. „Natürlich.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nächstes Kapitel: 31.01.2017 Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Taroru
2017-06-03T16:38:37+00:00 03.06.2017 18:38
Also ich muss auch sagen, das ist ein guter Einstieg, man lernt die Charaktere schon ein bisschen kennen, man ist neugierig was nun mit Cole ist....
und Watson ist mir schon mehr als nur Sympatisch ;-)

Bei einem Satz musste ich allerdings zwei mal hin gucken, bis ich verstanden hatte was gemeint war, bin Geistig vielleicht noch nicht so richtig auf der Höhe XD

Zitat:
Sherlock Holmes hatte seine Klienten auch in seiner Wohnung empfangen! Ihm Wohnzimmer sogar! Er hatte nicht einmal ein Arbeitszimmer gehabt und in den Büchern hatte es nie jemanden gestört.

Du meintest 'Im' Wohnzimmer oder? ;-)
Und Hey, ich finde es voll in Ordnung, das sie ihre Klienten dort empfängt, das hat Charme :-p

*geht direkt weiter lesen*
Von: Futuhiro
2017-06-01T15:29:56+00:00 01.06.2017 17:29
Wuhu, vielversprechender Auftakt. Die Storyidee gefällt mir schonmal super, soweit ich das bis hierher beurteilen kann. Die Handlungen und Gedankengänge sind auch sehr authentisch geschildert. Klingt, als hättest du dich mit den rechtlichen Sachen ausreichend vertraut gemacht, bevor du die Story begonnen hast (daß jemand mit ner speziellen Ausbildung bei Gesprächen dabei sein muss, daß Hunde nicht in Schulen reindürfen, ...) Super.

Eine kleine Sache, die mir aufgefallen ist: Kyra wurde wohl nicht arrangiert ( = sortiert, angeordnet bzw. in Szene gesetzt) sondern engagiert. ^^

Bin gespannt, wie es weitergeht.
Antwort von:  Alaiya
01.06.2017 21:01
Vielen Dank für den Kommentar, bzw. eher die Kommentare! :3
Wir (also Seki und ich) haben uns beide extrem darüber gefreut. Also wirklich vielen lieben Dank!

> Klingt, als hättest du dich mit den rechtlichen Sachen ausreichend vertraut gemacht, bevor du die Story begonnen hast (daß jemand mit ner speziellen Ausbildung bei Gesprächen dabei sein muss, daß Hunde nicht in Schulen reindürfen, ...) Super.

Danke :3 Ja, ich habe einiges Recherchiert. Neben den Sachen wie es an den britischen Schulen in der Hinsicht aussieht (diese Vorgaben unterscheiden sich ja sehr stark von Land zu Land und teilweise zwischen den Staaten/Bundesländern) und eben auch wie bspw. die Rechtslage mit Privatdetektiven aussieht. :3

> Eine kleine Sache, die mir aufgefallen ist: Kyra wurde wohl nicht arrangiert ( = sortiert, angeordnet bzw. in Szene gesetzt) sondern engagiert. ^^

Ups!~


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